PROLOG
SAL, KAPVERDISCHE INSELN - OKTOBER 1994
Acht Stunden blieben ihm noch. Dann würde sein Flieger RichtungHamburg abheben. Acht Stunden, in denen er überlegen konnte, ob ererneut einen Neuanfang starten wollte. Der Zeitpunkt schien ideal undlange herbeigesehnt. »Mit spätestens fünfundfünfzig machst du nur nochdas, was dir Spaß macht«, hatte er immer gesagt. Und nächstes Jahr, imSommer, würde er fünfundfünfzig. Im fernen Hamburg müsste er nurnoch seine Sachen zusammenpacken, sich verabschieden. Von seinen Bekannten,seinen Freunden, seiner Freundin. Sie wäre für dieses Abenteuernicht zu begeistern gewesen, das wusste er. Das hatte er schon immer gewusst.
Die Sonne brannte erbarmungslos auf den feinkörnigen hellenSandstrand, als Peter das Inseltaxi verließ und gedankenversunken dienächste Strandbar ansteuerte. Dass er dabei rhythmisch zur Musik derEinheimischen tänzelte, bemerkte er schon gar nicht mehr. So hatte er sichan seine neue Heimat gewöhnt. Hier auf Sal tanzte jeder. Seine 262 EscudosWechselgeld fest in der Hand, dachte er: Das genügt für acht Stunden,und freute sich auf entspannte Bierchen mit gebratenem Fisch.
Die Strandbar war noch leer. Alle Tische waren frei, sodass er sicheinen in der hinteren Ecke suchte. Es war der einzige, der noch im Schattenstand. Zufrieden gab Peter bei einer Inselschönheit seine Bestellungauf und genoss die Aussicht. Dann füllten sich von einer Sekunde zuranderen die Tische. Entweder musste ein Reisebus Bleichgesichter angekommensein oder in einer benachbarten Hotelanlage war ein Sportkurszu Ende gegangen. Er schaute sich um und aß die letzten Stückeseines Thunfischsteaks, als er am Nachbartisch deutsche Gesprächsfetzen vernahm. Den Dialekt erkannte er sofort. Zur Begrüßung erhob er seinBierglas.
Es war bereits sein zweites Glas. Die drei Urlauber, die offenbar gerade erstangereist waren, hatten den Sportkurs noch vor sich. Sie hoben ebenfallsihre Biergläser und signalisierten mit einer Handbewegung, er möge ihnendoch Gesellschaft leisten. Er schlang den letzten Bissen hinunter, nahmsein Bier und gesellte sich zu den Deutschen.
»Ich bin Peter und nein, ich mache keinen Urlaub hier«, klärte er diedrei auf, die sich als Andreas, Wolfgang und Hans vorstellten. »Im Gegenteil.Ich werde in wenigen Wochen hierher auswandern. Muss nur nochzuhause alles abschließen.«
Ungläubiges Schweigen auf der anderen Seite des Tisches.
»Gestern Abend erst«, fuhr Peter fort, »habe ich das Angebot erhalten,auf einer Nachbarinsel eine Lodge zu übernehmen und Angeltouren fürTouristen zu organisieren.« Er strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.»Angeln Sie?«
Die drei verneinten.
»Da entgeht Ihnen aber was. Ich liebe das Hochseefischen, vor allemdie Marline. Die sind seit jeher meine Leidenschaft. Meine Arztpraxis inHamburg ist bereits verkauft.«
Die Touristen, die tatsächlich gerade für zwei Wochen Pauschalurlaubauf der Insel angekommen waren, hörten Peter fasziniert zu, beeindrucktvor so viel Energie und Mut. Vom Arzt zum Angler. Chapeau! Das würdeihm keiner so schnell nachmachen.
»Mein Vater hat immer gesagt«, schmückte Peter weiter aus, »es kommeim Leben auf drei Dinge an: Freude an der Arbeit, Kompromissbereitschaftund ausreichend Freizeit.«
Die drei Urlauber stimmten ihm zu.
»Ich sehne mich immer noch nach grenzenloser Freiheit. Ich kann garnicht genug davon bekommen.«
»Das kennen wir gut«, bestätigte das graumelierte Bleichgesicht, dassich als Andreas vorgestellt hatte.
»Sie kommen auch aus Norddeutschland?«, fragte Peter in die Rundeund trank von seinem Bier.
