Der Wind wurde stärker und erfasste Laras Haar. Staub wirbelte auf und legte sich auf ihr Gesicht. Als sie erwachte, spürte sie Sand auf ihren Lippen und zwischen den Zähnen. Erst in diesem Moment wurde ihr bewusst, dass sie aus einem tiefen Schlaf erwachte. Ihr Mund war trocken, die Zunge belegt. Ihr war heiß. Sie versuchte sich aufzurichten, aber sie konnte sich nicht bewegen, irgendetwas hinderte sie daran. Unter großer Anstrengung schaffte sie es, den Kopf ein wenig zu heben. Das hier war kein Traum. Ihre Hände und Füße waren an in den Boden gerammte Pflöcke gebunden, ihr Körper hatte die Form eines X, das in alle vier Himmelsrichtungen zeigte. Die Sonne stand im Zenit. Lara befand sich in einer wüstenartigen Ebene, weit und breit nur Erde und Himmel. Mühsam hob sie den Kopf noch ein Stück weiter an, um herauszufinden, wo sie war und wie sie in diese Lage geraten konnte. Sie betrachtete die einsame Landschaft, soweit es ihr durch die eingeschränkte Bewegungsfreiheit des Kopfes möglich war. Um sie herum das rötlich-weiße Land mit seinen gleichmäßig geformten Felsen und Geröllbrocken. Sie lag auf dem Boden, umgeben von den Überresten eines rechteckigen Bauwerks. Von den ehemaligen Mauern waren nur noch einige alte Steine übriggeblieben. In etwa zehn Metern Entfernung befand sich ein rechteckiger Steintisch, der so groß war, dass ein Mensch sich bequem darauf ausstrecken konnte. Rechts und links von ihr erhoben sich zwei Monolithen, die groteske, menschenähnliche Gestalten darstellten. Trotz großer Anstrengung konnte sie nur vage erkennen, was sich hinter ihrem Kopf befand. Es schien ein Opferaltar zu sein. Was hatte das zu bedeuten? Sie war nun endgültig aus jenem Zustand der Taubheit, in dem sie sich befunden hatte, erwacht und versuchte, sich von ihren Fesseln zu befreien. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Arme und Beine mit Lederriemen festgebunden waren, die man zuvor angefeuchtet hatte, um sie fester an die Pflöcke binden zu können. In der stechenden Sonne trockneten sie und zogen sich zusammen. Jeder Versuch, sich zu befreien, verursachte große Schmerzen, denn die Riemen schnitten dabei nur noch tiefer ins Fleisch. Plötzlich fiel ihr alles wieder ein: Mama Maru, jene Curandera, die sie in ihre Lehren einführte, hatte sie genötigt, eine Schale mit einem Kräutersud zu trinken, den sie am Morgen zubereitet hatte. Lara hatte ihn getrunken und war dann vom Schlaf übermannt worden. Nun befand sie sich hier, rücklings auf den Boden gebunden, ohne zu verstehen, weshalb. Seit vielen Tagen lebte sie nun schon bei der Curandera, die trotz ihres hohen Alters immer noch die Kraft einer reifen Frau und die Behändigkeit eines jungen Mädchens besaß. Mama Maru hatte ihr die Schale gereicht, ihr dabei fest in die Augen gesehen und gesagt: »Trink! Diese Flüssigkeit wird dir helfen, deinem Leben eine Richtung zu geben und deine Ziele klarer zu sehen.« Sie hatte ein wenig gezögert, von dem Trank zu kosten, vor allem, weil die Tasse, in der Mama Maru ihn brachte, nicht ganz sauber war. Lara, die großen Wert auf Sauberkeit und Hygiene legte, drehte es beim Anblick jener mit Schmutzrändern versehenen Schale regelrecht den Magen um. Doch Mama Maru bestand darauf. Die Flüssigkeit hinterließ einen seltsamen Geschmack im Mund, ein wenig herb, leicht würzig, ganz ungewohnt für ihren Gaumen. Lara musste würgen, aber sie war entschlossen, das Wundermittel zu trinken. »Wird es mir wirklich helfen, meinen Weg zu finden?