Christians Hände krallten sich in die Felswand. Feine Körner schürften das zarte Fleisch unter seinen Fingernägeln blutig. Er drückte sich mit den Fußballen ab und streckte die Finger nach dem Felssporn aus. Endlich berührte seine Hand die kalte Oberfläche - keine acht Zentimeter ragte der Stein vor. Christian atmete tief ein und langsam wieder aus, während er sich nach oben reckte - nur ein unsicherer Griff trennte ihn von einem Sturz in den Wald. Sein Fuß landete auf dem nächsten Vorsprung und er ruhte sich einen Moment lang aus, die Muskeln heiß in der frischen Morgenluft. Das Blut pochte in seinen Fingern und er verlagerte sein Gewicht auf die Fußballen.
Während er die weitere Route in Gedanken plante, sprang er zum nächsten Halt. Den Bruchteil einer Sekunde lang spürte er Luft anstelle des festen Steins und das Adrenalin rauschte durch seine Adern, als der Felsvorsprung ihm entglitt. Christian hörte den Pulsschlag in seinen Ohren rauschen, während er abrutschte und auf seinem schnellen Weg nach unten wieder einen Felssporn zu fassen bekam. Seine Finger krallten sich mit aller Macht darum - das Einzige, was sein Körpergewicht noch hielt und ihn vor dem Abgrund bewahrte.
Er betrachtete die Klippe und suchte nach einer Stelle, an der er Fuß fassen konnte. Ein Stück Fels. Irgendetwas. Das Adrenalin in seinem Körper ließ seine Arme zittern. Nicht gut. Die Zeit blieb stehen, bis er den Fuß auf einem schmalen Vorsprung absetzen konnte, wobei kleine Steinchen unter den Sohlen seiner Kletterschuhe wegrutschten. Christian ließ sein Gewicht auf dem Fußballen ruhen, während er nach einer neuen Route die Wand hinauf suchte. Als er sie gefunden hatte, atmete er aus, aber noch ein Sprung ins Ungewisse war dafür nötig.
Er lockerte seinen Griff und streckte sich nach einem festeren Halt aus. Als er den Fels umfassen konnte, wagte er sich zu einem anderen Vorsprung vor - dieser war so breit, dass er bequem darauf stehen konnte.
Von dem Aufstieg noch ganz außer Atem, drehte er sich um, presste den Rücken gegen das Vulkangestein, das sich auf seiner erhitzten und schweißnassen Haut kühl anfühlte, und atmete lange aus. Das war knapp gewesen. Er lächelte. Wieder ein Abenteuer geschafft.
Christian blieb einen Augenblick lang stehen und genoss das Morgenlicht, das sich über einen scheinbar endlosen Himmel erstreckte. Mann, wie er diese Aussicht liebte. Schmale Sonnenstrahlen drangen durch den Morgennebel und ließen das gelb-orangefarbene Laub aufleuchten. Alle sprachen von den herrlichen Herbstfarben in New England, aber für ihn gab es nichts Schöneres als den Herbst in New Mexico und jetzt war die Hauptsaison.
Er versank in der Stille. Nur ein gelegentliches Vogelzwitschern in den Bäumen unter ihm drang in der kühlen auffrischenden Brise an sein Ohr.
Die leuchtend orangefarbene Sonne stieg über dem Horizont höher und ihre Strahlen brachen sich in dem rauschenden Wasser des schnell dahinfließenden Baches am Grund des Tals - sie vertrieben die nachlassende Kühle der Nacht und ersetzten sie durch die neue Wärme des kommenden Tages.
»Ain't Worried About It« von OneRepublic durchbrach die Stille mit seiner Melodie. Wer in aller Welt rief ihn denn da so früh an? Er hoffte, dass nichts passiert war. Das war der einzige Grund, warum er beim Klettern sein Handy dabeihatte - für den Fall, dass es einen Notfall gab und seine Familie ihn brauchte.
Er schob das Telefon aus der aufgesetzten Hosentasche an seinem rechten Oberschenkel und hielt es sich ans Ohr, ohne nachzusehen, wer der Anrufer war. »O'Brady.«
»Ich brauche Sie auf der Stelle hier!« Tad Gaimans Stimme bebte vor Zorn.
Wieso rief Tad ihn so früh an? Warum rief er überhaupt an?
Tads hitzige Worte überschlugen sich. »Meine Galerie ist ausgeraubt worden!«
»Was?« Christian blinzelte. Das konnte nicht sein. Die Upgrades, die er gerade erst installiert hatte, machten das Sicherheitssystem undurchdringbar, das hatte er zumindest bis jetzt gedacht.
