"Ich habe bald Geburtstag", raunt Julia mir zu und macht sich noch ein bisschen breiter in der Zweierbank, die sie mit mir teilen muss. "Ganz bald."
Ich nicke überrascht. Seit heute sitze ich neben Julia. Das hat sie sich nicht ausgesucht, das habe ich mir nicht ausgesucht. Und ich habe nicht damit gerechnet, dass sie mit mir reden würde. Julia sitzt ja nicht freiwillig auf diesem Platz neben mir. Niemand setzt sich aus freien Stücken neben mich.
Das ist so eine Idee unseres Klassenlehrers. Er findet es toll. Da ist er zwar der Einzige, aber das scheint ihn nicht zu kümmern.
Als wir am Schulanfang die Klasse betraten, standen die Tische nicht, wie bisher, in vier Gruppen im Klassenraum verteilt, sondern schnurgerade in Reihen hintereinander. Immer zwei Tische zusammen, einen Abstand nach allen Seiten dazwischen und dann die nächsten beiden.
"Wie altmodisch ist das denn?", rief Paul genervt.
"Ich sitze dort." Julia zeigte auf die mittlere Reihe. "Und du darfst neben mir sitzen." Sie meinte Kirstin. "Und Gül mit Nadine vor uns und Paul und Ferenc hinter uns. Das wird lustig."
Julia schafft es, aus allem das Beste zu machen, solange sie bestimmen kann.
Sie steuerte ihren Platz an, aber der Lehrer bremste sie. "Jeder wird einmal neben jedem sitzen", verkündete er eine Spur zu fröhlich.
Viele murrten.
"Was?"
"Nein."
"Wir haben es uns schon in den Ferien ausgemacht."
Einige flüsterten sogar laut genug, dass ich es hören konnte: "Auch neben der?"
Der Lehrer hatte das überhört, obwohl er genauso gut wusste wie ich, wer mit "der" gemeint war.
"So hat jeder und jede die Chance, alle anderen besser kennen zu lernen", meinte er. "Ihr werdet merken, wie schön das für die Klassengemeinschaft ist."
Damit war klar gesagt, dass alle Schüler es gut finden sollten, Woche für Woche wie Spielfiguren auf einem Brett hin- und hergeschoben zu werden.
Genauso wenig schien er zu bemerken, dass sich in jeder Pause alle in ihren üblichen Grüppchen zusammendrängten, und dass es nur um meinem Platz leer blieb, als wäre ich ein Magnet, der alle abstieß, als könnte ich andere mit Unbeliebtsein anstecken.
Vielleicht hofft er, dass mit seiner "Platzwechsel-damit-wir-uns-alle-besser-kennenlernen-Methode" irgendwann jemand auch mal in der Pause "neben der" sitzen bleiben wird. Dass einer der einundzwanzig anderen plötzlich entdeckt, wie toll es ist, neben Jana sitzen zu dürfen.
Eher fällt der Mond vom Himmel.
Deshalb bin ich jetzt so überrascht, dass Julia mir tatsächlich etwas zugeflüstert hat. Bei den früheren Sitznachbarn hatte ich immer das Gefühl, neben einem dieser Schaufensterpuppenkinder zu sitzen. Mit dem Unterschied, dass Schaufensterpuppen immer gleich gelangweilt lächeln, während ich, wenn überhaupt, nur mit kurzen, bösen Blicken bedacht werde.
Das einzige verlässliche Lächeln, das mich unabsichtlich streift, ist jenes am Montag in der Früh, wenn der Lehrer die Plätze neu verteilt und das Kind, das eine Woche lang neben mir sitzen musste, erleichtert aufsteht.