«, hatte sie sich gefragt, bevor sie die Schale an die Lippen führte. Seit mehreren Wochen befand sie sich bereits in diesem Land, nicht als Touristin, sondern um nachzudenken, um in sich zu gehen und nach dem Sinn des Lebens zu suchen. Noch bis vor wenigen Monaten hatte Lara genau gewusst, was sie wollte, welchen Weg sie einschlagen würde. Jetzt war sie ziellos und verwirrt. Sie kam sich vor wie ein Schiff in aufgewühlter See, ohne Steuermann, ohne Kompass und Karten. Ohne zu wissen, in welchen Hafen sie einlaufen würde, in welche Richtung sie steuern musste. Sie war ganz dem Treiben der Wellen überlassen, ohne eine Vorstellung von ihrem zukünftigen Leben, ihren Zielen, ihren wirklichen Wünschen. »Sicherlich! Du brauchst diesen Trank. Schon bald wirst du seine Wirkung spüren.« Als Lara diese Worte hörte, trank sie den Rest in einem Zug und reichte Mama Maru die leere Schale. Die alte Curandera beobachtete sie. Erst jetzt bemerkte Lara ein sarkastisches Lächeln auf ihrem Gesicht. Dann verdunkelten sich ihre Sinne. Und nun fand sie sich an diesem verlassenen Ort wieder, an Händen und Füßen gefesselt, auf dem Boden ausgestreckt und der glühenden Sonne ausgesetzt. Sie verspürte brennenden Durst. Es war bereits Mittag, die Sonne stand hoch und brannte erbarmungslos auf sie herab. Ihre Kleider waren viel zu warm, aber sie schützten vor Sonnenbrand. Ihr Rücken war feucht vom Schweiß, der ihr zwischen den Schulterblättern hinablief. Lara spürte, wie ihr Gesicht spannte, sie hatte das Gefühl, als sei es mit einer Schicht bedeckt. Aber sie konnte nichts dagegen tun, es gelang ihr nicht, sich zu bewegen. Nur den Kopf vermochte sie zu heben und zur Seite zu drehen. Sie lag zwischen jenen Ruinen, mitten auf einer weiten Ebene. Nirgends eine Spur von Vegetation, weit und breit nur Erde und Geröll, eine Art Mondlandschaft. In der Ferne zeichneten sich, wie in Nebel getaucht, die bleigrauen Umrisse der Berge ab. Sie hatten etwas Geheimnisvolles an sich. Laras Kopf wurde schwer, und sie ließ ihn zurück auf den Boden sinken. Das grelle Licht schmerzte in den Augen. Sie blickte auf. Erst jetzt bemerkte sie die Geier, die ihre Kreise um die Sonne zogen. Es waren etwa zwanzig schwarze Vögel, Aasfresser auf der Suche nach Nahrung. Lara wusste, dass sie angreifen, wenn ihr Opfer keine Kraft mehr hat, sich zu bewegen oder zu verteidigen. Eine beängstigende Vorstellung bemächtigte sich ihrer: War sie hier, um zu sterben? »Oh mein Gott!«, schrie sie. »Warum bin ich hier? Was geschieht mit mir? Warum hat man mich an diese Pflöcke gefesselt?« Ohne sich von ihren Schreien und ihrem Klagen beirren zu lassen, kreisten die Geier über ihr und kamen immer näher. Lara konnte sie jetzt deutlich erkennen: Sie waren kaum noch zwanzig Meter von ihr entfernt. In ihrer Vorstellung sah sie sich schon von den Hieben ihrer Schnäbel zerhackt: Zuerst würden sie sich über ihre Eingeweide hermachen, danach über den Rest. Nur ihre Knochen würden übrigbleiben. Eine entsetzliche Angst überfiel sie. Sie wollte nicht so sterben! »Hilfe! Hilf mir!«, schrie sie mit ganzer Kraft. »Mama Maru, Mama Maru, wo bist du? Binde mich los!« Der Widerhall ihrer Stimme verlor sich in der Ferne der reglosen Landschaft. »Mama Maru, Mama Maru, das ist kein Spaß mehr. Ich flehe dich an, binde mich los!