Das Jahr hatte gerade begonnen und eine Farbe wie Milchglas. Jeden Tag lief Anna eine Runde um den Block, kaufte einen Latte macchiato, dazu einen schwarzen Kaffee, jeden Tag sagte sie »zum Mitnehmen«, dann schaute sie bei Henning vorbei und stellte den Kaffee sachte neben den Kaktus. Manchmal nahm sie den leeren Becher des Vortags, während die Tastatur klackerte. Manchmal ließ sie etwas frische Luft herein, bevor sie wieder ging. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, dieses Ritual zu unterbrechen. Sie mochte Henning und sein Geschäft. Sie mochte ihren täglichen Kurzbesuch, das Geräusch der Tasten. Es hatte drei Jahreszeiten gedauert, aber inzwischen wechselten sie ab und zu einige Worte. Rituale lohnten sich. Und den Dingen Zeit zu geben.
»Wo ist eigentlich Vinka?«, fragte Henning, als Anna hereinkam, und rutschte auf seinem Stuhl ein Stück zur Seite, damit er sie am Monitor vorbei ansehen konnte. Er rückte seine Brille zurecht.
»Weg«, antwortete Anna knapp. Jetzt war es ausgesprochen.
»Das Lied ist zu Ende«, erwiderte Henning.
Anna nickte.
»Ein Jammer«, sagte er und klang bestürzt, als habe auch er etwas verloren.
»Kann ich noch bleiben?«, fragte Anna und stellte ihre Tasche ab.
»Such dir ein Buch aus«, sagte Henning, wahrscheinlich der größte Trost, den er geben konnte.
»Welches denn?« Anna schaute die bis zur Decke gefüllten Regale an, die zitternden Spinnennetze.
»Egal. Sie sind alle gut.«
Umständlich schob sich Henning aus dem Schreibtischstuhl, der so nah an der Wand stand, dass er sich nicht zurückschieben ließ.
Anna ließ ihren Blick über die Bücher schweifen.
Henning holte Luft, atmete aus. »Nimm besser zwei.«
Anna griff ein Buch und zeigte es ihm.
»Jetzt guckst du, als ob du mir das doch nicht geben willst.«
»Das habe ich tatsächlich schon lange gesucht.«
Anna überflog den Titel. »Ich stells zurück.«
»Nein«, rief Henning, »nein, schon gut.« Er fuhr sich durchs Haar. »Ich hätte es gern noch mal gelesen.«
»Ich leihe es dir«, sagte Anna. »Unglaublich«, murmelte sie.
Das zweite Buch nahm sie aus einem anderen Regal. Sie ließ den Zufall entscheiden.
»Gute Wahl«, sagte Henning. »Paul Auster. Die Musik des Zufalls, das sehe ich von hier.«
»Danke.« Anna stand mit den zwei Büchern da und nippte an ihrem Kaffee.
»Schon gut.« Als die Stille länger wurde, sagte Henning weiter: »Es gibt Wesen, die leben auf dem Meeresgrund ganz ohne Licht. In der Tiefsee.«
»Hat das jetzt irgendwas damit zu tun?«
Anna legte die Bücher neben ihre Tasche.
»Nicht direkt«, gab Henning zu und schob sich wieder hinter seinen Monitor. »Ich versuche nur, dich aufzumuntern.«
»Ach, das ist wirklich nicht nötig.« Anna machte eine abwehrende Handbewegung. Sie stand unschlüssig in der Nähe der Tür. »Kann ich dich mal was fragen?«
»Hm«, machte Henning irgendwo hinter seinem Computer.
»Möchtest du deine Bücher eigentlich verkaufen?«
Hennings Kopf tauchte neben dem Bildschirm auf. »Nicht unbedingt.«
»Ich fasse es nicht.«
»Du wolltest sicher eine ehrliche Antwort.«
»Kann ich dich noch was fragen?«
»Klar, jetzt wo wir gerade so warm werden.«
»Wie machst du das?«
»Was?«
»Wie überlebst du? Wie zahlst du deine Miete?«
»Es gehört mir«, sagte Henning.
