Dita (Wien, 1848)
Ein kurzes, scharfes Klirren, dann ist die Scheibe zerbrochen. Gekonnt greift Georg durch das Loch, öffnet die Tür und schlüpft in den dunklen Raum. Dita holt aus ihrem Mantel die beiden großen Säcke, gibt einen davon Georg und beginnt, die Lebensmittel hineinzustopfen. Kartoffeln, Bohnen, Getreide ganz unten. Darauf geschichtet zwei Laib Brot, Äpfel und ein großes Stück Käse. Georg hält ihr eine Wurst hin, sein Schmatzen dringt durch die Dunkelheit.
»Nur keine Hast«, flüstert Dita, bevor sie von der Wurst abbeißt. Fett. Salz. Würze. Es durchfährt ihren ganzen Körper. Wie lange ist das her? Zu Weihnachten zwei kleine Stücke Fleisch in der Mehlsuppe. Zu Ostern ein gekochtes Ei. Georg winkt ab. Wenn er mit Holzspänen gemischtes Brot verträgt, und nichts anderes hatten sie seit dem letzten Hungerwinter gegessen - Hungerwinter, Hungerfrühling, Hungersommer, Hungerherbst -, was sollte ihm dann das bisschen Wurst anhaben? Soll er sich den Magen am Fett verderben.
Dita schleift ihren Sack ans andere Ende des Regals. Wie oft ist sie in dem Laden gewesen, hat die auf den Regalbrettern gelagerten Lebensmittel angesehen, sich den Geschmack einer nicht verfaulten Kartoffel, eines nicht gestreckten Brotes oder eines Apfels vorgestellt und sich dann missmutig aus dem Geschäft hinausgestohlen. Sie streckt sich und greift nach einem Riegel Butter, schabt mit dem Finger ein großes Stück ab, lässt es auf der Zunge zergehen. Vor dem Laden sind Schritte zu hören. Georg wirft sich auf den Boden, Dita macht es ihm nach. Die Schritte verlaufen sich, es ist wieder ruhig. Georg deutet Richtung Tür und ist verschwunden. Dita bindet den Sack zu, legt ihn sich auf den Rücken und zwängt sich durch den Spalt hinaus. Ein Kanonenschuss zerreißt die Stille. Die Gasse ist plötzlich gleißend hell, Flammen schlagen aus der Fabrik. Georg liegt ausgestreckt auf dem Boden, während sich Dita starr gegen die Hauswand drückt. Schreie.
Dita ist siebzehn. Der Hungerwinter 1847/1848 hat sie aus ihrem Dorf in Mähren in die große Stadt getrieben. Sie ist bei der Fabrik von Ignaz Mack untergekommen. Zufällig. Dort hat sie Georg getroffen. Die Revolution hat beide aus ihrem Trott gerissen. Dita befeuert, Georg verängstigt. Der Hunger hat ihnen Beine gemacht, ließ sie bei den Demonstrationen mitmarschieren. Dita hat mit den Herren Studenten mitskandiert: »Pressfreiheit! Constitutio! Abschaffung der Zensur! Aufhebung der Grundherrschaft!« Georg hat nichts davon verstanden. Aber Dita hat jedes Wort gelebt. »Etwas zu essen und einen trockenen Schlafplatz«, das wollte Georg schreien. Stattdessen haben sie alle gesungen: »Was kommt dort von der Höh«.
Dita löst sich als erstes aus der Erstarrung. Sie zieht den schweren Sack fester auf den Rücken und deutet Georg, weiterzugehen. Georg greift nach seinem Sack, rappelt sich vom Pflaster hoch und drückt sich hinter Dita die Hauswand entlang. Unablässiges Kanonengrollen - rücken die Truppen näher, rücken sie weiter weg? So geht das jetzt schon ein halbes Jahr, Menschenmassen werden beliebig in Himmelsrichtungen gespült, von Polizei, Soldaten und Hunden gepresst, tröpfeln wieder auseinander, Gewehrschüsse beim Prater, Kanonenschüsse auf die Stadt, brennende Fabriken, geplünderte Läden in den Vorstädten, die rechte Hand findet nur mühsam die linke, alles atemlos und klandestin. In ihren Buden flüstern die Studenten, während sich Dita und die anderen in der Fabrik Zeichen geben, hastig, ungenau.
»Duck dich doch hinter die Barrikade, du Idiot!«