Es ist der 28. November 1907. Über dem Ozean herrscht Ruhe. Das Arabische Meer ist glatt wie ein riesiger Ölfleck, der sich bis zum dunklen Horizont erstreckt. Die SS Aurore, ein Achttausend-Tonnen-Schiff der französischen Reederei Messageries Maritimes, erzeugt bei ihrer Fahrt durch die Küstengewässer Indiens sanfte Wellen, die die Meeresoberfläche aufwühlen. Aus ihren beiden hohen weißen Schornsteinen mit dem blauen Band quellen Rauchsäulen, die sich am Sternenhimmel der Tropennacht verlieren. Die Schiffsschraube rotiert mit eintönigem Brummen. Vor vier Wochen hat das Schiff in Marseille abgelegt, und seine Passagiere sind in der Mehrzahl englische und französische Kolonialbeamte, Missionare, Angehörige von Kolonialfamilien oder Soldaten, deren Ziel Pondicherry oder Saigon ist, der letzte Anlaufhafen. Haben sie sich in Marseille über die Kälte beklagt, die dort Ende Oktober herrschte, so jammern sie nun über die feuchte Hitze, die sämtliche Passagiere zwingt, auf Deck zu schlafen. Die Luft wird immer schwüler, als besäße der Mond die Macht, sie aufzuheizen. Die angenehmen Temperaturen der ersten Anlaufhäfen - Tunis und Alexandria -sind nur noch eine ferne Erinnerung. Einige Passagiere der ersten Klasse haben sich den Nachmittag damit vertrieben, auf Albatrosse und Möwen zu schießen. So trainieren sie ihre Treffsicherheit und bleiben in Übung für die großen Jagden, die auf sie warten.Zwei Frauen liegen in bequemen Liegestühlen auf dem Oberdeck und ergötzen sich an den fliegenden Fischen, die wie Lichtblitze über dem dunklen Wasser aufleuchten; manche prallen gegen den Schiffsrumpf, andere landen unglücklich auf dem Teakholzboden, wo sie ein Schiffsjunge aufhebt und in einen Eimer wirft, den er später über Bord kippt. Die Jüngere ist eine erst siebzehn Jahre alte Spanierin namens Ana Delgado Briones. Sie trägt ein elegantes grünes Seidenkleid des Couturiers Paquin und hat ihre brünetten Locken hinter den Perlenohrringen zu einem Knoten geschlungen, der die Zartheit ihres Halses noch hervorhebt. Ihr Gesicht ist oval. Sie hat ebenmäßige Züge und große, schwarze, sehnsüchtig blickende Augen. Die andere - die etwa vierzigjährige Madame Dijon - ist ihre Gesellschafterin. Mit ihrem länglichen Gesicht wirkt sie wie eine Elster. Wenn sie nicht so vornehm gekleidet wäre - ein weißer, knöchellanger Rock, eine dazu passende Musselinbluse und ein breitkrempiger Strohhut -, hielte man sie für eine Provinzgouvernante.»Heute Abend beim Kapitänsdinner, psst ...«, sagt Madame Dijon komplizenhaft und legt zum Zeichen der Verschwiegenheit einen Finger auf die Lippen. »D'accord, Anita?«Die Spanierin nickt. Sie sind zum Dinner am Kapitänstisch geladen, da es der letzte Abend ist. Das junge Mädchen kann es kaum glauben. Die Reise kommt ihr endlos vor. In den ersten Tagen wäre sie vor Seekrankheit am liebsten gestorben und hatte ihre Gesellschafterin um Erlaubnis angefleht, im nächsten Hafen aussteigen zu dürfen. »Die Seekrankheit ist nicht von Dauer«, hatte Madame Dijon erwidert, um sie zu beruhigen. Lola, ihre Kammerzofe aus Malaga, ein kleines, dunkles, quirliges Mädchen, das in einer Kajüte der dritten Klasse reist, wo es von muslimischen Pilgern auf der Rückkehr von Mekka wimmelt, wäre auch am liebsten gestorben. »Das hier ist schlimmer als ein Mistwagen!