»Ja, aus Rostock in Mecklenburg-Vorpommern. Deshalb können wirIhren Wunsch nach Freiheit mehr als nachvollziehen«, warf Wolfgang, dasleicht untersetzte Bleichgesicht zur Linken, dessen Mundwinkel beim Zuhörendie ganze Zeit rege auf und ab zuckten, ein. »Noch vor fünf Jahrenhing der Eiserne Vorhang zwischen uns und unseren Träumen. Und genaudiese versuchen wir jetzt nachzuholen. Deswegen sind wir hier.« Wolfganghob sein Bierglas. »Hätte uns jemand im Sommer neunundachtzig gesagt,dass wir fünf Jahre später auf den Kapverdischen Inseln zusammen miteinem Auswanderer ein wässriges Bier trinken würden, wir hätten ihn fürverrückt erklärt. Am Balaton - klar. Aber hier?«
Peter verschluckte sich und grätschte dazwischen.
»Aus Rostock? Das ist verrückt! Ich komme auch daher. Bin in Rostockgeboren und habe lange dort gelebt«, sagte er und wischte sich mit derServiette den Mund ab. »Bis ich schließlich einundsiebzig die DDR verlassenhabe.«
»Verlassen habe?«, fragte Andreas leise, während er sich nervös rechtsund links umschaute. Auch nach fünf Jahren Mauerfall sank er bei gewissenThemen abrupt seine Lautstärke und hielt nach Stasi-Spitzeln Ausschau.
»Ja«, antworte Peter ebenso leise.
»Wie denn?«
»Geschwommen. Bin geschwommen. Von Kühlungsborn nach Fehmarn.«
Nun wurde der Graumelierte ernst und nachdenklich. Mit seiner rechtenHand fasste er sich über seine runzelnde Stirn.
»Einundsiebzig, sagten Sie?«
»Ja, richtig. Im Juli.«
»Ich glaub's nicht«, flüsterte Andreas und schlug Wolfgang und Hansauf die Schultern. »Das ist er! Das ist der Kerl!«
Wolfgang und Hans schauten einander ratlos an, als Andreas um denTisch zu Peter ging und triumphierend sagte:»Dann müssen Sie der Arzt Peter Döbler sein!«
Peter verschluckte sich erneut an seinem Bier. Nun half auch keineServiette mehr - sein Hemd war hin. Wie ferngesteuert stand er auf undließ sich von Andreas drücken, einmal, zweimal. Die anderen verstandenallmählich, was ihr Freund Andreas gerade angedeutet hatte.
»Ja, ich bin Peter Döbler. Aber woher kennen Sie meinen Namen?Haben Sie über mich in den Zeitungen gelesen? Dachte nicht, dass dieDDR das damals an die große Glocke gehängt hätte.«
Andreas löste die Umarmung, ging einen Schritt zurück und mustertePeter von oben bis unten, als wolle er sich vergewissern, dass er wahrhaftigvor ihm stehe. Er schüttelte ungläubig den Kopf.
»Ich bin der Mann, der an diesem Abend einundsiebzig den Befehlerhielt, Sie zu suchen«, sagte er. »Sie waren republikflüchtig. Wir suchtenSie mit einem Großaufgebot an Kampfschwimmern und Grenzbooten.Ich war der Einsatzleiter. Hätten wir Sie gefunden, wären Sie drei oder vierJahre in den Bau gegangen.«
Stille.
Peter lief ein kalter Schauer über den Rücken. 6.000 Kilometer von derHeimat entfernt auf einer kleinen Insel in einer noch kleineren Strandbarim Atlantischen Ozean. Ausgerechnet hier traf er auf den Mann, den er indieser Nacht 25 Stunden lang im Nacken gespürt, dessen Schatten ihn inAngst versetzt und selbst Jahre später noch in seinen Alpträumen verfolgthatte.
Er musste sich setzen, nachdenken und versuchen, das Gehörte zu verarbeiten,während seine Finger nervös mit der Tischkante herumspielten.Er fühlte sich in ein Vakuum hineingezogen. Alles verstummte. Doch dieserZustand währte nicht lange, denn plötzlich suchte ihn die bohrende Frage heim, die ihn immer und immer wieder gequält hatte. In Sekundenschnellelief die Flucht vor seinem geistigen Auge ab. Suchscheinwerferzu Land, Suchscheinwerfer zu Wasser, Schnellboote, Schießbefehl. PetersMund wurde trocken, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, sein Gesichtverhärtete sich. Er trank einen Schluck von seinem Bier. Dann beugte ersich zu Andreas über den Tisch, der sich wieder hingesetzt hatte, und fragtemit zittriger Stimme:
»Hätten Sie . auf mich . geschossen?«