Aus dem Kapitel «Freitagnachmittag - Blumen mit Augen»
«Nenn mich nicht Gringa. Ich bin nicht aus den USA, verdammt nochmal.» Meine Stimme überschlägt sich.
«In Chile sagt man auch zu Europäerinnen Gringa. Und außerdem hast du mich Indio genannt.»
«Ich habe Mapuche gesagt, nicht Indio», verteidige ich mich.
«Klar», sagt er. «Wie all die Chilenen, die gelernt haben, zu sagen, aber noch immer meinen.» Ich bin sprachlos, doch er fährt fort: «Ich weiß, dass du die Frage nicht abwertend gemeint hast. Wahrscheinlich ist dir nur nicht klar, wie viel Rassismus in Chile noch immer existiert. Abgesehen davon hast du nicht unrecht. Ich habe indigene Vorfahren. Nicht nur, aber auch. Meine Großmutter mütterlicherseits war Mapuche.»
«Und deine Großmutter hat dir dieses Wissen weitergegeben?»
Er lehnt sich an einen Baumstamm, steckt die Hände in die Hosentaschen und sagt: «Nicht wahr, das wäre eine hübsche Geschichte: . Nur stimmt sie leider nicht.»
«Nein?»
«Abuelita Rosa starb, als ich sieben war. Alles, was ich weiß, kommt aus Büchern oder von anderen Leuten. Nicht von ihr.»
Er erzählt, dass er im Kopf noch vage Bilder von einer alten Frau habe, die am liebsten in der Küche neben dem Herd an der Wärme saß. Lange Röcke und bunt gemusterte Schürzen habe sie getragen und wenig geredet. Ob sie sich an ihre ursprüngliche Sprache und an überliefertes Wissen habe erinnern können, wisse er nicht. Sie sei fast dreißig Jahre mit seinem Großvater verheiratet gewesen, Hernán Gómez, einem Chilenen. Der habe nur Spanisch gesprochen.
Vermutlich sei Abuelita Rosa ohnehin in einer Missionsschule gewesen. Davon habe es viele gegeben im Gebiet der Mapuche. Man habe die indigenen Kinder von ihrer eigenen Sprache und Kultur möglichst fernhalten wollen. Rosas Nachname Catricura, gespaltener Stein, erscheine ihm passend für sie, die wohl schon früh von ihrer Herkunft abgespalten wurde.