«, schrie sie in ihrer Verzweiflung erneut. Niemand antwortete. Außer dem leisen Flügelschlag der kreisenden Geier gab es nichts, was die Stille durchbrach. Eine zarte Brise fuhr durch ihr zerzaustes Haar und wirbelte ein wenig Staub auf, der sich auf ihre Augen und ihr Gesicht legte. Lara versuchte, eine Hand aus der Schlinge zu ziehen. Aber sie war so fest an den Pflock gebunden, dass sie keine Chance hatte, sich zu befreien. Sie versuchte es mit der anderen Hand, dann mit den Füßen. Nach etlichen vergeblichen Versuchen sah sie ein, dass es kein Entkommen gab. Erneut schaute sie in Richtung ihrer Füße, und beim Anblick des großen rechteckigen Steintisches musste sie unweigerlich an ihren Tod denken. Plötzlich erinnerte sie sich wieder an das, was sie über Menschenopfer in Südamerika gehört hatte, und ein furchtbarer Gedanke überfiel sie. Die Nachricht von dem jüngsten archäologischen Fund auf dem Ampato, einem schneebedeckten Berg im Süden Perus, war ihr noch frisch im Gedächtnis. Dort hatte man den Körper einer jungen Frau entdeckt, die den Göttern geopfert worden war. Sollte das auch ihr Schicksal sein, sollte sie auf jenem Tisch als Opfer dargebracht werden? Lara versuchte, dieses Bild aus ihrem Kopf zu vertreiben. Doch nach und nach wurde sie immer stärker von diesen heimtückischen Gedanken bedrängt. Schon sah sie sich in ihrer Vorstellung vor dem Opferaltar, umgeben von einer Gruppe Indios, die sich um sie scharten und sie dazu anhielten, tapfer und würdevoll zu sterben, während sich ein alter Priester mit dem Tumi, dem Zeremonialmesser der Anden, näherte, um ihr den Leib aufzuschlitzen und ihr das noch schlagende Herz herauszureißen. »Nein«, sagte sie sich, »das kann nicht mein Ende sein. Es ist nur ein grausames Spiel, das Mama Maru mit mir spielt. Sie wird zurückkehren und mich befreien.« Sie wartete weiter geduldig, ohne dass die alte Curandera erschien. Der Wind kam nun aus westlicher Richtung und kündigte das Hereinbrechen der Dämmerung an. Lara verspürte Durst. Als sie bemerkte, dass sich die Geier zurückzogen, wurde sie ruhiger. Trotzdem breiteten sich in den kommenden Stunden erneut negative Gedanken in ihrem Kopf aus. Sie war in Gefahr. Sie überlegte fieberhaft, wie sie sich befreien konnte. Sie wollte nicht sterben! Sie musste eine Lösung finden, einen Ausweg aus dieser Falle, in die sie in jener lautlosen Wüste getappt war, fernab von den Menschen und jeglicher Zivilisation. Die Schmerzen, der Durst und ihre unbequeme Haltung hinderten sie daran, zu einer Lösung zu kommen. Plötzlich überfiel sie die Angst vor wilden Tieren und Reptilien, die in jenen unwirtlichen Gegenden hausten. Am meisten fürchtete sie sich vor Schlangen. Sie stellte sich vor, wie sie sich langsam heranschlängelten. Lara wusste, dass einige von ihnen giftig waren. Ein Biss hätte genügt, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Verzweifelt rief sie um Hilfe und flehte um Erbarmen. Da niemand antwortete, begann sie zu schreien. Sie ließ wüste Beschimpfungen los, verfluchte alle und begann schließlich zu weinen. Erneut versuchte sie, sich von ihren Fesseln zu befreien. Bei jedem Versuch spürte sie, wie die Lederriemen sich fester zusammenzogen, ihr beinahe das Blut abschnürten. Aus einem Gefühl der Ohnmacht, der Verzweiflung und der Verlassenheit heraus begann sie wieder zu weinen und zu schreien. Mama Maru spielte ein übles Spiel mit ihr. Langsam kamen in ihr die Erinnerungen hoch: Schuld an ihrer jetzigen Lage war ein Mann, ihr Ehemann. Sie hatte sich aufgeopfert für ihn, und er hatte es ihr vergolten, indem er sie mit einer anderen hinterging. Um der Erinnerung zu entkommen, war sie in das ferne Peru aufgebrochen, und nun lag sie ausgestreckt inmitten einer trostlosen, einsamen Ebene. Noch etwas anderes fiel ihr ein: Die einzigen menschlichen Spuren an diesem Ort waren die, die sie und Mama Maru bei ihrer Ankunft hinterlassen hatten. Das letzte Stück ihres Weges hatten sie zu Fuß zurückgelegt, nachdem sie zuvor in einem Lastwagen mitgefahren waren. Während sie den Weg in die Ebene einschlugen, hatte Mama Maru zu ihr gesagt: »Wenn wir Glück haben, kommt alle vierzehn Tage ein Lastwagen hier vorbei. Aber meistens ist das nicht der Fall.