Leseprobe aus Band 3:
Die Hoffnungslosigkeit, die in den Straßen aus jedem Riss hervorkroch, überzog die langen Schlangen vor den Armenküchen wie eine tödliche Krankheit und setzte sich in den Augen der Ausharrenden fest. Aldo Farouche zog den Kopf ein, vergrub die Hände tief in den Taschen seiner Jacke und ging einen Schritt schneller. Ihm kam es so vor, als würden ihn die Häuserreihen mit ihren ver¬nagelten Fenstern tumb anglotzen. Er hatte so lange in CupolaV gelebt, dass er das Elend in den unteren Levels der europäischen Megacitys fast vollständig aus seinem Gedächtnis verbannt hatte. Bis jetzt. In den Straßen wimmelte es vor Menschen; einige drückten sich grüppchenweise in den offenen Bäuchen verlassener Einkaufspassagen herum, saßen auf den verrotteten Rolltreppen und flüsterten miteinander. Hier und da stieg ein dünner weißer Schwaden auf, wenn ein kostbarer Tabacco-Stick die Runde machte.
Nach unten starrend vermied Aldo jeglichen Blickkontakt. Die Atemmaske auf seinem Gesicht und das Augenprotektionsgel, das jeder Neuankömmling am Transkontinental Airport von Hanseapolis kostenfrei ausgehändigt bekam, fühlten sich ungewohnt an. Die ersten Minuten hatte er geglaubt zu ersticken und seine Augen hatten unaufhörlich getränt. Ihm war jedoch nichts anderes übrig geblieben, als sich damit abzufinden, denn auf der Null-Ebene von Hanseapolis war der Gehalt an Stickoxiden und Schwermetallen gefährlich hoch. Wer es sich leisten konnte, lebte oberhalb von Level 15. Um das Er¬stickungsgefühl am Boden perfekt zu machen, staute sich die trockene Luft in den Straßen, was Aldo ebenso zusetzte wie das gleißende Sonnenlicht, das sich durch seine Gesichtshaut zu fressen schien. Nur wenn der Wind aufkam und zwischen die Häuserschluchten fegte, schienen die Menschen aufzuatmen, auch wenn der aufgewirbelte Staub die Schmutzschicht auf Haar und Kleidung lediglich um eine weitere Maserung bereicherte.
Zwischen den Towern, die bis zum Mond zu wachsen schienen, waren gigan¬tische GCS-Screens gespannt, die ihre bunten Bilder aus aller Welt rund um die Uhr sendeten.
Aldo, den die News im Sekundentakt, die Geschichtchen und Skandale nur bedingt interessierten, hatte sich für eine Bleibe abseits vom Rummel ent¬schieden. Für ihn war Hanseapolis lediglich eine Zwischenstation. Sein eigent¬liches Ziel war die Strait of Dover, ein rechtsfreier Raum im Herzen der Euro¬päischen Föderation, wo jedem Asyl gewährt wurde, der über ausreichende finanzielle Mittel verfügte. Big Spender profitierten sogar vom Bonus einer dis¬kreten Überführung - inklusive Edelnutten und Champagner.
Vor seinem übereilten Aufbruch aus CupolaV hatte Aldo fünf wertvolle Stücke aus seinem Diebesgut in eine Tasche mit illegaler Capsule-Technologie gesteckt, die oberflächliches Scanning, wie es auf den föderativen Airports üblich war, in die Irre führte. Das hauchdünne Metallgeflecht im Futteral absorbierte die Scanner-Energie und wandelte sie in Wärmenergie um. Diese Energie wiederum setzte ein Bild hinter dem Geflecht frei, das ein falsches Echo zurückwarf. Statt eines MiniCubes mit pikanten Details aus dem Privatleben eines Admirals a.D., einer Gebetskette mit dreißig Kristallen, einem alten, voll funktionstüchtigen iPad5 und einem osmanischen Schwert mit saphir¬besetztem Griff hatten die Sicherheitssysteme in Terra Venezia und Hansea¬polis lediglich sauber verpackte Kleidungsstücke sowie ein paar Schuhe aus¬gemacht. Die Controller an den Checkpoints vertrauten der Technik blind. Gut für ihn. Seine übrigen Schätze lagen sicher versteckt im ehemaligen Fondaco dei Tedeschi am Canale Grande und er hoffte darauf, sie eines Tages zu bergen.
Obgleich er erstklassige Ware im Gepäck hatte, würde es für ihn nicht einfach werden, in Hanseapolis einen vertrauenswürdigen Käufer zu finden. Er besaß in der hiesigen Szene keine Kontakte. Bis er sich ein eigenes Netzwerk aufgebaut hatte, würde er sich als Auftragsdieb verdingen müssen. Mochte die Kon¬kurrenz noch so groß sein, er war überzeugt, dass es ihm nicht an Jobs mangeln würde, war er doch in seinem Metier sehr bewandert. Die Geldkarte für sein Singapurer Konto trug er immer bei sich, und obwohl sie auf eine Schein¬identität ausgestellt war, wagte er es nicht, Transaktionen von über hundert Eurodollar zu tätigen, um nicht unnötig Aufmerksamkeit zu erregen.
Zum Glück bescherte ihm sein Können bereits am ersten Tag eine menschen¬würdige Bleibe im Distrikt Bergedorf. Sie war klein und besaß den Charme einer Einzelzelle, hatte jedoch den großen Vorteil in einer Straße zu liegen, die von der Sonne niemals beschienen wurde. Was ein Segen war, denn die Jahres¬durchschnittstemperatur in Hanseapolis betrug 37,5 °C. Und teure Thermotrop-Technologie - gezielte Verschattung von transparenten Polymer-Fenstern, die durch Temperaturanstieg hervorgerufen wurde - suchte man auf den unteren Levels vergebens. Aldos Vermieter war ein Finne namens Paavo Laine, der nur einen Steinwurf entfernt ein 24/7-Resto im unteren Sockel einer Skybridge betrieb. Aldo hatte sich dort lediglich einen Schluck Hot Beer genehmigen wollen, um den staubigen Geschmack des Elends aus seiner Kehle zu spülen, als ihm der Wirt sein Leid geklagt hatte. Der schärfste Konkurrent des ge¬sprächigen Finnen, ein Asiat aus dem Östlichen Bund, dessen Geschäft sich ein Level höher befand, hatte seit einigen Wochen ein Gericht auf seiner Holo-Karte, das die Leute süchtig zu machen schien. Was zur Folge hatte, dass Paavo die Kundschaft in Scharen davongelaufen war. Zunächst hatte Aldo den Wort¬schwall schweigend über sich ergehen lassen, dann aber seine Chance ge¬wittert. Noch in der gleichen Nacht hatte er das Wunderrezept für Paavo "sichergestellt". Bei einer anschließenden chemischen Analyse zeigte sich, dass der Asiat seine Speisen mit einem verbotenen Euphorikum versetzte. Daraufhin war es zwischen den beiden Konkurrenten zu einem heftigen Wortwechsel ge¬kommen, bei dem Paavo der Quittenfresse gedroht hatte, besorgte Verfechter des Reinheitsgebots vorbeizuschicken. Seitdem war die Welt am Fuß der Skybridge wieder im Lot und Aldo nicht mehr ohne Obdach.