»Du meinst, der Laden gehört dir?«
»Das ganze Haus.«
»Das ganze Haus?«
»Um genau zu sein, meiner Mutter, aber sie ist sechsundachtzig Jahre alt und gerade ausgezogen.«
Anna nickte, als verstünde sie das.
Sie überlegte, ob ausgezogen eine Umschreibung für gestorben war.
»Ich muss dann mal wieder.« Sie nahm die Bücher und ihre Tasche.
Ihr Blick fiel auf den Kaktus.
»Willst du noch einen Kaktus?«, fragte sie.
»Ja«, sagte Henning, »jetzt, wo du es sagst. Ich glaube, man sollte sie nicht allein halten.«
Anna lachte.
Die Tür fiel zu.
Nebenan schloss Anna die Glastür auf und der warme Geruch nach feuchter Erde schlug ihr entgegen, nach all den Pflanzen, die entlang des großen Fensters rankten und in die Höhe wuchsen. Sie hingen von der Decke und füllten das Fenster so komplett aus, dass man kaum hineinsehen konnte. Sie schob die Tür zu und drehte das Schild mit der Aufschrift GLEICH ZURÜCK auf OFFEN. »Pflanzen« stand auch noch darauf, und die Öffnungszeiten. Sie hatte den ganzen Tag geöffnet, außer sonntags. Da arbeitete sie ohne Störung. An den anderen Tagen saß sie oft auf einem Stuhl im Inneren des Ladens und schaute durch das Grün der Pflanzen hinaus, beobachtete das Licht, das hereinfand, die Blüten, die Blätter, die Formen, sie konnte sich nicht daran sattsehen, sie goss, sie hielt die Blätter frei von Staub, und auch die anderen Dinge, die sie außer den Pflanzen verkaufte: die kleinen Glashäuser mit den Kakteen und Orchideen, schwere Briefbeschwerer aus Glas mit Blüten wie eingefroren in ihrem Inneren, ihre Bilder und Drucke, sie beobachtete, und sie wartete auf Menschen, die hereinkommen würden. Nach und nach waren es mehr geworden. Sie verkaufte einiges, aber viele kamen auch herein, um einfach eine Weile hier zu sein. Morgens zog eine Kitagruppe draußen vorbei, mittags zurück, oft blieben die Kinder vor ihrem Schaufenster stehen, manchmal kamen sie herein, bestaunten die Wand im hinteren Teil des Ladens, die sie selbst bemalt hatte: Unzählige Pflanzen mit unterschiedlichsten Blättern schimmerten in allen Grüntönen, mit wenigen Blüten, zwischen denen nur der genaue Blick bunte Vögel und Insekten entdeckte. Das Wandbild verbarg die Tür, die in einen quadratischen Hinterhof führte. Stand die Tür offen, gab sie von innen den Blick auf den mächtigen Stamm des Kastanienbaums frei, der seine Krone weit über den bis auf die Mülltonnen leeren Hof spannte. Jetzt war er kahl, aber im Sommer war er das Schönste, was man zwischen Mauern finden konnte. Fand zumindest Anna. Wenn das Wetter es zuließ, topfte sie im Hof die Pflanzen um. Es war, als wäre Anna mit dem Baum ganz allein. Manchmal hörte sie das scharfe Geräusch, wenn die großen Mülltonnen geöffnet wurden. Manchmal sah sie Gestalten durch den Hof huschen und wieder verschwinden. Zusammen mit Vinka hatte Anna an einem Abend den Fuchs gesehen, der lautlos lief und mit einem Sprung über die Mauer verschwand. Er hatte sie auch gesehen und kam nie wieder.
Anna zog die meisten Pflanzen selbst, und wenn das Messer eine saubere Schnittkante schnitt, wenn sie die Pflanzen teilte, einpflanzte oder in Wasser stellte, erfasste sie ein ähnliches Gefühl wie beim Malen. Manchmal hörte sie Musik, aber meistens war es still hier drinnen, und Anna konnte den Atem der Pflanzen hören und den Pinsel oder den Stift auf dem Papier. Vinka hatte hier gesungen, und fast hätte Anna sich daran gewöhnt.
