Eine retrospektive Auswertung von Patientendaten der Klinik für Pferde, Innere Medizin (PFI), der Justus-Liebig-Universität Gießen bildete die Grundlage für das Hauptziel dieses Dissertationsprojektes, die Entwicklung eines speziesspezifischen Diagnoseschlüssels für internistische Diagnosen bei Pferden. Die Daten umfassten alle Pferde, Ponys und Esel, die von 2000 bis 2020 in der PFI ambulant oder stationär behandelt wurden. Der Hauptzielparameter bestand in der individuellen Hauptdiagnose, die anhand eines ersten Diagnosekatalogs eingeteilt und verschlüsselt wurde. Dieser erste Diagnoseschlüssel enthielt 14 Hauptgruppen, meist basierend auf Organsystemen. Jede Hauptgruppe war in maximal vier Stufen unterteilt, um die Diagnosen zu hierarchisieren. Pro Fall wurde eine Haupt- und bis zu zwei Nebendiagnosen, Outcomes und patientenbezogene Angaben wie Alter, Geschlecht, Rasse, Dauer des Aufenthalts, Erkrankungsdauer und eventuelle Wiedervorstellungen in eine Exceltabelle überführt.
Über 21 Jahre (Januar 2000 bis Dezember 2020) wurden die Daten von 14.034 Patienten der PFI erfasst. Es wurden 484 Begleitpferde ausgeschlossen, was zu 13.550 Hauptdiagnosen führte. Die jährliche Patientenanzahl variierte zwischen 497 (2000) und 822 (2019), mit einem Median von 626. Das Durchschnittsalter der Patienten stieg von 9,9 (2000) auf 13,7 Jahre (2020), was eine hoch signifikante Zunahme (p < 0,0001) um ca. 2 Monate pro Jahr ergab. Die Verteilung des Geschlechts zeigte leichte Anstiege von Wallachen und Stuten, während die eh geringe Hengstanzahl weiter abnahm. Warmblüter bildeten mit 56,3 % die größte Rassegruppe. Über die Jahre nahm ihr prozentualer Anteil ab, während Kleinpferde zunahmen (p < 0,0001). Die stationäre Aufenthaltsdauer reduzierte sich signifikant (p < 0,01) von im Median 5,0 Tagen (2000-2002) auf 3,2 Tage (2018-2020). Der ganz überwiegende Anteil (83,5 %) der Patienten wurde einmalig vorgestellt, 11,9 % hatten mindestens eine Wiedervorstellung aufgrund der selben Erkrankung und 4,6 % wurden aufgrund anderer Symptome erneut vorgestellt. Die meisten Patienten wiesen ein perakutes Geschehen auf, dabei handelte es sich ganz überwiegend um Koliker. 67,4 % aller Patienten konnten entlassen werden, 18,6 % wurden in die Klinik für Pferde, Chirurgie und Orthopädie (PFC) ganz überwiegend (91 %) zur Kolikoperation überwiesen. In der PFI mussten 13,2 % der Patienten euthanasiert werden, 0,2 % verstarben und 0,3 % wurden in externe Kliniken überwiesen. Die Überweisungen in die PFC nahmen über die Zeit ab, während der Anteil an euthanasierten und verstorbenen Patienten zunahm, was mit dem höheren Alter der Patienten zusammenhängen könnte.
Die Erkrankungen des Verdauungstraktes überwogen mit 9.039 Fällen (66,7 %). Diese wurden überwiegend durch Koliker repräsentiert. Magenerkrankungen stiegen von 11 Fällen in den ersten drei Jahren auf 193 Fälle in den letzten 3 Jahren des betrachteten Zeitraums deutlich an. Respiratorische Erkrankungen waren mit 1.558 Fällen (11,5 %) die zweit größte Hauptgruppe mit der chronisch obstruktiven Bronchitis (Equines Asthma) als häufigster Diagnose innerhalb der Atemwegserkrankungen (61,9 %). Das Herzkreislaufsystem war in 795 Fällen (5,9 %) betroffen, wobei sich von 634 kardialen Fällen 400 als Herzklappeninsuffizienzen erwiesen. Die Sammelgruppe der systemisch erkrankten Pferde machte mit 4,0 % (n = 544) aller Patienten die viert größte Gruppe aus, am häufigsten wurden hier Patienten mit Fieber (39,3 %) und Abmagerung (16,7 %) unklarer Genese einsortiert. Die Erkrankungen von Haut, Haaren und Lymphknoten kamen in 2,2 % der Gesamterkrankungen vor (302 Fälle). Die Einteilung im ersten Diagnoseschlüssel führte dazu, dass die Infektion der Lymphknoten mit Streptococcus equi. ssp. equi (Druse) 22,2 % der Patienten dieser Gruppe ausmachte. Harn- und Geschlechtsorgane waren in 242 Fällen (1,8 %) betroffen, wobei ein Anstieg von Niereninsuffizienzen von 5 Patienten in den ersten drei Jahren auf 24 Fälle in den letzten drei Jahren des betrachteten Zeitraums auffiel. In die weiteren sieben Hauptgruppen wurden zwischen 58 und 229 Fälle eingeteilt.
Auf Basis dieser Auswertungen und inspiriert von der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erfolgte eine Optimierung des ersten Diagnoseschlüssels. Hauptgruppen wie Haut/Haare und Lymphknoten, Herz/Kreislauf sowie Harn- und Geschlechtsapparat wurden geteilt, neue Hauptgruppen für Lymph- und Blutsystem, Sinnesorgane und Ernährungsstörungen geschaffen und zahlreiche Diagnosen ergänzt. Zudem können darin Vergiftungen, Verhaltensstörungen und unerwünschte Arzneimittelwirkungen klassifiziert werden. Die Anwendung des optimierten Diagnoseschlüssels in Pferdepraxen und -kliniken könnte maßgeblich dazu beitragen, basierend auf hohen Fallzahlen exakte Kenntnisse zu Diagnosehäufigkeiten in der Pferdemedizin zu erlangen, um daraus Forschungs- wie Ausbildungsschwerpunkte abzuleiten.