«, rief sie jedes Mal unter Magenkrämpfen aus, wenn sie von ihrer »Herrin« nach oben gerufen wurde.Bei Lola hat die Seekrankheit aufgehört, sobald sich das Meer beruhigte, doch Anita kämpft die gesamte Reise über mit Übelkeit und Schwindel. Sie sehnt sich danach, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen; das Meer ist nicht ihr Element. Außerdem träumt sie schon über ein Jahr lang von ihrer neuen Heimat. Wie es wohl in Indien sein wird?, fragt sie sich jedes Mal, wenn ihr ein anderer Passagier versichert, dass das Land mit nichts zu vergleichen sei, was ein Europäer kenne oder sich auch nur vorstellen könne.Von Anfang an stand Ana Delgado während der Überfahrt im Mittelpunkt sämtlicher Blicke und Gespräche - zum einen aufgrund ihrer Schönheit und zum anderen aufgrund des Geheimnisses, das sie umgibt. Der herrliche Schmuck, den sie gern zur Schau stellt, weist auf ein Mädchen aus reichem Hause hin; andererseits lassen ihr humorvolles Wesen und ihre Art zu sprechen -nämlich ein schlechtes Französisch mit andalusischem Akzent - auf eine eher zweifelhafte Herkunft schließen. Alles an ihr ist verwirrend und führt neben ihrer strahlenden Schönheit und ihrem Witz dazu, dass die Männer von ihr angezogen werden wie die Motten vom Licht. Ein englischer Mitreisender, der ihren Reizen erlegen ist, hat ihr erst kürzlich eine Brosche geschenkt, eine Kamee mit zwei emaillierten Rosen und einem kleinen Spiegel. Andere sind nicht so vornehm. Ein Offizier der französischen Kolonialstreitkräfte hat sie »Wespentaille« genannt, als er ihr auf der Treppe begegnete. Anita hat das Kompliment mit schelmischem Lächeln aufgenommen und ihm den brillantbesetzten Platinring an ihrem rechten Ringfinger gezeigt. Das genügte, um den Franzosen und alle anderen Neugierigen, denen es nach wie vor ein Rätsel ist, wer diese so außergewöhnliche Passagierin sein könnte, ein für alle Mal zum Schweigen zu bringen.
Als die Glocke erklingt, die zum Abendessen ruft, gehen die beiden Frauen nach unten ins Restaurant, einen großen Salon mit Wänden aus poliertem Teakholz und einem Podium, wo sechs Musiker im Frack Melodien von Mendelssohn Bartholdy spielen. Über den runden, mit bestickter Tischwäsche und dem feinsten Limoges-Porzellan gedeckten Tischen hängen Lüster aus böhmischem Kristallglas, die bei Seegang leise klirren. Am Tisch des Kapitäns sitzen bereits drei Angehörige des französischen diplomatischen Korps, die auf dem Weg nach Pondicherry sind.»Im Lauf der Überfahrt haben sich viele Gerüchte um Ihre Person gerankt«, bemerkt einer der Franzosen. »Bis heute wissen wir nicht, warum Sie nach Indien reisen, und wir sterben vor Neugier.«»Ich habe es Ihnen doch bereits gesagt, Monsieur. Wir fahren zu englischen Freunden, die in Delhi leben.«Anita und Madame Dijon haben sich auf diese kleine Notlüge geeinigt. Sie sind fest entschlossen, das Geheimnis bis zum Schluss zu bewahren. Allerdings glaubt ihnen niemand, weder die französischen Diplomaten noch die Mannschaft noch die restlichen Passagiere. Ein so schönes junges Mädchen mit so wertvollem Schmuck, noch dazu eine Spanierin, ist im Indien des Jahres 1907 etwas Unerhörtes.»Morgen in Bombay wird die Hitze noch drückender sein«, sagt Madame Dijon, um das Thema zu wechseln.»Es ist ein anstrengendes Klima, an das man sich nur schwer gewöhnt. Indien bekommt nicht jedem«, bemerkt ein anderer Franzose, während er Anita einen verstohlenen Blick zuwirft.»Ich habe dort gelebt, bevor ich Witwe geworden bin«, sagt Madame Dijon.»Ach ja? Wo denn?«
Mit viel Mühe gelingt es Madame Dijon, ihr Gegenüber abzulenken.Wie schwierig es doch ist, ein Geheimnis zu bewahren. Anita lügt nicht gern, doch ist ihr klar, dass sie die Wahrheit verschweigen muss. Obwohl sie sich danach verzehrt, alles über ihr Leben preiszugeben, weiß sie, dass sie nichts sagen darf. Es ist eine Anweisung des Radschas. Vielleicht konnte sie die Seereise deshalb nicht genießen, weil das erzwungene Schweigen sie von den anderen isoliert. Und selbst wenn sie hätte reden können . Wie hätte sie die Wahrheit vermitteln sollen? Wie erzählen, dass sie nach Indien fährt, um einen