Heute war die Stille unerträglich und Anna machte sofort Musik an. Sie stapelte Jacke, Schal, Handtasche und Bücher auf einem Stuhl und betrachtete die mittelgroße Leinwand und das Bild, das sie am Morgen begonnen hatte, sie kochte Kamillentee, weil nur noch Kamillentee da war, übrig geblieben von einer Erkältung, und drehte die Heizung höher. Sie zündete ein paar Kerzen an, denn es dämmerte schon den ganzen Tag. Anna tauchte Pinsel in Farben, malte ein Stück leeres Jahr aus, gab der noch frischen Einsamkeit eine Farbe, sie dachte nach, hauptsächlich über Mieterhöhungen und über Vinka. Anna zog die Nase hoch. Sie hatte geglaubt, Vinka gehöre zu ihr und dass es für immer sei. Tränen liefen ihr über das Gesicht und sie wischte sie schnell mit dem Pulloverärmel weg. Sie ist nicht tot, dachte sie und schaute zur Tür, aber niemand kam, es war peinlich, ihr so hinterherzuheulen. Sie würde sie langsam vergessen. Stück für Stück. Anna rührte mit dem Pinsel in Farbe. Vieles würde sie wahrscheinlich vergessen, aber vieles niemals. Vinkas Stimme zum Beispiel. Die Farbe schäumte leicht. Und das Sonnenlicht - da war immer Sonnenlicht, aber auch die Schatten, die es schuf. Sie rührte vorsichtig weiter, damit das Licht der Erinnerung nicht erlosch. Das Geräusch von Pappeln. Und Vinkas Blick, der immer alles sah. Ein Gedanke ließ sie innehalten, Farbe tropfte. »Mist.« Sie warf den Pinsel hin und nahm die Jacke.
Sie ging vor die Tür und blies Zigarettenrauch in die Winterluft, es war so kalt, dass sie die Handschuhe aus den Taschen zog. Sie hielt die Zigarette mit Handschuhen, die Stadt leuchtete in der Dunkelheit. Von Henning nebenan war nichts zu sehen, nur seine Bücher in Bananenkisten, die er vor seinen Laden stellte. Henning war länger hier als alle. Die anderen Geschäfte der Straße waren neu und modern, manche hießen »Pop up«, und wenn sie gingen, kamen andere nach, erleuchtete Boutiquen mit schönen Dingen, Henning war der Einzige mit alten und staubigen Dingen. Anna fragte sich, ob er überhaupt von den anderen Läden wusste, ob er gemerkt hatte, wie sehr dieses Kreuzberger Viertel sich um ihn herum verändert hatte. Er war derselbe geblieben, aber die Zeit hatte ihn schleichend zur Rarität gemacht. Er schien nicht viel Notiz davon zu nehmen und vermutlich nicht allzu gut zu sehen durch seine dicken Brillengläser. Er brauchte keine Boutiquen. Er trug das ganze Jahr dasselbe: braune Hosen, braune Pullover, Turnschuhe. Jedenfalls seit letztem Sommer, als Anna neben ihm eingezogen war.
»Ein Blumengeschäft?« Er hatte sie angeschaut, als sei sie die Rarität.
»Ich verkaufe nur Topfpflanzen«, hatte sie geantwortet. »Keine Schnittblumen. Hauptsächlich Zimmerpflanzen.«
»Pflanzen und Bücher, das verträgt sich ganz gut«, hatte er gesagt. Anna hatte sich in seinem Laden umgesehen, aber außer Büchern und Papier nichts entdecken können. Keine Pflanzen, die sich mit den Büchern vertrugen.
»Hättest du gerne eine?«, hatte Anna gefragt.
»Wenn ich was mit Pflanzen zu tun haben will, gehe ich in den Park.«
Später brachte sie ihm einen kleinen Kaktus und ein selbst gedrucktes Lesezeichen. »Gibts ja nicht im Park.«