Eine der negativen Konsequenzen einer entzündlichen Stimulation des afferenten somatosensorischen Systems ist die Manifestation inflammatorischer Schmerzen. Um die hierfür verantwortlichen Mechanismen auf zellulärer Ebene untersuchen zu können, war das zentrale Ziel des ersten Teils der vorgelegten kumulativen Dissertationsschrift die Etablierung und Charakterisierung einer neuroglialen Zellkultur des dorsalen Anteils des Rückenmarks ("superficial dorsal horn", SDH), wo die afferenten Fasern der primären Nozizeptoren auf sekundäre Neurone verschaltet werden. Die SDH Kulturen setzen sich aus Neuronen (43 %), Oligodendrozyten (35 %), Astrozyten (13 %) und Mikroglia (9 %) zusammen. Von den SDH Neuronen reagierten 80 % auf Glutamat, 43 % auf Substanz P, 8 % auf Prostaglandin E2 (PGE2) und 100 % auf KCl (Vitalitätstest) mit einem Anstieg der intrazellulären Ca2+-Konzentration. Eine Kurzzeit-Stimulation mit 10 µg/ml Lipopolysaccharid (LPS, hohe Dosis) führte zu gesteigerter Expression von Zytokinen, inflammatorischen Transkriptionsfaktoren und induzierbaren Enzymen zur PGE2-Synthese. Auf Proteinebene wurden erhöhte Konzentrationen der Zytokine TNF-a und IL-6 in den Überständen LPS-stimulierter SDH Kulturen und erhöhte Immunreaktivität beider Zytokine in Mikrogliazellen nachgewiesen. Mikrogliazellen LPS-behandelter Kulturen zeigten außerdem verstärkte Immunreaktivität der inflammatorischen Transkriptionsfaktoren NF?B, NF-IL6 und pCREB in den Zellkernen. Nach Kurzzeit-Stimulation mit einer hohen LPS-Dosis war die Stärke der durch Substanz P induzierten Ca2+-Signale, nicht aber der Glutamat-induzierten Antworten, reduziert. Eine Langzeit-Stimulierung mit einer niedrigen LPS-Dosis (0.01 µg/ml für 24 Stunden) führte dagegen zu einer signifikanten Verstärkung der Glutamat-induzierten Ca2+-Signale, während die Antworten der Neurone auf Substanz P hierdurch unbeeinflusst blieben. Die Ergebnisse dieses Teils der Arbeit legen nahe, dass Mikrogliazellen im SDH des Rückenmarks entscheidend an der Ausbildung entzündlicher Prozesse beteiligt sind, die letztendlich zu veränderten neuronalen Reaktionsmustern führen.
Im zweiten Teil der vorgelegten Arbeit wurde experimentell untersucht, ob sich das Phänomen der "LPS-Toleranz" in Strukturen des afferenten somatosensorischen Systems (Spinalganglien, "dorsal root ganglia", DRG und SDH) manifestiert. Unter LPS-Toleranz versteht man die Abschwächung der inflammatorischen Zellantwort bei wiederholter Exposition. In beiden Primärkulturen konnten Effekte einer LPS-Toleranz durch Langzeit-Vorstimulation mit einer moderaten LPS-Dosis (1 µg/ml, 18 Stunden) gefolgt von einer Kurzzeit-Stimulation mit einer hohen Dosis (10 µg/ml, 2 Stunden) induziert werden. Auf mRNA Ebene war der LPS-tolerante Zustand besonders durch eine signifikante Abschwächung der Expression von TNF-a bzw. einem Anstieg des IL-10/TNF-a Expressionsverhältnisses charakterisiert. Auf Proteinebene war dies anhand reduzierter TNF-a Immunreaktivität in Makrophagen (DRG) und Mikrogliazellen (SDH) und verminderter Freisetzung von TNF-a in die Kulturüberstände (SDH) ebenfalls nachweisbar. Außerdem zeigten LPS-aktivierte inflammatorische Transkriptionsfaktoren im Zustand der LPS-Toleranz veränderte Aktivierungsmuster. Speziell die für die Expression inflammatorischer Mediatoren verantwortliche p65-Untereinheit von NF?B war in Makrophagen (DRG) und Mikrogliazellen (SDH) signifikant reduziert. Dies traf auch für den Transkriptionsfaktor NF-IL6 zu. Eine IL-6 vermittelte Aktivierung des Transkriptionsfaktors STAT3 war im LPS-toleranten Zustand in DRG-Neuronen und SDH-Astrozyten ebenfalls vermindert. Diese Ergebnisse zeigen, dass sich LPS-Toleranz in Strukturen des afferenten somatosensorischen Systems induzieren lässt und durch eine Abschwächung LPS-induzierter inflammatorischer Mediatoren und Transkriptionsfaktoren charakterisiert ist. Ein Einfluss der LPS-Toleranz auf neuronale Reaktivitätsmuster unter inflammatorischen Bedingungen bietet Möglichkeiten für weiterführende Untersuchungen.
Nach der experimentellen Untersuchung der LPS-Toleranz sollte im dritten Teil der vorgelegten Dissertationsschrift untersucht werden, ob sich auch das Phänomen einer "LPS-Sensibilisierung" in Primärkulturen des afferenten somatosensorischen Systems (hier: Spinalganglien, DRG) nachweisen lässt. Hierbei handelt es sich um einen bislang postulierten, aber kaum nachgewiesenen Zustand, in dem eine Vorbehandlung mit sehr niedrigen LPS-Dosierungen ohne Eigeneffekt zu einer verstärkten Reaktion auf Stimulierung mit einer hohen LPS-Dosis führt. Von zahlreichen getesteten LPS-Dosierungen konnte eine starke Tendenz für einen Sensibilisierungseffekt für die Dosis von 0.001 µg/ml LPS für 18 Stunden anhand der TNF-a Freisetzung identifiziert werden. Diese und weitere unterschwellige LPS-Dosierungen waren jedoch nicht in der Lage, Capsaicin-induzierte Ca2+-Signale in primären nozizeptiven Neuronen zu verstärken. Eine inflammatorische Verstärkung Capsaicin-induzierter neuronaler Ca2+-Signale war nur durch Vorbehandlung mit einer LPS-Dosis (1 µg/ml für 18 Stunden) möglich, die per se auch zur deutlichen Freisetzung von Zytokinen (TNF-a) in die Kulturüberstände führt.
Die Ergebnisse dieser Arbeit zeigen, dass DRG und SDH Primärzellkulturen gut als Experimentalmodelle geeignet sind, um den Einfluss inflammatorischer Stimuli auf das afferente somatosensorische System zu untersuchen. Speziell für LPS können auch Zustände der LPS-Toleranz und der LPS-Sensibilisierung mit Hilfe der Kulturen untersucht und charakterisiert werden. Perspektivisch könnten beide Kulturen gemäß dem 3R Prinzip für Screenings von Substanzen mit potentiellen anti-inflammatorischen bzw. anti-nozizeptiven Eigenschaften herangezogen werden.
Reihe
Thesis
Dissertationsschrift
2021
Justus-Liebig-Universität Gießen
Sprache
Verlagsort
Produkt-Hinweis
Maße
Höhe: 21 cm
Breite: 14.8 cm
Gewicht
ISBN-13
978-3-8359-6988-9 (9783835969889)
Schweitzer Klassifikation