1. AUF DEN EIGENEN FÜSSEN
SOPHIE VON LA ROCHE
Wenn ich das Wort »wandern« höre, habe ich immer eine bestimmte Szene vor Augen: eine Figur in dunkler Jacke auf den schroffen Felsen eines Gipfels, man sieht nur ihren Rücken, blickt auf gewaltige Nebelschwaden; sie scheint über den Wolken zu schweben, voller Ehrfurcht und Staunen über die Kräfte der Natur - aber auch über ihre eigenen, die sie auf diesen Berg getragen haben. Das Bild, das ich meine, hängt in keiner Galerie, es war lange Zeit auf meinem privaten Facebook-Profil zu finden, und es zeigt mich auf einer mehrtägigen Wanderung durch die schottischen Highlands. Die Stunde, bevor dieses Foto gemacht wurde, hatte ich damit verbracht, aus dem Tal von Glencoe, wo ich in einem durchnässten Zelt übernachtet hatte, in die umliegenden Berge hinaufzusteigen. Der Aufstieg trägt den Namen Devil's Staircase. Es handelt sich aber nicht wirklich um eine Treppe, sondern um einen schmalen Geröllpfad, der sich in atemberaubendem Zickzack zwischen den glatten Felsen emporwindet. Als ich oben angekommen war, gab es keinen Fetzen Stoff mehr an mir, der nicht schweißdurchtränkt war. Der Ausblick machte alles vergessen. Eine einmalige Erfahrung, festgehalten in einem Foto, das ein Bekannter mit den Worten »Wanderin über dem Nebelmeer« kommentierte.
Ich weiß nicht mehr, ob ich damals in den Highlands, während ich darauf wartete, dass meine Beine zu zittern und das Blut durch meinen Kopf zu pumpen aufhörten, auch an Caspar David Friedrich und sein berühmtes Gemälde dachte. Es würde mich wundern, wenn ich überhaupt in der Lage gewesen wäre, einen klaren Gedanken zu fassen. Vor allem spürte ich in diesem Moment die Stärke des Berges in mir, empfand Demut und realisierte, dass mein Körper genau für diese Art von Verausgabung gemacht war. Das war eine neue Erfahrung für mich. Obwohl ich auf dem Land aufgewachsen war, nahm meine Karriere als Stubenhockerin schon früh ihren Lauf. Irgendwann zwischen Grundschule und Gymnasium, ungefähr in der Zeit, als ich aufhörte, reiten zu gehen, vollzog sich meine Metamorphose zum Buch-Nerd. Ich verschanzte mich mit der monatlichen Ration Lesestoff aus der Bibliothek in meinem Zimmer und bekam nicht mehr allzu viel mit von der Welt draußen. Meine Teenagerzeit hindurch empfand ich jegliche Form körperlicher Anstrengung als Zumutung und verließ die wohltemperierte elterliche Wohnung im Mehrfamilienhaus nur, wenn es unbedingt notwendig war. Als ich mit achtzehn aus der Provinz nach Berlin zog, um in meinem Literaturstudium endlich all die Bücher lesen zu können, die es in unserer kleinen Kreisbibliothek nicht gab, fiel es mir nicht schwer, in das klassische Großstadtleben einzutauchen. Wie gewohnt verbrachte ich den Großteil meiner Zeit in geschlossenen Räumen, in der WG, im Hörsaal, im Büro; in der Freizeit kamen immerhin Cafés, Literaturkneipen und Clubs hinzu, und manchmal ging ich sogar im Park joggen. Wege legte ich in der Regel mit U- und S-Bahn zurück. Der einzige Unterschied zu meinen Großstadtbekannten war, dass ich zu ihrer Verwunderung Strecken zu Fuß ging, für die sie den Bus nahmen. Die Idee, mir Wanderstiefel anzuziehen, in die Berge zu fahren und bei jedem Wetter auf einer Isomatte in einem winzigen Zelt zu schlafen, lag weit außerhalb meiner Vorstellung, allein schon, weil ich es mir körperlich nie zugetraut hätte. Erst als ich anfing, für meine Doktorarbeit über Naturerfahrungen in der britischen Literatur zu forschen, ein Thema, zu dem mich über Umwege mein Auslandssemester in Edinburgh gebracht hatte, wurde mir klar, dass ich das, worüber ich die ganze Zeit las, eigentlich selbst tun wollte. Schließlich hatte ich schon früher alle Erzählungen geliebt, in denen Leute auf Wanderschaft gingen: Den Hobbit verschlang ich ebenso wie die Bücher von Hermann Hesse, und sogar bei Goethes und Eichendorffs Naturlyrik geriet ich in Entzücken. Auch von Caspar David Friedrichs Landschaften mit ihren einsamen Männlein konnte ich eine Zeit lang nicht genug bekommen.
»Männlein« sagt schon alles: Heute, nachdem mein unermüdlicher Lesehunger mich auch mit feministischer Literatur in Berührung gebracht hat, frage ich mich, ob es wirklich allein an meiner fehlenden körperlichen Robustheit, meiner Persönlichkeit oder der familiären Prägung lag, dass ich nicht früher auf die Idee gekommen bin, wandern zu gehen. Ich befürchte, mir fehlten auch die weiblichen Vorbilder. Es machte eben doch einen Unterschied, dass das berühmteste Wandergemälde einen Mann zeigt. Zwar konnte ich mich beim Lesen problemlos in den jeweiligen Wanderer hineinversetzen, doch fehlte es mir offenbar an Vorstellungsvermögen, daraus zu schlussfolgern, auch als Frau das Gelesene ja in die Tat umsetzen zu können. Die Natur, lernte ich aus den Büchern, die ich las, und den Bildern, die ich in Katalogen oder auf Werbeplakaten sah, war ein Ort für Männer, die wahlweise mit Gehrock und Wanderstab auf Bergen oder mit Cowboyhut und Emaille-Tassen am Lagerfeuer posierten. Es war also höchste Zeit, dass ich mir meine eigene Emaille-Tasse kaufte, einen Wanderführer für den West Highland Way von Glasgow nach Fort William besorgte und mir von einer Freundin, die drei Wochen durch den Himalaja gelaufen war, das Packen von Trekkingrucksäcken erklären ließ. Ein Busticket nach Schottland, 170 Wanderkilometer und zahlreiche Blasenpflaster später war mir das Wandern buchstäblich in Fleisch und Blut übergegangen. Seitdem konnte ich nicht mehr damit aufhören.
