Der Boden erzitterte. Ein schriller Ton durchzog den Raum. Danach Stille. Alle hielten die Luft an. Ihre Lunge brannte, aber Miri konnte sich nicht erinnern, wie sie Luft holen sollte. Die roten Signallampen leuchteten erbarmungslos durch ihre geschlossenen Lider. Wieder ein Piepsen. Dann der Fall ins Bodenlose. Jetzt war es so weit. Gleich würde sie sterben. Eine Welle der Panik überrollte sie. Und da war noch etwas. Angst. Bedauern. Sie war nicht vorbereitet. Es gab noch so viel, was sie erleben wollte. Ziele, die sie erreichen wollte. Musste. Ein dumpfer Schmerz ließ sie aufschreien. Für einen kurzen Moment blinzelte sie. Die Nägel ihrer Sitznachbarin gruben sich in ihren Unterarm. Wie hieß sie noch gleich? Namen, die zur Begrüßung ausgetauscht wurden, hatte sie sich noch nie merken können.
Der Boden zitterte erneut. Dann ein Schlag, als hätte jemand von unten gegen ihre Füße getreten. Allmählich hielt sich die Kabine wieder in der Waagerechten, doch noch traute Miri der Ruhe nicht.
Seit sie den Flughafen in Köln verlassen hatten, wurde das Flugzeug von einem Luftloch ins nächste gesogen. Immer wieder schrillten Durchsagen durch die Kabine, dass es starke Turbulenzen gebe und alle unbedingt auf ihren Plätzen bleiben sollten.
Als ob ich bei dem Schaukeln vorgehabt hätte, mich auf den Weg zum Klo zu machen.
Wobei sich ihre Blase tatsächlich schon seit einiger Zeit bemerkbar machte. Vor Aufregung hatte Miri am Flughafen drei Flaschen aus ihrem Maracuja-Smoothie-Vorrat hintereinander getrunken. Ihr war ganz flau im Magen. Aber das lag nicht nur an der Kombination aus Fruchtzucker und Luftlöchern. Sie war im Begriff, etwas Großes zu tun. Drei Wochen Málaga. Das war nicht einfach ein Urlaub, bei dem sie sich die andalusische Sonne auf den Bauch scheinen lassen und von einem Tapas-Restaurant zum nächsten schlendern würde - wobei das natürlich ein schöner Nebeneffekt sein könnte und sie sich auf jeden Fall durch die spanische Küche probieren wollte. Aber sie war auf dem Weg an die Costa del Sol, um endlich ihren Kindheitstraum wahr werden zu lassen. Ein warmer Schauer lief über Miris Rücken, als sie daran dachte und vertrieb den Rest ihrer Panik. Seit sie denken konnte, hatte sie davon geträumt, Profisportlerin im Beachvolleyball zu werden. Und in den nächsten drei Wochen würde sich entscheiden, ob dieser Traum endlich Wirklichkeit werden würde.
Miri holte tief Luft und war erleichtert, dass sich ihre Lungen endlich wieder anständig mit Sauerstoff füllten. Sie hatten die Schweizer Alpen hinter sich gelassen und die Wolkendecke unter ihr, die von der Sonne angestrahlt wurde, sah aus wie ein riesiger Wattebausch, den jemand auseinandergerupft hatte. Sie lehnte ihren Kopf an die kalte Glasscheibe. Miri hätte stundenlang so aus dem Fenster schauen und ihren Gedanken freien Lauf lassen können. Hier oben fühlte es sich an, als wäre das reale Leben ganz weit weg. Man hatte irgendwie einen besseren Überblick über sein Leben. Und leider auch einen besseren Zugang zu seinen Gefühlen - etwas, was Miri eigentlich um jeden Preis vermied. Als sie sich in der Kabine umsah, war sie überrascht, dass keine einzige Person aus dem Fenster schaute. Alle waren zu sehr damit beschäftigt, auf ihre Handys und Laptops zu starren, beantworteten Nachrichten oder guckten Filme. Miri schüttelte den Kopf und schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte. Die Sonne tauchte die oberste Wolkendecke jetzt in ein zartes Orange.
Vor vier Wochen war plötzlich die Anfrage von Julian Andersen gekommen, ob Miri bei einem Trainingscamp für die Beachvolleyball-Meisterschaften dabei sein und während ihrer Zeit in Málaga mit ihm zusammen ein Mixed-Turnier spielen wollte. Seine Spielpartnerin hatte sich das Bein gebrochen und würde für das Turnier und das Trainingscamp ausfallen. Bei dem Camp waren zwar nur die besten deutschen Nachwuchstalente dabei, aber beim Turnier würden sie auch auf internationale Paare treffen.