»Haben Sie nicht verstanden? Meine Galerie wurde ausgeraubt!«
»Doch, das habe ich verstanden.« Er sprach ganz ruhig. Tad war so aufgeregt, dass es für sie beide reichte. »Welche Galerie?« Der Mann besaß drei davon.
»Jeopardy Falls.«
Die in ihrer Heimatstadt? In der kleinen, ländlichen und in letzter Zeit zunehmend touristischen Stadt mit ihren fünfhundert Einwohnern gab es so gut wie keine Kriminalität. »Holen Sie tief Luft und beruhigen Sie sich, damit Sie sich konzentrieren können.«
»Beruhigen?«, kreischte Tad und Christian hielt das Handy etwas von seinem Ohr weg. Selbst seine Schwester Riley konnte nicht so hoch quieken. »Haben Sie nicht gehört? Meine Galerie ist ausgeraubt worden.«
»Ich habe Sie gehört. Und ich rufe Sie gleich zurück.«
»Wie, Sie rufen zurück? Das ist nicht Ihr Ernst, oder?«
»Ich stehe gerade auf einem Felsvorsprung in den Manzano-Bergen.«
»Aber klar!«, schnaubte Tad.
»Ich rufe Sie an, wenn ich wieder im Wagen sitze.«
»Und wie lange wird es dauern, bis Sie hier sind, O'Brady?«
»Ich muss runterklettern und in die Stadt zurückfahren. Wir sehen uns in einer Stunde.«
»In einer Stunde!«
»Und auf dem Weg können wir alles besprechen.«
Nachdem er so schnell, wie er konnte, die Felswand hinuntergeklettert war, kam Christian zu seinem Oldtimer Ford Bronco.
Er stieg ein und tippte auf das Bluetooth-Gerät, das er eingebaut hatte. Es hatte eine Menge gekostet, aber in seinem Job musste er reden können, während er auf den Spuren eines Falls unterwegs war. Jetzt schüttelte er den Kopf, immer noch erstaunt darüber, dass jemand sein Sicherheitssystem geknackt hatte.
Die Aufregung des nächsten Raubüberfalls kribbelte in Andis Gliedern, als sie ihre Schotterauffahrt hinunterraste und den Weg nach Jeopardy Falls einschlug.
Ihr Boss hatte gesagt, er würde sie anrufen und ihr die Einzelheiten mitteilen, die er in Erfahrung gebracht hatte, sobald sie zu der hübschen Kleinstadt unterwegs war, die ungefähr auf halber Strecke zwischen Santa Fe und Taos in den Sangre-de-Cristo-Bergen lag.
Während sie das Gaspedal durchdrückte, rannte ein Kojote auf die Straße und seine Augen leuchteten im Licht der aufgehenden Sonne. Andi trat in die Eisen und Staubwolken wirbelten auf, als ihr Pick-up ruckelnd zum Stehen kam - während ihr das Herz bis zum Hals schlug.
Das Tier erstarrte, seine Beute noch im Maul, und lief dann schnell weiter.
Andi gab wieder Gas und bog auf die Straße ab, die in nördlicher Richtung nach Jeopardy Falls führte. Die Stadt war seit einiger Zeit sehr angesagt - es gab mehrere Galerien, hübsche Restaurants und Läden mit herrlichen Schmuckstücken und anderen Werken indigener Künstler. Genauso war die Stadt aber auch von der Viehzucht und ihren traditionellen Ranches bestimmt, was für einen interessanten Kontrast sorgte. Gut, dass Andi Kontraste mochte.
Als sie Jeopardy Falls erreicht hatte und auf den Parkplatz an der Gaiman-Galerie fuhr, sah sie einen silbernen Porsche Panamera und den Wagen eines Sheriffs.
Nachdem sie tief eingeatmet hatte, in der Hoffnung, dass es ihre Nerven beruhigen würde, flüsterte sie ein Gebet und stieg aus. Die Strahlen der aufgehenden Sonne hüllten sie ein und umgaben sie nach der kalten Nacht mit einer herrlichen Wärme.