« Wenn nicht irgendjemand hierher käme, um sie zu befreien, wäre dies ihr Ende. Die Geier würden unermüdlich ihre Kreise am Himmel ziehen, und früher oder später müsste sie sich vor Durst geschlagen geben. Ihr Tod würde für sie ein Festschmaus sein. Immer dichter kamen die schwarzen Vögel an sie heran. Lara konnte nun ihre bleigrauen Schnäbel erkennen, die roten Hälse, die mächtigen schwarzen Flügel, deren Enden aussahen wie die gespreizten Finger einer Hand. Majestätisch glitten sie durch die Lüfte und warteten geduldig auf den passenden Moment, um sie anzugreifen. Lara hatte jegliche Hoffnung verloren und begann erneut, verzweifelt zu weinen. Ein paar salzige Tränen liefen ihr hinab bis zum Mund und befeuchteten die trockenen Lippen. Doch plötzlich entfernten sich die Geier. Lara konnte nun Schritte vernehmen. Sie versuchte den Kopf zu drehen, aber es gelang ihr nicht. Das konnte nur Mama Maru sein, denn sie sah nun den Schatten einer Frau, die mit einem Hut, einer Manta über den Schultern und einem Rock bekleidet war. Als Mama Maru ihr ein wenig Wasser auf die trockenen Lippen träufelte, beruhigte sie sich wieder. Sie schluckte einige Tropfen. Das linderte den schlimmsten Durst und ließ sie wieder zu sich kommen. »Trinke Tropfen für Tropfen, denn das ist alles, was du bekommst. Solange du nicht lernen willst, das Leben zu begreifen, wirst du so bleiben, wie du jetzt bist«, sprach die Curandera ruhig. Lara blickte Mama Maru fest in die Augen, um zu ergründen, welchen Ausdruck sie hatten. Ihr Blick verriet Stärke und Bestimmtheit. Lara wusste nun, dass sie ihr ausgeliefert war. Sie war nicht im Stande, sich zu befreien. Sie musste ihren Verstand nutzen, um aus dieser misslichen Lage zu entkommen. Deshalb fragte sie: »Warum hast du mich festgebunden? Was für einen Sinn hat das? Warum quälst du mich?« »Siehst du? Das Einzige, was du kannst, ist fragen, klagen und jammern. Du erkennst nicht, welche Lehren dir das Leben erteilt«, antwortete die Curandera. »Du bist hier, weil du eine wahre Frau sein willst. Du möchtest zu den Frauen gehören, die sich jeder Herausforderung stellen, die gegen alle Widrigkeiten ankämpfen und jegliches Hindernis überwinden. Aber du willst nichts lernen.« »Binde mich los und bring mich fort von hier.« »Du kannst nur eins: Befehle erteilen. Wenn man dir nicht gehorcht, flehst und bettelst du, aber du bist nicht bereit, von deiner Seite etwas dafür zu tun«, antwortete Mama Maru mit klarer Stimme. »Was kann ich in dieser Situation von meiner Seite aus tun?«, schrie Lara erbost auf und vergaß dabei vollkommen ihre vom stundenlangen Liegen tauben Schultern und das schmerzende Gesäß. »Denke über deine Existenz nach, ergründe sie. Versuche vor allem, mit beiden Beinen im Leben zu stehen: Lebe in der Gegenwart und verliere keine Zeit mit Gedanken darüber, was du hättest tun können und nicht getan hast, oder darüber, was die Zukunft bringen mag. Du willst dein Problem ganz einfach lösen, mit einer magischen Formel, die ich für dich parat haben soll. Du willst das Leben begreifen, ohne es zu leben, du willst den Verstand ohne deinen Körper gebrauchen, du beschäftigst dich nur mit der Theorie. Du willst deine Erfahrung nicht in die Praxis umsetzen.« »Ich verstehe dich nicht. Auf diese Weise bringst du mich nicht weiter. Außerdem hab ich dich nicht darum gebeten, mich zu quälen.