Miris Haut fing immer noch an zu prickeln, wenn sie daran dachte, wie Manni, ihr Trainer, sie nach einem Spiel beiseitegenommen hatte. Manfred war Mitte fünfzig, hatte zwar einen Körper wie ein Bodybuilder, aber eine Ausstrahlung wie ein Rentner auf Beruhigungsmittel. Mit tiefer, ruhiger Stimme hatte er ihr erst von der E-Mail und dann von dem Telefonat berichtet, das er am Vortag mit dem Manager des Sportlers geführt hatte. Aus seinem Mund hatte es geklungen, als würde er ihr vom letzten Hundespaziergang seiner Nachbarin erzählen. Die monotone Art, wie er ihr den Wortwechsel beschrieben hatte, hatte keinen Hinweis darauf gegeben, was er selbst davon hielt. Miri hingegen hatte angefangen zu quieken und war vor Aufregung mehrmals im Kreis gehüpft. Sie hatte sich erst wieder zusammenreißen können, als sich einige Zuschauer, die gerade im Begriff gewesen waren, die Halle zu verlassen, zu ihr umgedreht und sie argwöhnisch gemustert hatten. Julian Andersen, der heißeste Typ, den man sich vorstellen konnte, und einer der vielversprechendsten Anwärter auf den Profivolleyball in Deutschland, der einen Preis nach dem anderen absahnte, wollte mit ihr spielen? Sie konnte es kaum fassen. Das musste ein Wink des Schicksals sein. Nicht dass sie an so was glauben würde. Aber das war einfach zu wundervoll, um wahr zu sein.
Jemand tippte ihr sanft auf die Schulter und Miri zuckte zusammen. Eine Stewardess schaute sie fragend an und sah aus, als warte sie auf eine Antwort. »Wie bitte?«, fragte Miri und erntete einen genervten Blick aus zwei perfekt geschminkten Augen, die Ähnlichkeit mit denen einer Katze hatten. Anscheinend war sie so in Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie das Kabinenpersonal begonnen hatte, Essen auszugeben. Noch so eine Sache, die sie immer noch nicht fassen konnte: Julian hatte darauf bestanden, für sie die Flugtickets zu bezahlen, und hatte für sie prompt ein Ticket in der Business Class gebucht - wahrscheinlich würde sonst auf einem dreistündigen Flug gar keine Verpflegung angeboten. Ein bisschen fehl am Platz kam sich Miri schon vor. Aber insgeheim genoss sie das Gefühl, sich wichtig vorzukommen - was sich, wie sie fand, automatisch einstellte, wenn man als einer der Ersten das Flugzeug betreten durfte und auf der anderen Seite des Vorhangs saß.
»Und?«, fragte die Dame mit den Katzenaugen erneut und tippte dabei ungeduldig mit dem Finger auf den Wagen.
Miri hatte schon wieder vergessen, was sie gesagt hatte, was es zu essen gab. »Das Vegetarische, bitte«, sagte sie schnell. Sie war sich nicht sicher, ob ihr Magen sich von der Kombi aus Smoothie und Achterbahnfahrt schon wieder erholt hatte. Als sie den Deckel anhob und Nudeln mit grüner Soße, die wohl als Pesto durchgehen sollte, erblickte, bereute sie ihre Wahl. Die Frau neben ihr packte währenddessen ein Hähnchenfilet mit Kartoffelecken aus.
Na toll. Vegetarisch ist bei den Schönen und Reichen wohl nicht so angesagt.
»Urlaub oder Familie?«, kam es schmatzend vom Nachbarsitz.
»Was?«, fragte Miri etwas überrumpelt, während sie versuchte, ein paar Nudeln auf ihre Gabel zu befördern und von der übrigen klebrigen Masse zu trennen.
»Machen Sie Urlaub oder haben Sie Familie in Spanien?«, wiederholte die Frau, nachdem sie einen großen Bissen Hühnchen heruntergeschluckt hatte.
Miri fragte sich, ob ihre Sitznachbarin sich dafür entschuldigen würde, dass sie ihr noch vor wenigen Minuten ihre scharfen Fingernägel in den Arm gerammt hatte. Sie spürte immer noch das Brennen an ihrem rechten Unterarm und die Stelle war stark gerötet. Aber wahrscheinlich hatte die Dame so unter Adrenalin gestanden, dass sie gar nicht bemerkt hatte, wie sie sich an Miri geklammert hatte.
Miri schob den Gedanken beiseite. »Weder noch. Ich bin aus ... beruflichen Gründen hier.« Sie zögerte und war sich nicht sicher, ob sie bereit war, ihre Pläne mit einer wildfremden Person zu teilen. Noch dazu jemandem, der beinahe meinen Arm enthäutet hätte.
Sie überlegte, wie sie sich unauffällig aus dem Gespräch winden könnte, aber die Frau schien mit ihren Gedanken schon wieder woanders zu sein und plauderte fröhlich weiter. »Also, ich besuche meinen Sohn. Er ist vor fünf Jahren in die Nähe von Marbella gezogen, um Land zu kaufen und ein Weingut aufzumachen. Er war schon immer etwas eigen, wissen Sie? Wollte was Nachhaltiges machen. Raus aus dem Hamsterrad. Na ja, und jetzt hat er sich diesen Traum erfüllt. Aber freut mich ja, den Jungen so glücklich zu sehen. Und das Anwesen ist wirklich schön. Liegt mitten in den Bergen, wissen Sie?«
Wow, diese Frau kommt ja richtig in Fahrt.