Sie hatte den Parkplatz noch nicht ganz überquert, als sie stehen blieb, weil sie plötzlich ein ungutes Gefühl beschlich und sich ihr die Nackenhaare sträubten. Merkwürdig. Sie ignorierte das Gefühl und setzte ihren Weg über die neuen Pflastersteine fort, aber schon nach wenigen Schritten lief ihr ein Schauer über den Rücken. Wieder blieb sie stehen, aber diesmal sah sie sich um. Die einzigen Personen, die sie entdeckte, waren die Besucher bei Frannie's und keiner von ihnen schien sich besonders für Andi zu interessieren. Also schob sie das Unbehagen auf ihre angespannten Nerven, ging weiter auf das Gebäude zu, bog um eine Steinmauer . und wäre beinahe mit dem Sheriff zusammengestoßen.
»Ups. Tut mir leid. Ich wusste nicht .«
Der Sheriff berührte seine Hutkrempe. »Alles gut.«
Andis Blick huschte zu dem Mann an seiner Seite, der orientalisch anmutende Hosen und ein lilafarbenes Satinhemd mit bunten geometrischen Mustern trug. Er lief unruhig vor dem mit Terracottafliesen versehenen Eingang auf und ab wie ein Kojote, der auf der Suche nach seiner nächsten Beute ist.
Die Sonne beschien das blondierte Haar des Mannes, das zu einer Siebzigerjahre-Frisur gestylt war. Oder Achtziger? Was auch immer es war, es war nichts aus diesem Jahrhundert. Andi schätzte den Mann auf Anfang bis Mitte fünfzig, sodass der Stil zu seiner Jugendzeit in den Achtzigern passen mochte.
»Sheriff Brunswick.« Der einen Meter achtzig große Mann mit den blauen Augen, einer wettergegerbten Haut und einem faltenreichen Lächeln streckte die Hand aus.
»Andi Forester. Ist mir ein Vergnügen.« Wenigstens hoffte sie, dass es eins sein würde. Die Gesetzeshüter behandelten sie in der Regel entweder mit professioneller Höflichkeit oder sie machten sich lustig, aber bei Brunswick hatte sie ein gutes Gefühl - obwohl das merkwürdige Unbehagen und der Verdacht, dass sie beobachtet wurde, sich in ihrem Bauch festgesetzt hatten. Sie versuchte, das Gefühl abzuschütteln, aber ohne Erfolg. Jetzt wandte sie sich an den anderen Mann. »Mr Gaiman, nehme ich an.«
Er starrte sie an und seine grünen Augen blinzelten.
»Ich bin die Ermittlerin von der Versicherungsgesellschaft Ambrose Global.«
»Ermittlerin?« Er runzelte die Stirn. »Ich dachte, sie schicken einen Sachverständigen.«
»In solchen Fällen nicht.«
Gaiman zog die Augenbrauen hoch. »Solchen Fällen?«
»Kunstraub. Ich arbeite wie ein Detective, um der Sache auf den Grund zu gehen. Und die Täter zu finden.«
»Ich dachte, das wäre mein Job«, warf Sheriff Brunswick ein.
»Natürlich, aber meiner auch«, erwiderte Andi und wappnete sich für die Reaktion des Sheriffs. Als die ausblieb, fuhr sie fort: »Meine Aufgabe ist es festzustellen, wer den Raub geplant hat.« Sie wandte sich wieder an den Sheriff. »Ich hoffe, wir können einander auf dem Laufenden halten.«
Der Mann nahm seinen Stetson ab und fuhr sich mit der Hand durch das dunkle Haar. »Ich wüsste nicht, warum das ein Problem sein sollte, solange gewisse Grenzen eingehalten werden.«
Brunswick ging zum Parkplatz. Andi streckte den Kopf um die Ecke und sah einen grünen Ford auf den Parkplatz fahren.
»Wer ist das?«, wollte sie wissen.
»Der Mann, der dafür sorgt, dass wir ins Gebäude kommen«, erwiderte Tad Gaiman. »Er hat das Sicherheitssystem installiert, also kann nur er es knacken.«
Hauptverdächtiger Nummer zwei. Der Elektriker. Tad war Nummer eins. Das waren die Galeriebesitzer immer. Es war verrückt, wie viele von ihnen ihre eigenen Galerien ausraubten oder ausrauben ließen, um das Geld von der Versicherung zu kassieren. Einer war sogar so dumm gewesen, die »gestohlenen« Werke bei sich zu Hause zu verstecken.
Andi riss sich zusammen und konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart. »Warum können Sie nicht in Ihre Galerie?«
»Also, ich .« Er verstummte, als Sheriff Brunswick um die Ecke kam, gefolgt von einem anderen Mann.
»Da ist der Verantwortliche«, sagte Tad.
