Seit dem 1. November 2005 ist das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) in Kraft. Es stellt eine der zentralen Maßnahmen im Rahmen des 10-Punkte-Programms der Regierung Schröder zur Stärkung der Unternehmensintegrität und des Anlegerschutzes dar. Mit diesem Gesetz, dass wegen seiner einhellig getragenen Zielsetzung kurz vor Ende der 15. Legislaturperiode ohne größere Widerstände verabschiedet werden konnte, hat der Gesetzgeber in Deutschland prozessuales Neuland betreten. Dieser Umstand sowie die Begrenzung der Gel-tungsdauer des Gesetzes auf zunächst fünf Jahre haben dazu geführt, dass dem Gesetz insgesamt der Charakter eines verfahrensrechtlichen Experiments zugesprochen wurde, welches allerdings im Falle seiner Bewährung Vorbild einer allgemeinen Regelung für Massenverfahren in der ZPO werden könnte.
Mit der Schaffung des KapMuG hat der Gesetzgeber versucht, dem deutschen Zivilprozessrecht eine neue Form kollektiven Rechtsschutzes hinzuzufügen. Geprägt ist dieses Regelungswerk von dem Bemühen, die angestrebten Kollektivierungseffekte mit den spezifischen Vorgaben und Eigenheiten des deutschen Zivilverfahrens zu vereinbaren. Insbesondere galt es hierbei, die individualistisch geprägten Rechtsschutzgrundsätze des deutschen Verfassungs- und Prozessrechts und das allgemein anerkannte Bedürfnis nach kollektiven Rechtsschutzformen bei Massenschäden in einen angemessenen Ausgleich zu bringen.
Zwangläufig musste sich dem Problem gestellt werden, wie es einerseits möglich ist, im Extremfall ein Verfahren mit tausenden geschädigter Anspruchssteller für die Justiz handhabbar zu gestalten und andererseits dies nicht auf Kosten der grundlegenden, verfassungsrechtlich abgesicherten Verfahrensrechte der Beteiligten zu erreichen.
Zur Lösung dieses grundsätzlichen Dilemmas hat sich der Gesetzgeber für einen kollektiven Rechtsbehelf in Form eines Musterverfahrens entschieden, in dem einzelne sich in einer Vielzahl von Verfahren stellende Fragen einheitlich und mit verbindlicher Wirkung geklärt werden sollen. Grundlage der Verbindlichkeit des Musterentscheides für die zugrunde liegenden Individualverfahren ist dabei eine neue Form der Verfahrensbeteiligung, die sicherstellen soll, dass jedem Rechtsschutzsuchenden ausreichendes rechtliches Gehör und die Möglichkeit zur Wahrung seiner Interessen gewährt werden. Das Zusammenspiel zwischen Verfahrensbeteiligung und Wirkungserstreckung stellt eines der Kernstücke des neuen Musterverfahrens dar. Bei dessen Konstruktion hat sich der Gesetzgeber bekannter verfahrensrechtlicher Instrumente der ZPO bedient und diese in einem neuen Kontext eingesetzt. Namentlich die Rechtsinstitute der einfachen Nebenintervention und der Interventionswirkung gemäß der §§ 66 ff. ZPO wurden legislative Vorbilder für die im KapMuG vorgesehene Drittbeteiligung und der darauf beruhenden Bindungswirkung des Musterentscheides. Diese Implementierung der hergebrachten Drittbeteiligungsregelungen in einen neuen normativen Zusammenhang ist mit nicht unerheblichen dogmatischen Friktionen und Problemen verbunden. Auch erscheinen die neugeschaffenen gesetzlichen Regelungen an entscheidender Stelle mitunter unklar und uneindeutig. Infolgedessen hat sich seit Inkrafttreten des KapMuG in der Literatur bereits eine lebhafte Kontroverse gebildet, in der versucht wird, die im KapMuG enthaltenen Instrumente prozessrechtsdogmatisch zu kategorisieren, in ihrem Zusammenspiel zu erklären und damit für die Rechtsanwendung handhabbar zu machen.
Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Untersuchung der im Musterverfahren nach dem KapMuG zum Einsatz kommenden Verfahrensbeteiligung und der daran anknüpfenden Bindungswirkung des Musterentscheides für die am Musterverfahren beteiligten Kläger der zugrunde liegenden Ausgangsverfahren. Besondere Berücksichtigung erfahren dabei die dem Gesetzgeber als legislative Vorbilder dienenden hergebrachten prozessualen Rechtsinstitute. Ziel ist es dabei herauszufinden, inwieweit die vom Gesetzgeber vorgenommene und in der Literatur heftig kritisierte Übertragung der Regelungen zur Nebenintervention und Interventionswirkung auf die prozessuale Situation des Musterverfahrens möglich und sachgerecht ist. Dies soll zu dem Zwecke geschehen, den zu den hergebrachten zivilprozessualen Drittbeteiligungsinstituten bestehenden Erkenntnisstand aus Wissenschaft und Rechtsprechung für die neuen Verfahrensinstrumente nutzbar zu machen und damit einen Beitrag zur Rechtsanwendung zu leisten.
B. Gang der Untersuchung
Im ersten Teil der vorliegenden Arbeit wird ein Überblick über das KapMuG und den dort vorgesehenen Ablauf des Musterverfahrens gegeben. Einleitend werden die wichtigsten mit dem KapMuG verfolgten Ziele des Gesetzgebers sowie der gewählte Regelungsansatz erläutert und anhand der bisherigen Bündelungsformen der ZPO der vom Gesetzgeber diagnostizierte Reformbedarf aufgezeigt. Im Rahmen der Darstellungen zum Ablauf des Verfahrens finden sich bereits Erörterungen zu einzelnen problematischen Aspekten des Verfahrens. Sofern dies für den Fortgang der Untersuchungen erforderlich ist, wird bereits im ersten Teil der Arbeit Stellung zu ausgesuchten Fragestellungen genommen. Hinsichtlich der am Musterverfahren Beteiligten ist insbesondere von Relevanz, ob die im Gesetz vorgesehene Beigeladenenkonstruktion, entgegen der ursprünglichen Gesetzesfassung, auch auf Beklagtenseite zum Einsatz kommen sollte oder ob es den Zielen des Musterverfahrens nicht dienlicher ist, den Beklagten eine unbeschränkte Verfahrensstellung einzuräumen.
Der zweite Teil der Untersuchung beschäftigt sich mit der Beiladung zum Musterverfahren als neue Form zivilprozessualer Drittbeteiligung. Als Grundlage der diesbezüglichen Untersuchungen werden zunächst die dem Gesetzgeber als Vorbild dienenden Drittbeteiligungsinstitute der Nebenintervention und der Streitverkündung der §§ 66 ff. ZPO und §§ 72 ff. ZPO nach ihren jeweiligen Voraussetzungen und der durch sie erzeugten Verfahrensstellung beleuchtet. Sodann wird diesen die Beiladung zum Musterverfahren und die aus dieser resultierende Verfahrensstellung gegenüber gestellt. Nach Erläuterung der Bedeutung der Beiladung für die Entstehung der Bindungswirkung widmet sich ein Abschnitt deren rechtlicher Konstruktion, insbesondere in ihren Unterschieden zu den bisher in der ZPO und der VwGO zu findenden Beiladungen. Mittels der sich anschließenden vergleichenden Analyse der durch die Beiladung zum Musterverfahren begründeten Verfahrensstellung soll untersucht werden, inwieweit die Übertragung der hergebrachten Drittbeteiligungsinstitute auf die neue prozessuale Situation Anpassungen und Modifizierungen erfordert und Konsequenzen für die Einordnung der mit dieser zusammenhängenden Bindungswirkung des Musterentscheides haben muss.