König zu heiraten? Wie erzählen, dass man sie dort, im fernen Bundesstaat Kapurthala, erwartet wie eine Fürstin? Mit ihren siebzehn Jahren wird sie Königin eines Landes werden, das sie nicht einmal kennt. Nein, das kann man einfach nicht jedem Erstbesten anvertrauen, der einen fragt. Der Radscha hat recht: Die Geschichte ist dermaßen unwahrscheinlich, dass man sie besser für sich behält. Ja, sie ist so unglaublich, dass nicht einmal Anita selbst sie glauben kann. Manchmal denkt sie, sie träume nur.Innerhalb von nur drei Jahren hat sich ihr Leben dermaßen gewandelt, dass es regelrecht unwirklich erscheint. Von einem Mädchen, das mit Puppen spielt, ist sie zur Frau eines indischen Rad-schas geworden, mit dem sie auf dem Standesamt von St. Germain in Paris die Ehe geschlossen hat. Wenn sie ihre schlanken, von Ringen geschmückten Finger ansieht, fällt ihr das Begreifen leichter. Dann muss sie wieder an diesen Tag vor einem Monat denken, in einem Paris, das sich nicht verregneter und melancholischer hätte zeigen können. Mein Gott, was war es für eine kalte und trostlose Zeremonie gewesen! Wahrlich nicht die Hochzeitszeremonie einer Fürstin, sondern eine reine Formalität. Im Sonntagsstaat betraten ihre Eltern, ihre Schwester Victoria, der Radscha, sein Kammerdiener und sie die Amtsräume im Rathaus von St. Germain und kamen wenige Minuten, nachdem sie ihre Unterschriften in riesige Hefte gesetzt hatten, als Ehepaar wieder heraus. Eine Hochzeit ohne jeden Pomp, ohne Musik, ohne Reis, ohne Freunde, ohne Tanz. Eine solche Hochzeit ist keine Hochzeit. Hinterher aßen sie in der Brasserie Lipp Choucroute mit Elsässer Wein und Champagner wie an irgendeinem x-beliebigen Feiertag. Ausgerechnet sie, die immer von einer weißen Hochzeit in der Kirche geträumt hatte, bei der ihre Freundinnen aus der Schule und aus ihrem Viertel in Málaga das Salve Rociera sangen. Das wäre eine gottgefällige Hochzeit gewesen. Fröhlich, nicht so wie diese triste Amtshandlung in Paris.Ihr wird schwer ums Herz, wenn sie an ihren Vater denkt, den armen Don Ángel Delgado de los Cobos, der mit seinem dichten grauen Schnauzbart und dem Auftreten eines spanischen Edelmannes so würdig wirkt, jedoch tieftraurig darüber ist, als er sich nach dem Essen am Eingang der Brasserie Lipp von seiner Tochter verabschieden muss. Sein Gesicht ist nass vom Regen oder vielleicht von den Tränen, nachdem er seinen Augenstern einem »maurischen Fürsten« anvertraut hat - denn so nannten sie den Radscha anfangs, ehe sie ihn kennenlernten. Sicher, er hat seine Tochter auf ihr außergewöhnliches Los vorbereitet, jedoch nur aus reinem Pflichtgefühl. Zuerst einmal seiner Frau gegenüber, die sich zwar zu Beginn den Wünschen des Radschas kategorisch widersetzte, sich jedoch angesichts der Opulenz der Geschenke, mit denen ihre Tochter überhäuft wurde, umstimmen ließ. Auch sah er sich von Nachbarn und Freunden gedrängt und nicht zuletzt von den Stammgästen im Nuevo Café de Levante, zu denen der illustre Valle-Inclán ebenso zählte wie Ricardo Baroja, Leandro Oroz und andere. Sie alle hatten sich verschworen, um Anita zu einer orientalischen Fürstin zu machen.»Eine solche Gelegenheit darf man sich nicht entgehen lassen«, sagte Valle-Inclán tiefernst zu Doña Candelaria Briones, Anitas Mutter, als sie ihm vom Ansinnen des Radschas erzählte, ihre Tochter nach Indien mitzunehmen. »Und was ist mit der Ehre, wo bleibt da die Ehre?«, erwiderte Doña Candelaria. »Dafür gibt es eine Lösung«, beschwichtigte sie der berühmte Schriftsteller. »Fordern Sie die Ehe!