Fünf Jahre danach, kurz nach meinem dreißigsten Geburtstag, fand ich mich von einem Tag auf den anderen in einem Zustand vollkommener Orientierungslosigkeit wieder. Meine literaturwissenschaftliche Doktorarbeit, die mich die zweite Hälfte meiner Zwanziger hindurch beschäftigt und enorme Kraft gekostet hatte, war verteidigt und auf dem Weg der Veröffentlichung. Und meine Zeit in der Wissenschaft damit endgültig vorbei. Die Welt der Hörsäle und Bibliotheken hatte mir eine Weile Sicherheit gegeben, mich mit ihren Arbeitsbedingungen aber zunehmend erschöpft. Zwischen der Abgabe der Doktorarbeit und ihrer Verteidigung war ich in meinen ersten Job in der »echten« Arbeitswelt gestartet und, wie ich meinte, prompt an den Überbleibseln meiner akademischen Verkopftheit gescheitert. Wie eine Person, die zielstrebig in ein anderes Zimmer geht und dabei vergisst, was sie da eigentlich tun wollte, hatte ich in den vergangenen Jahren all diese Schritte, die vielleicht einmal eine Karriere hätten werden können, in strammem Tempo und mit festem Glauben, ein Ziel vor Augen zu haben und alles richtig zu machen, absolviert, um festzustellen, dass ich mit einem Mal nicht mehr wusste, wohin ich eigentlich wollte - eben nicht nur in meinem Berufs-, sondern auch im übrigen Leben. Die Situation versetzte mich in Panik. Auf einmal war ich zu der verirrten Frau geworden, vor der ich mich zeitlebens gefürchtet hatte.
Eine Coachin, die mich bei der beruflichen Neuorientierung unterstützte, stellte in einem Nebensatz fest, dass für mich der Weg interessanter sei als das Ziel. Sie sagte es auf eine Art, die den Eindruck vermittelte, dass das etwas Gutes oder zumindest nichts Verwerfliches sei. Nachdem ich mein Leben lang in jede Bewerbung das Wort »zielstrebig« geschrieben hatte, war meine Verblüffung über diese Aussage groß. Wenn ich allerdings daran dachte, wie ich das Wandern für mich entdeckt hatte, war die Beschreibung durchaus treffend. In Schottland hatte ich festgestellt, dass es nichts Schöneres für mich gab, als im Tempo meiner Schritte unterwegs zu sein und nicht zu wissen, was sich hinter der nächsten Wegbiegung verbarg oder wo ich schließlich ankommen würde. Ich liebte das Gefühl, in das mich der Rhythmus der Schritte versetzte, wenn ich mehrere Stunden gegangen war, es war wie Fliegen, nur dass mich nicht die Luft, sondern die feuchte, schwere Erde unter meinen Sohlen und die Brombeeren am Wegrand trugen. Mein Gehirn schüttete nur noch Reime und Serotonin aus. Ich war süchtig nach diesem Zustand.
Mit den Worten meiner Coachin kam dem neu entdeckten Hobby eine ganz neue Bedeutung zu. Verbarg sich hinter dem Wandern, der Freude am Weg und vielleicht auch am Umweg, noch mehr? Ein Lebensentwurf? Eine allgemeine Einstellung, ein Blick auf die Welt, der mir womöglich helfen konnte, meiner Orientierungslosigkeit zu entkommen? Und warum beunruhigte mich eigentlich das Bild der verirrten Frau so? Ich begann, mich das erste Mal ernsthaft mit meiner Wanderleidenschaft zu beschäftigen und die Verbindung nachzuvollziehen zu meiner frühen Liebe für Wanderliteratur und Spaziergänge. Während meine Coachin mich Stellenbeschreibungen für meinen Wunschjob schreiben ließ, um mich wieder mit meiner Fähigkeit zu träumen zu verbinden, die mir in den letzten Jahren offenbar abhandengekommen war, formte sich heimlich eine ganz andere Idee in meinem Kopf: Ich wollte die Wanderin in mir besser kennenlernen. Dafür musste ich mich auf den Weg machen zu ihren Ursprüngen - und das waren nicht nur meine eigenen, sondern praktischerweise auch die von Effi Briest. Deren Beispiel verriet mir nämlich etwas über die Frauen und das Wandern oder besser: die Frauen, das Wandern und die Gesellschaft. In seinem nach der Hauptfigur benannten Romanklassiker Effi Briest erzählt Fontane, der Liebling aller Deutschlehrerinnen, die Geschichte einer jungen Adeligen vom Lande, die versucht, einer unglücklichen Ehe zu entfliehen, eine Affäre beginnt und alles verliert. Die Romanidee lieferte eine Klatschgeschichte über den Ehebruch Elisabeth von Plothos, die der Schriftsteller im Salon Emma Lessings in Berlin gehört hatte.