Der dritte Teil bildet den eigentlichen Untersuchungsschwerpunkt der vorliegenden Arbeit. In ihm wird die Bindungswirkung des Musterentscheides ins Verhältnis zum Rechtsinstitut der Interventionswirkung gesetzt, um hieraus Rückschlüsse auf die prozessrechtsdogmatische Einordnung der Wirkungen des Musterentscheides für die zugrunde liegenden Ausgangsverfahren zu ziehen. Wiederum wird als Grundlage der Untersuchungen zunächst das dem Gesetzgeber als Vorbild dienende hergebrachte zivilprozessuale Institut dargestellt. Um hierauf weiter aufbauen zu können, wird zu einigen der zahlreichen Probleme und Meinungsstreite im Zusammenhang mit der Interventionswirkung Stellung genommen. Die Analyse der im KapMuG statuierten Bindungswirkung des Musterentscheides begegnet dem Problem, dass die gesetzlichen Regelungen an entscheidenden Stellen nicht eindeutig sind oder sogar widersprüchlich erscheinen und hierdurch sehr viel Raum für Interpretatio-nen lassen. Um eine Basis für eine prozessrechtsdogmatische Kategorisierung dieses neuartigen prozessualen Instruments zu schaffen, wird die Bindungswirkung zunächst auf der Grundlage des Gesetzeswortlauts und des in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck kommenden gesetzgeberischen Willens hinsichtlich ihrer Adressaten, ihrer Reichweite und ihrer konkreten Ausformungen beschrieben. Bei der Bestimmung des objektiven Inhalts der Bindungswirkung muss sich zwangsläufig der Frage nach dem eigentlichen Streitgegenstand des Musterverfahrens gestellt werden. Hierzu werden zwei grundlegend unterschiedliche, in der Literatur zu findende Ansätze erörtert und zu diesen Stellung genommen. Auf der Grundlage der Befunde zur gesetzgeberischen Ausformung der Bindungswirkung widmet sich der nächste Abschnitt schließlich der dogmatischen Einordnung der im KapMuG angeordneten Bindungswirkung des Musterentscheides. Nach der Erörterung zweier in der Literatur vertretener vollkommen konträrer dogmatischer Erklärungsansätze wird ein eigener Ansatz entwickelt, um die verschiedenen im Gesetz angelegten Aspekte der Bindungswirkung dogmatisch zu kategorisieren. Im Vordergrund steht dabei die Frage nach der Möglichkeit eines institutionellen Verständnisses der Bindungswirkung als Form der Interventionswirkung. Hierzu werden diese beiden Bindungswirkungen in ihren Zielsetzungen und ihren jeweiligen Reichweiten miteinander verglichen und Parallelen zwischen ihnen aufgezeigt.
Der vierte und abschließende Teil gibt einen Ausblick auf die Auswirkungen der Untersuchungsergebnisse für die Rechtsanwendung. Mit Blick auf die Situation des Gerichts im fortgesetzten Individualverfahren nach rechtskräftigem Abschluss des Musterverfahrens werden einige Untersuchungsergebnisse nochmals zusammengefasst und in ihrer praktischen Relevanz für das Gericht dargestellt. Darüber hinaus wird aufgezeigt, welche Folgerungen sich aus einem institutionellen Verständnis der Bindungswirkung des Musterentscheides als eine Form der Interventionswirkung für die Rechtsanwendung ergeben und inwieweit der wissenschaftliche Erkenntnisstand und die Judikatur zu dem hergebrachten zivilprozessualen Rechtsinstitut der Interventionswirkung für die Anwendung der neugeschaffenen Instrumente des KapMuG nutzbar gemacht werden können.
Thesis
Dissertationsschrift
2008
Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln
Auflage
Sprache
Zielgruppe
Für höhere Schule und Studium
Für Beruf und Forschung
Für die Erwachsenenbildung
Maße
Höhe: 21 cm
Breite: 14.8 cm
Gewicht
ISBN-13
978-3-86844-106-2 (9783868441062)
Schweitzer Klassifikation