«»Er soll alle erforderlichen Papiere beschaffen und Anita ordnungsgemäß heiraten, wie es sich für anständige Leute gehört«, fügte Oroz hinzu.Letzten Endes war das die einzige Bedingung, die die Delgados stellten. Die Heirat bedeutete die Ehrenrettung. Nur so ließ sich die Würde der Familie wahren, auch wenn es Don Ángel lieber gewesen wäre, wenn er sich nicht von seiner so jungen Tochter hätte trennen müssen.An jenem grauen Tag in Paris erfüllte der Radscha die Bedingung. Er willigte ein, sich standesamtlich trauen zu lassen, damit die Eltern seiner Geliebten beruhigt waren. Doch auch für ihn war es keine echte Hochzeit gewesen. Die Hochzeit, die er in seinem Heimatland vorbereitet habe, dort, wohin Anita zuerst mit dem Schiff und später mit dem Zug unterwegs sein werde, wie er ihr erklärte, würde wie aus Tausendundeiner Nacht werden. Nicht einmal in ihren kühnsten Träumen könne sie sich so etwas ausmalen, hatte er der jungen Frau an jenem Tag versichert, um sie über die endgültige Trennung von ihren Eltern hinwegzutrösten.Der arme Don Ángel sollte nicht nur Anita verlieren. Im Handumdrehen verlor er auch seine zweite Tochter Victoria, die in Paris einen amerikanischen Millionär kennengelernt und sich unsterblich in ihn verliebt hatte. So wurden über Nacht aus zwei Töchtern zwei Abwesende, und das alles wegen eines orientalischen Fürsten.Anitas Vater bleibt mit gebrochenem Herzen zurück, und sie weiß das. Jeden Abend vor dem Einschlafen denkt sie an ihn. Sie denkt auch an ihre Mutter und ihre Schwester, doch mit weniger Schmerz. Die beiden Frauen sind stärker, und außerdem hat ihre Mutter erreicht, was sie wollte: das Ende aller Geldsorgen. »Vielen Dank, Eure Hoheit.« Und während sich das hell erleuchtete Schiff der Küste des Landes der unzähligen Götter nähert, betet Anita für alle zur Heiligen Jungfrau vom Sieg, »ihrer« Heiligen, der Schutzpatronin von Málaga.
Bei Tagesanbruch erreicht die SS Aurore die Küste und nimmt Kurs auf den Hafen von Bombay. Anita und Madame Dijon lehnen an der Reling des Oberdecks. Die Stadt erscheint am Horizont wie ein matter, dunkler Fleck, der aus dem Nebel auftaucht. Eine Reihe von Fischerbooten, kleinen Segelschiffen mit dreieckigen Segeln und einem einzigen Mast, tummeln sich auf dem Wasser der Bucht. Es sind die Fischerboote der Kolis, wie die Urbevölkerung Bombays genannt wird.Bereits drei Jahrhunderte zuvor haben sie erlebt, wie hier Portugiesen an Land gingen und den Ort Bom Bahia tauften, die gute Bucht, woraus der heutige Name entstand. Die Kolis hielten diese hoch gewachsenen Männer mit ihrer rosig glänzenden Haut, die aus Goa kamen, für eine Art mythologischer Tiere, als entstammten sie einer Episode des Mahabharata, des großen Epos der Hindus. Eine Aura des Schreckens umwehte sie, denn die portugiesische Eroberung Goas war eine Geschichte von Tod und Zerstörung, in der hinduistische Tempel und Moscheen dem Erdboden gleichgemacht, Frauen in Zwangsehen wie Gefangene gehalten wurden, und das alles im Namen eines neuen Gottes, der angeblich großherzig und mitfühlend war. Die Art, wie die Portugiesen die europäische Kolonisierung Indiens einläuteten, war alles andere als eine Liebesgeschichte zwischen Orient und Okzident.»Doch die Kolis von Bombay hatten Glück«, erklärt Madame Dijon, die mit der Geschichte der Stadt vertraut ist. Ihr Mann war Französischlehrer an der St. Xavier's School, dem Flaggschiff der britischen Bildungseinrichtungen Bombays. »Die Portugiesen wussten mit dem ungesunden Morast, der Bombay damals war, nichts anzufangen, und so gab der portugiesische König die Stadt Karl II. von England als Mitgift, als sich dieser mit Katharina von Braganza verehelichte.«»Dann war diese Stadt also ein Hochzeitsgeschenk?«, fragt Anita, die angesichts der bevorstehenden Ankunft aufgeregt und nervös ist und begierig den Erklärungen ihrer Gesellschafterin lauscht.