So schnell würde Miri dem Gespräch wohl nicht entkommen. Sie versuchte, mit ihrer Gabel eine weitere Nudel aus dem dicken Teigklumpen mit grüner Soße zu lösen, aber das war ohne Messer gar nicht so einfach. Schließlich spießte sie das ganze Gebilde auf und biss davon ab. Im Augenwinkel konnte sie sehen, wie ihre Sitznachbarin peinlich berührt zur Seite schaute. Irgendwas an dem, was die Frau gesagt hatte, rührte Miri an. Vielleicht war es die Tatsache, dass ihr Sohn seinen Traum in die Tat umgesetzt hatte. Und noch während sie darüber nachdachte, ob sie selbst es reizvoll finden würde, mitten im Nirgendwo auf einem Weingut zu leben, durchzuckte ein plötzlicher Ruck die Kabine und ein Schwall aus ihrem Wasserbecher landete auf ihrem Schoß.
Na toll! Geht das schon wieder los!
Während die anderen Fluggäste sich hektisch die letzten Bissen in den Mund schoben, leuchteten die Anschnallzeichen wieder auf und es kam die bereits so vertraute Durchsage: »Sehr verehrte Fluggäste, es gibt starke Turbulenzen. Bitte nehmen Sie umgehend Ihren Sitzplatz ein.«
Die Stewardessen stöckelten hektisch durch die Gänge und sammelten die Tabletts ein, damit sich nicht noch mehr Nudeln, Kartoffelecken und Gläser verselbstständigten. Das nächste Luftloch kam so unerwartet, dass Miri fast befürchtete, den klebrigen Inhalt ihres Mittagessens wieder von sich geben zu müssen. Sie zwang sich dazu, ruhig zu atmen. Immerhin schien auch ihre Sitznachbarin von den neuen Turbulenzen nicht allzu begeistert zu sein und verzichtete auf eine Fortsetzung des Gesprächs.
»Pass doch auf!«, raunte ihr ein älterer Mann mit Kappe und Sandalen zu, als Miri durch eine kleine Gasse mit glänzendem Marmorboden lief. Erschrocken schaute sie von ihrem Handy auf und murmelte ein »'Tschuldigung«, während sie dem Mann hinterherschaute und versuchte, sich zu orientieren. Seit zwanzig Minuten irrte sie schon durch die Altstadt von Málaga auf der Suche nach ihrem Hostel. Dass sie ihren Koffer im Schlepptau hatte, dessen Rollen immer wieder blockierten, und sie ihn die meiste Zeit hinter sich herschleifen musste, machte es nicht gerade einfacher. Sie hatte sich am Flughafen gegen ein Taxi entschieden und war die wenigen Haltestellen ins Stadtzentrum kurzerhand mit dem Zug gefahren. Mittlerweile bereute sie die Entscheidung, denn die hellen Häuserfassaden und gläsernen Schaufenster schienen die Sonne von allen Seiten zu reflektieren. Es war zwar bereits später Nachmittag, doch die Hitze des Tages flirrte noch immer in den schmalen Straßen. Miri befürchtete fast, die Sohlen ihrer Sneaker würden jeden Moment am Asphalt kleben bleiben. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn, setzte ihre Sonnenbrille auf und bog in die nächste kleine Gasse ein, in der ein Straßenmusiker eine andächtige Melodie auf seiner Gitarre zupfte. Eine Welle der Erleichterung durchströmte Miri, als sie endlich die weiße Fassade entdeckte, von deren Fensterbänken lange grüne Pflanzen die Hauswand hinunterrankten. Sie erkannte die Bilder von Hostelworld und hievte ihren Koffer die letzten Meter hinter sich her, bevor sie vor dem Holzschild mit der Aufschrift Jungle Jam - bed & breakfast stand, das über der Eingangstür prangte.
Endlich.
Sie ging zur Rezeption - eine Konstruktion aus weißen Paletten - und musste schmunzeln, als sie sich umschaute. Dieses Hostel machte seinem Namen alle Ehre. Überall hingen Hängepflanzen in kleinen Körben aus Sacktuch von der Decke. An den Stellen, wo sich keine Pflanzen befanden, waren die Wände mit bunten Holzschildern mit Städtenamen übersät. In einer Ecke standen drei riesige Töpfe mit Palmen und anderen exotischen Gewächsen. Es fehlte nur noch, dass sie Vogelgezwitscher und das Zirpen von Grillen über die Lautsprecher laufen ließen. Stattdessen erklang im Hintergrund sanfte Popmusik. Überall an den umstehenden Café-Tischen saßen Leute, tranken Kaffee und unterhielten sich angeregt oder saßen vor ihrem Laptop, um zu arbeiten. Ein Grinsen machte sich auf Miris Gesicht breit und sie stieß die Luft aus, die sie anscheinend angehalten hatte.
Ich bin tatsächlich hier.