»Das bin ich wohl kaum.« Die Sonne schien immer noch und es dauerte einen Moment, bis der Techniker aus dem grellen Licht trat, sodass Andi ihn betrachten konnte. Als sie es tat . wow! Muskulöse Figur, mindestens eins fünfundachtzig groß . vielleicht eins neunzig, mit braunen Haaren, die bis auf seine breiten Schultern fielen. Er trug Wanderklamotten - nein, Klettersachen, wie die Kreidespuren auf seiner Hose verrieten. Andi spürte eine peinliche Hitze in ihre Wangen steigen.
»Wer ist das?«, fragte der Mann Tad und deutete mit dem Kinn in ihre Richtung.
»Andi . irgendwas«, erwiderte Tad. »Sie ist von der Versicherungsgesellschaft.«
»Ah. Die Sachverständige.« Er streckte den muskulösen rechten Arm aus und gab ihr die Hand, die noch Spuren von Kreide aufwies. »Christian O'Brady.«
»Andi Forester«, antwortete sie. »Und ich bin keine Sachverständige.«
O'Brady zog eine dunkle Augenbraue hoch. »Nicht?«
»Ich bin Versicherungsermittlerin.«
»Ermittlerin. Echt?«
»Ja.«
O'Brady lächelte. »Das ist ziemlich cool.«
»Ja, ja«, sagte Tad und schwenkte den Arm, sodass sein Hemdsärmel sich im Wind blähte. »Sehr cool. Können wir jetzt in meine Galerie gehen, damit ich sehe, was sie sonst noch mitgenommen haben?« Er schüttelte unwirsch den Kopf.
»Ich hoffe nur, dass sonst nichts gestohlen wurde.«
»Das bezweifle ich«, sagte Christian.
»Warum?«, wollte Andi wissen.
»Die Täter haben ein nahezu unbezwingbares System bezwungen. Und ich fürchte, dadurch haben sie alle Zeit der Welt gehabt, um zu nehmen, was sie wollten.«
»Na, fantastisch!«, schnaubte Tad. »Können Sie uns jetzt bitte hier reinbringen?«
»Ich habe meine Ausrüstung im Wagen«, sagte Christian.
Andi beobachtete ihn, während er zu seinem Auto lief und dann sein Werkzeug vor dem Eingang deponierte. Sheriff Brunswick und Tad traten ein paar Schritte zurück, um ihn arbeiten zu lassen, aber Andi blieb stehen, wo sie war. Der Mann war entweder sehr eingebildet oder sehr gut - oder auch beides.
Er kniete sich vor die Tür und zog etwas heraus, das aussah wie zwei filigrane Dietriche. »Die muss ich gleichzeitig auf beiden Seiten neben der Vertiefung einführen, ohne versehentlich irgendetwas anderes zu drücken.« Das tat er. »Jetzt . drücke ich mit gleicher Kraft nach oben, bis sie sich voneinander lösen und .« Ein Klicken ertönte. »Voilà!«
»Das war's?«
O'Brady stand auf und klopfte sich die Hände an der Hose ab. »Das war ein Teil der Schatzkarte.«
»Wie bitte?«
»Um reinzukommen, sind mehrere Schritte nötig.« Christian legte die Hand auf den Türknauf. »Normalerweise ertönt jetzt ein schriller Alarm.« Er sah den Sheriff an. »Ich habe die Firma angerufen und ihnen gesagt, dass der Alarm losgehen könnte.«
»Moment mal«, sagte Andi. »Die Alarmanlage ist gar nicht angesprungen?«
»Offenbar nicht«, erwiderte Christian. »Und das bedeutet, sie haben irgendwie die Bewegungsmelder umgangen und waren rechtzeitig bei der Tastatur.«
»Tastatur?«, fragte sie nach.
»Von dem Augenblick an, wenn man den Transponder benutzt, hat man zwei Minuten, um zu Tads Büro im hinteren Teil der Galerie zu gelangen, den Safe zu öffnen und den Code einzugeben, bevor der Alarm losgeht.«
»Das Tastenfeld ist im Safe?«, fragte Andi.
Er nickte.
Genial. »Und die Chance, dass jemand ohne vorheriges Wissen all diese Schritte auf der Schatzkarte, wie Sie es genannt haben, schafft, ist wie hoch?«
»Eins zu einer Million«, antwortete Christian.
»Okay.« Dann musste es ein Insider gewesen sein oder jemand, der Kontakt zu einem Insider hatte. Andi blickte zwischen ihm und Tad hin und her und fragte sich, wer der Schuldige war.