1. Das Paris-Syndrom
Paris is always a good idea.
Audrey Hepburn, in dem Film Sabrina
1.
Roissy-Charles-de-Gaulle, Ankunftsbereich.
In gewisser Weise eine Definition der Hölle auf Erden.
Vor der Passkontrolle drängten sich Hunderte von Reisenden in einer Warteschlange, die sich ausdehnte und wand wie eine dickbäuchige Boa. Gaspard Coutances hob den Kopf zu den Plexiglaskabinen zwanzig Meter vor ihm. Nur in zwei davon saßen unglückselige Polizisten, die den schier endlosen Passagierstrom zu kontrollieren hatten. Gaspard stieß gereizt einen Seufzer aus. Jedes Mal, wenn er diesen Airport betrat, fragte er sich, wie die verantwortlichen Politiker die verheerenden Auswirkungen eines so negativen Frankreich-Bilds ignorieren konnten.
Er schluckte seinen Ärger hinunter. Zu allem Überfluss herrschte hier eine Bruthitze. Die Luft war feucht, drückend, durchtränkt von ekelhaftem Schweißgeruch. Er stand neben einem Jugendlichen im Bikerlook und einer Gruppe von Asiaten. Die Anspannung war deutlich spürbar: Nach einem zehn- bis fünfzehnstündigen Flug mussten die Jetlag-Geschädigten empört feststellen, dass sie noch nicht am Ende ihres Leidenswegs angelangt waren.
Das Martyrium hatte kurz nach der Landung begonnen. Seine Maschine, aus Seattle kommend, war pünktlich gewesen und kurz vor neun Uhr morgens gelandet, doch sie hatten über zwanzig Minuten warten müssen, bis die Gangway an die Tür herangeschoben wurde und sie das Flugzeug verlassen konnten. Es folgte ein längerer Marsch durch die altmodischen Gänge. Eine Art Schnitzeljagd an komplizierten Wegweisern vorbei und über defekte Rolltreppen, gefolgt vom Überlebenskampf in einem überfüllten Pendelbus, um dann schließlich, in einen finsteren Raum eingepfercht, warten zu müssen. Willkommen in Frankreich!
Den Gurt seiner Reisetasche über der Schulter, lief Gaspard der Schweiß über die Stirn. Er hatte den Eindruck, schon mindestens drei Kilometer zurückgelegt zu haben, seitdem er das Flugzeug verlassen hatte. Deprimiert fragte er sich, was er hier zu suchen hatte. Warum bürdete er sich jedes Jahr einen Monat der Gefangenschaft in Paris auf, um ein neues Theaterstück zu schreiben? Er stieß ein nervöses Lachen aus. Die Antwort war einfach und klang wie ein Slogan: Kreatives Schreiben in feindlicher Umgebung. Jedes Jahr um dieselbe Zeit mietete ihm Karen, seine Agentin, ein Haus oder eine Wohnung, damit er in Ruhe arbeiten konnte. Gaspard hasste Paris so sehr - vor allem zur Weihnachtszeit -, dass er problemlos rund um die Uhr in seinen vier Wänden bleiben wollte. Resultat: Das Stück schrieb sich von ganz allein - oder fast. Auf alle Fälle war sein Text jedes Mal Ende Januar fertig.
Die Schlange vor dem Schalter löste sich mit trostloser Langsamkeit auf. Das Warten wurde zur unerträglichen Prüfung. Übererregte Kinder rannten schreiend zwischen den Zollschranken herum, ein älteres Paar stützte sich gegenseitig, ein Baby erbrach einen Schwall Milch in die Halsbeuge der Mutter.
Verdammte Weihnachtsferien wetterte Gaspard und atmete tief die verbrauchte Luft ein. Als er den Verdruss auf den Gesichtern seiner Leidensgenossen sah, erinnerte er sich an einen Artikel zum Thema »Paris-Syndrom«, den er in einem Magazin gelesen hatte: Jedes Jahr wurden mehrere Dutzend japanischer und chinesischer Touristen ins Krankenhaus eingeliefert oder in ihre Heimat überführt, weil sie unter schweren psychischen Störungen litten, die sich bei ihrem ersten Besuch in der französischen Hauptstadt eingestellt hatten. Kaum in Frankreich eingetroffen, klagten diese Urlauber über sonderbare Symptome - Wahnvorstellungen, Depressionen, Halluzinationen, Paranoia. Mit der Zeit fanden die Psychiater eine Erklärung: Die Beschwerden der Touristen resultierten aus der Diskrepanz ihrer überhöhten Erwartungen an die Ville lumière, der Stadt der Lichter, mit der Realität. Sie hatten geglaubt, »Die fabelhafte Welt der Amélie« zu entdecken, wie sie in Filmen und der Werbung angepriesen wird, und waren stattdessen mit einer harten und feindseligen Stadt konfrontiert worden. Ihr idealisiertes Paris-Bild - das der romantischen Cafés, der Bouquinisten am Seine-Ufer, der Maler am Montmartre und der Intellektuellen des Quartier Latin - traf auf die harte Realität: Dreck, Taschendiebe, allgemeine Unsicherheit, die allgegenwärtige Luftverschmutzung, ein hässliches Stadtbild, veraltete öffentliche Verkehrsmittel.
Um sich abzulenken, zog Gaspard mehrere gefaltete Blätter aus seiner Tasche. Die Beschreibung und Fotos von seinem »Luxusgefängnis« im 6. Arrondissement, das seine Agentin ihm gemietet hatte. Das ehemalige Atelier des Malers Sean Lorenz. Die Aufnahmen waren ansprechend - ein weiter offener Raum, lichtdurchflutet, entspannend, perfekt für den Schreibmarathon, der ihn erwartete. Normalerweise misstraute er solchen Fotos, doch Karen hatte die Wohnung selbst besichtigt und ihm versichert, sie würde ihm sicherlich gefallen. Mehr sogar, hatte sie auf geheimnisvolle Weise hinzugefügt.