« »Du hast Recht, für dich sind es Qualen. Aber es ist eine Form der Lehre, eine Lektion über den Schmerz, die du immer in Erinnerung behalten sollst. Bisweilen sind es die harten Lektionen des Lebens, durch die wir wachsen und jene Besonnenheit und Kraft erwerben, mit denen wir den Problemen der Zukunft begegnen können.« »Bitte, binde mich los. Befreie mich. Ich werde fortgehen und nie mehr zu dir zurückkommen.« Mama Maru lachte, als hätte sie Spaß daran, sie leiden zu sehen. Dann sagte sie: »Siehst du, du bist immer noch das kleine Mädchen. Du hast nichts dazugelernt. Du willst eine wahre Frau werden, aber bedenke, dass die wahren Frauen ihre Lehren aus den Widrigkeiten des Lebens ziehen.« »Was soll ich an diesem Ort schon lernen, inmitten von Erde und Staub, in dieser glühenden Hitze?« »Genau so ist dein Leben: Du spürst die Fesseln an Armen und Beinen, du bist durch deine Gedanken, deine Gefühle und durch unzählige Bedürfnisse eingeengt. Schau in den Himmel: Dort sind die Geier. Du hast nur die negative Seite an diesen Tieren gesehen und glaubst, sie seien allein deshalb hier, um sich über dich herzumachen. Du hast nichts begriffen. Ebenso wie diese schwarzen, aasfressenden Vögel bedrohen negative Gedanken unser Leben. Wie die Geier kreisen sie unaufhörlich in deinem Kopf. Doch du tust nichts, um sie zu vertreiben, ebenso wenig, wie du versucht hast, die Geier zu vertreiben. Zeige ihnen, dass du lebst, schreie und heule. Wenn sie merken, dass du nicht tot bist, werden sie verschwinden. Dasselbe gilt für deine Gedanken: Zeige, dass du entschlossen bist, keine negativen Gedanken mehr zuzulassen, denn sonst werden sie dich eines Tages verzehren und dein Leben zerstören. Mach dir selbst Mut!« Lara betrachtete nun die Situation von beiden Seiten. Einerseits fühlte sie sich gefangen, dem Tod nahe und glaubte, ihrem Untergang entgegenzugehen. Andererseits taten sich völlig neue Perspektiven auf: Eine Frau mit fast völlig ergrautem Haar und einem von Falten zerfurchten Gesicht, ärmlicher Kleidung, festem Blick und der würdigen Haltung einer Dreißigjährigen erteilte ihr Lehren über das Leben durch die Erfahrung des Schmerzes. Niemals hätte sie geglaubt, dass dies auf derartige Weise geschehen konnte. In diesem Moment kamen ihr all die negativen Gedanken zu Bewusstsein, die sie in ihrem Inneren mit sich herumtrug. Zum Beispiel hatte sie eine krankhafte Angst, ihr könne etwas zustoßen. Deshalb hatte sie eine Unfallversicherung abgeschlossen. Auch ihre Angst, die Arbeit zu verlieren, war groß. Sicherheitshalber hatte sie auch für diesen Fall eine Versicherung abgeschlossen. Sie versuchte, ihre Ängste zum Schweigen zu bringen, indem sie sich hierhin und dorthin flüchtete. Aber nie hatte sie es gewagt, ihnen entgegenzuwirken. Mit Mama Maru war sie bereits zuvor äußerst schwierigen Situationen begegnet und hatte sich trotz ihrer Angst den Problemen gestellt. Ihr fiel wieder ein, wie sie den Ort erreicht hatte, an dem Mama Maru lebte: Auf dem Rücken eines Pferdes und in Begleitung eines Mannes hatte sie enge Schluchten und schmale Gebirgspfade passiert. So war sie auf die alte Curandera gestoßen, von der es hieß, sie sei eine Meisterin des Lebens. Mama Maru entfernte sich und ließ Lara allein mit ihren Gedanken. Sie wusste nun, dass sie nicht in Lebensgefahr war, dass sie lediglich am eigenen Leib eine praktische Unterweisung erfuhr: eine harte, schmerzhafte Unterweisung, die Wunden an Händen und Füßen hinterließ. Eine Erfahrung, die sie nie wieder vergessen würde. Während sie über ihre Existenz nachdachte, tauchten all die düsteren Gedanken wieder auf, die unerbittlich um ihr Leben kreisten: Gedanken, die sie bedrängten und