Am gegenüberliegenden Ufer hocken Männer, die sich beim allmorgendlichen Baderitual Wasser aus Krügen über den Kopf gießen - ein indischer Brauch, für dessen Übernahme die Engländer über hundert Jahre und die anderen Europäer noch länger brauchten. Büffel mit schwarz glänzendem Fell wandern zwischen den Lehmhütten mit ihren Dächern aus Palmwedeln umher. An der Mündung eines Flüsschens waschen sich Frauen mit nacktem Oberkörper die Haare, während die Kinder in dem dunklen Wasser planschen. Ein Wald aus Masten, Kränen und Schornsteinen kündigt den nahen Hafen an: arabische Schoner, chinesische Dschunken, Lastschiffe mit amerikanischer Flagge, Fregatten der englischen Kriegsmarine, Fischerboote ...Das Erste, was die Schiffsreisenden von der Stadt erblicken, ist die Strandpromenade mit ihren Palmen und ihren dunklen Gebäuden, und als sie in den Hafen einlaufen die von fünf Kuppeln gekrönte imposante Silhouette des Hotels Taj Mahal. Der Nebel würde an England erinnern, wären da nicht die klebrige Luft und die Raben, die über Dächern und Schiffsschornsteinen kreisen und deren Krächzen sich mit dem Heulen der Sirene mischt. Dem Anlass entsprechend gekleidet, sieht Anita hinreißend aus, auch wenn man ihre Schönheit nicht an einem einzelnen Detail festmachen kann. Sie trägt einen bodenlangen weißen Baumwollrock und eine bestickte Seidenbluse, die ihre schlanke Taille betont. Ihre Augen glänzen vor Ungeduld, und sie tupft sich nervös Schläfen und Wangen mit einem Taschentuch, während sie sich die andere Hand zum Schutz vor der Sonne über die Augen hält, die gerade hinter der Stadt aufgeht. Die Aurore beendet das Anlegemanöver. Ob er mich wohl abholt?, fragt sie sich.»Sagen Sie mir, wenn Sie ihn sehen, mir klopft das Herz bis zum Hals!«, bittet sie Madame Dijon.
Unten auf dem Kai beobachtet Madame Dijon Hunderte von Kulis, Lastenträger, deren Haut schweißnass glänzt und die mit nichts als einem Tuch um die Hüften wie Ameisenkolonnen in den Laderaum des Schiffs marschieren und beladen mit Paketen, Koffern und Truhen wieder herauskommen. Englische Beamte in makellosen khakifarbenen Uniformen überwachen das Ausladen. Die Passagiere der ersten Klasse werden von Angestellten der Reederei zum Zollgebäude begleitet; die aus der zweiten und dritten sind auf dem Weg dorthin sich selbst überlassen. Es herrscht lebhaftes Treiben. Kisten und Überseekoffer stapeln sich auf dem Kai.Ein Kran mit einem riesigen Flaschenzug, Ladebäume und Taue, an denen mehrere Stauer mit aller Kraft ziehen, gestatten es, die wertvollste Last des Schiffs an Land zu bringen: zwei Araberpferde, ein Geschenk des Sultans von Aden an irgendeinen Maharadscha. Mit vor Angst aus den Höhlen tretenden Augen strampeln die Vollblüter wie Rieseninsekten mit den Beinen in der Luft.Ein Dutzend Elefanten transportiert Kisten, Möbel, Karren und Industriegüter, die aus dem Schiffsbauch kommen. Es riecht nach Feuchtigkeit, Rauch, Eisen und Meer. Ins Krächzen der Raben mischen sich die Rufe und Pfiffe der Wachleute.