Wenn er nur schon dort wäre.
Er musste sich noch eine gute Viertelstunde gedulden, bis einer der Beamten der Grenzpolizei sich bereitfand, einen Blick in seinen Pass zu werfen. Der ausgesprochen unfreundliche Typ ließ sich weder zu einem Bonjour noch zu einem Merci herab und antwortete auch nicht auf sein Bonne journée, als er ihm die Papiere zurückgab.
Erneutes Rätselraten vor den Hinweisschildern. Gaspard schlug die falsche Richtung ein, machte dann kehrt. Kaskaden von Rolltreppen. Eine Reihe von automatischen Türen, die sich jedes Mal mit Verzögerung öffneten. Er hastete an den Laufbändern vorbei. Zum Glück hatte er nur Handgepäck dabei.
Jetzt würde er der Hölle bald entkommen. Unter Einsatz der Ellenbogen kämpfte er sich durch das außergewöhnliche Gedränge in der Ankunftshalle, rempelte dabei ein sich küssendes Paar an, stieg über am Boden schlafende Passagiere hinweg. Die Drehtür mit dem Schild »Sortie - Taxis« darüber kündigte das Ende seines Martyriums an. Nur noch wenige Meter, und er wäre von diesem Albtraum befreit. Er würde ein Taxi nehmen, seine Kopfhörer aufsetzen und sich mental entfernen, indem er dem Piano von Brad Mehldau und dem Bass von Larry Grenadier lauschte. Dann, noch an diesem Nachmittag, würde er anfangen zu schreiben und ...
Der Regen kühlte seinen Enthusiasmus ab. Sintflutartige Wolkenbrüche ergossen sich auf den Asphalt. Tiefschwarzer Himmel. Tristesse und aufgeheizte Luft. Kein Taxi weit und breit. Stattdessen Wagen der Bereitschaftspolizei und desorientierte Touristen.
»Was ist los?«, fragte er einen Kofferträger, der seelenruhig neben einem Aschenbecher stand und seinen Glimmstängel paffte.
»Haben Sie denn noch nicht davon gehört? Wieder mal Streik, Monsieur.«
2.
Zur selben Zeit, genauer gesagt um 9:47 Uhr, stieg Madeline Greene an der Gare du Nord aus dem Eurostar, der sie aus London hierhergebracht hatte.
Ihre ersten Schritte auf französischem Boden waren zögerlich, denn sie hatte Probleme, sich zurechtzufinden. Ihre Beine waren schwer und zitterten. Zur Müdigkeit gesellten sich Schwindelgefühl, schmerzhafte Übelkeit und Sodbrennen. Obwohl der Arzt sie vor den Nebenwirkungen der Behandlung gewarnt hatte, war ihr nicht klar gewesen, dass sie über Weihnachten in so schlechter Verfassung sein würde.
Der Koffer, den sie hinter sich herzog, schien Tonnen zu wiegen. Der Lärm der Laufrollen auf dem Beton dröhnte in ihrem Kopf, zerriss gleichsam ihr Gehirn und intensivierte ihre Migräne, die sie quälte, seit sie wach geworden war.
Madeline blieb stehen, um den Reißverschluss ihres mit Lammfell gefütterten Lederblousons ganz hochzuziehen. Sie war schweißgebadet und zitterte trotzdem vor Kälte. Da sie kaum atmen konnte, glaubte sie einen Augenblick, ohnmächtig zu werden, fing sich aber am Ende des Bahnsteigs wieder, so als würde das geschäftige Treiben sie stimulieren.
Trotz seines wenig schmeichelhaften Rufs war die Gare du Nord, der Pariser Nordbahnhof, ein Ort, der Madeline schon immer fasziniert hatte. Sie empfand diesen Bahnhof nicht als gefährlich, sondern eher als eine Art Bienenstock - in ständiger Bewegung. Tausende von Leben, von Schicksalen, die sich kreuzten. Ein reißender Strom, eine Brandungswelle, die man bezwingen musste, um nicht zu ertrinken.
Vor allem aber wirkte der Bahnhof auf sie wie eine Bühne mit unzähligen Schauspielern: Touristen, Pendler, Geschäftsleute, Asoziale, Polizisten auf Streife, Schwarzhändler, Dealer, Angestellte aus den Cafés und Läden ringsumher ... Während sie diese Miniaturwelt unter der großen Glaskuppel sah, fühlte sich Madeline an die Schneekugeln erinnert, die ihr die Großmutter von jeder ihrer Reisen mitbrachte. Eine gigantische Glaskugel ohne Schnee, die von dem in ihr brodelnden Leben Risse bekam.
Draußen auf dem Vorplatz wurde sie von heftigen Böen empfangen. Das Wetter war noch mieser als in London: dichter Regen, trüber Himmel, feuchte, stickige Luft. Wie Takumi ihr prophezeit hatte, blockierten Dutzende Taxen den Zugang zum Bahnhof. Weder Busse noch Privatwagen konnten Reisende aufnehmen; sie blieben ihrem Schicksal überlassen. Vor einer Fernsehkamera erregten sich die Menschen: Streikende und Fahrgäste spielten die ewig gleichen Szenen für die Zeitungen und Nachrichtensender.
Madeline machte rasch einen Bogen um die Gruppe. Warum hab ich nicht daran gedacht, einen Regenschirm mitzunehmen, verfluchte sie sich, während sie auf den Boulevard de Magenta zusteuerte. Da...