nicht losließen. Das Bild, das Mama Maru beschrieben hatte, war eindringlich in ihrem Gedächtnis haften geblieben. Zum ersten Mal verspürte sie dieser Frau gegenüber keine Wut, sondern Verständnis. Ihre Unterweisungen waren lebensnah und brachten sie zum Nachdenken. Lara ließ verschiedene Lebensabschnitte vor ihrem inneren Auge vorüberziehen: die Kindheit, die Jugend, das Erwachsensein. Sie suchte nach dem tieferen Sinn, manchmal glaubte sie zu begreifen, doch dann verdunkelte sich wieder alles. Wind und Sand trieben weiter ihr Spiel mit Laras reglosem Körper. Doch all das hatte keine Bedeutung mehr: Sie war jetzt entschlossen, ihrem Leben einen Sinn zu geben. Einige Stunden später kam Mama Maru, um die Fesseln zu lösen. Die Alte hatte auch ein wenig Wasser und etwas zu essen mitgebracht. Lara massierte sich die schmerzenden Glieder, klopfte den Staub von den Kleidern und machte einige Dehnungsübungen, um wieder Gefühl in Arme und Beine zu bekommen. »Setzt dich hier an den Steintisch«, forderte die Curandera sie auf. »Wir wollen zusammen zu Abend essen. Trink das Wasser in kleinen Schlucken, nicht in einem Zug, sonst wird es dir schlecht bekommen.« Es war später Nachmittag, als die beiden Frauen sich zusammensetzten. Während Lara sich noch immer die schmerzenden Stellen massierte, breitete Mama Maru eine Decke auf dem Tisch aus und legte getrocknete Speisen darauf, die typische Ration der Reisenden. Lara konnte nun endlich die Landschaft betrachten: überall Erde und Geröll, nur hin und wieder ein niedriger Strauch, kaum höher als einen Meter, und nirgendwo Wasser. Doch Mama Maru hatte eine kleine Amphore mitgebracht, deren Inhalt ihren Durst löschen sollte. Während sie schweigend aßen, dachte Lara über Mama Marus Worte nach. Genau denselben Rat hatte ihr einmal ein Psychologe aus Mailand gegeben. Damals hatte sie seine Worte nicht verstanden, weil es ihr an Erfahrung fehlte. Jetzt spürte sie, wie lebensnah, wie wirklich, wenn auch erbarmungslos diese Lehre war, die sich gänzlich auf die Praxis gründete und sich für immer in ihr Bewusstsein und ihren Körper eingeschrieben hatte. Während ihr Blick über den Horizont schweifte, lauschte sie Mama Marus Worten: »Wenn du Gutes denkst, wird alles gut. Wenn du Schlechtes denkst, wird alles schlecht. Das ist das Gesetz des Lebens. Du entscheidest, was du vom Leben willst. Wenn du negative Gedanken in dir anhäufst, wird das Unglück über dich hereinbrechen, denn du hast es so gewollt.« Während die Alte sprach, hatte Lara vollkommen reglos dagesessen. Nun wandte sie sich ihr langsam zu und betrachtete sie eindringlich, denn noch konnte sie ihren Worten nicht glauben. »Willst du behaupten, dass ich durch meine Gedanken meinen Lebensweg beeinflussen kann?«, fragte sie ein wenig befremdet und vergaß dabei gänzlich die erlittenen Unannehmlichkeiten. »Ganz genau. Deine Gedanken, ob positiv oder negativ, können dich in verschiedene Richtungen führen und dein zukünftiges Leben verändern. Um es dir zu verdeutlichen, will ich dir eine Geschichte erzählen: Es war einmal eine Frau, die mit ihren Töchtern in einer Hütte am Meer lebte, allein und fernab vom Fischerdorf. Die Frau schaute immerzu auf das Meer und wartete auf die Rückkehr eines Bootes. Ihre drei Brüder und ihr Mann waren vor langer, langer Zeit bei Sonnenuntergang zusammen mit anderen Fischern zum Fischfang aufgebrochen. Alle Fischerboote waren zurückgekehrt, nur das eine nicht. Da die Frau sehr an ihren Brüdern hing und ihren Mann über alles liebte, gab sie nie die Hoffnung auf ihre Rückkehr auf. Sie wollte nicht wahrhaben, dass sie verunglückt waren.