er Vollmond schien mit Blut gefüllt. Sein tiefdunkles Orange spiegelte sich riesig und träge auf der ruhigen Oberfläche des Big Lake McDonald. Sal Morton sog die frische Wisconsin-Luft in seine Lungen, rutschte ein wenig auf seinem Hocker hin und her und warf dann die Angel mit dem Köder namens »Glückliche Dreizehn« über Achtern. Die Nacht war ziemlich ereignislos verlaufen: ein paar kleine Barsche am frühen Abend, ein halbes Dutzend Hechte - keiner größer als eine Gewürzgurke -, nichts weiter. Die Spule seiner Angel surrte, als der Köder durch die Luft flog, ehe er mit einem leisen Platschen ins Wasser fiel. Während der letzten Stunde waren dies die einzigen Geräusche gewesen, die ihm ans Ohr gedrungen waren. Bis der Helikopter explodierte. Er befand sich bereits über dem Wasser, ehe Sal ihn überhaupt bemerkte. Schwarz, ohne Lichter, eine dunkle Silhouette vor dem Mond. Leise. Vor zwanzig Jahren hatte Sal seiner Frau Maggie einen Flug in einem solchen Gerät über das Sandsteintal des Wisconsin River spendiert. Beide mussten sich damals die Ohren zuhalten, um nicht taub zu werden. Aber dieser Helikopter machte nicht einmal halb so viel Lärm - er brummte eher wie ein Kühlschrank. Der Hubschrauber flog von Osten her über den See, tief genug, dass der Abwind das Wasser aufwirbelte und Wellen schlug. So tief, dass sich Sal Sorgen machte, mit seinem Zwölf-Fuß-Boot aus Aluminium möglicherweise zu kentern. Er duckte sich, als der Helikopter über ihn hinwegschwebte und ihm seine Packer-Baseballmütze vom Kopf blies, die Köder durcheinanderbrachte und einige der leeren Schmidt-Bierdosen in die Luft hob und über Bord warf. Sal ließ die Angel fallen, hielt sich mit beiden Händen am Boot fest und kämpfte mit seinem Gewicht gegen das Schaukeln des Bootes an. Als die Gefahr des Kenterns überstanden war, schielte Sal nach oben, um herauszufinden, woher der Hubschrauber stammte. Er suchte nach irgendeiner Form von Kennzeichnung, einem Logo oder Sonstigem, konnte aber weder ein Abzeichen noch Nummern sehen. Der Helikopter glich eher einem schwarzen Geist. Drei Herzschläge später hatte er den einen Kilometer breiten See überquert und wollte hinter den Bäumen am gegenüberliegenden Ufer verschwinden. Was hatte ein Hubschrauber in Safe Haven zu suchen? Noch dazu um diese Uhrzeit? Warum flog er so tief? Und überhaupt - warum landete er in der Nähe seines Hauses? Dann hörte er die Explosion. Er spürte sie, kurz nachdem er sie gesehen hatte. Seine Füße vibrierten, als ob jemand den Bug mit einem riesigen Schläger getroffen hätte. Ihm wehte eine warme, sanfte Brise ins Gesicht. Der Geruch von verbranntem Holz und Kerosin füllte die Luft. Rauch und Flammen stiegen zwanzig Meter über die Wipfel in die Luft. Fassungslos betrachtete Sal einige Zeit lang das Schauspiel, ehe er sich die Angel schnappte und den Köder einholte. Kaum hatte er die Sachen im Boot untergebracht, riss er an der Kordel seines siebeneinhalb PS starken Evinrude-Außenborders.Dieser gab keinen Ton von sich. Sal versuchte es erneut. Wieder nichts. Er fluchte, spielte mit der Drosseleinstellung und fragte sich, ob die Explosion Maggie wohl einen Schreck eingejagt hatte. Hoffentlich ging es ihr gut.Maggie Morton wachte auf. Sie glaubte, ein Donnern gehört zu haben. Stürme in Wisconsin gehörten mitunter zu den weltweit gewaltigsten, und während der letzten sechsundzwanzig Jahre als Hausbesitzer hatten sie und Sal wegen Sturmschäden mehr als ein kaputtes Fenster und das halbe Dach reparieren müssen. Maggie öffnete die Augen, horchte und wartete auf den sicher bald aufkommenden Wind und den Regen. Sie wunderte sich allerdings, als beides ausblieb. Maggie schielte auf etwas Rotes neben ihrem Bett, griff nach ihrer Brille und setzte sie auf. Das rote Licht verwandelte sich schlagartig in die Uhrzeit: 22:46 Uhr. »Sal?« Dann rief sie den Namen ihres Mannes noch einmal. Vielleicht war er unten. Keine Antwort. Sal angelte normalerweise bis Mitternacht, also wunderte sie es nicht, dass er noch nicht zu Hause war. Sie zog in Erwägung, das Licht anzumachen, um dem Grund des Lärms nachzugehen, der sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Aber das weiche Kopfkissen und die warme Decke, die bis unter ihr Kinn reichte, überzeugten sie davon, die Brille wieder abzunehmen und neben sich auf den Nachttisch zu legen, ehe sie wieder einschlummerte. Das Geräusch der sich öffnenden Haustür weckte sie kurz darauf erneut. »Sal?« Sie folgte den Schritten im Erdgeschoss und dem Knarzen der Dielenböden, die sich den Flur entlang Richtung Küche bewegten. »Sal!« Lauter diesmal. Nach fünfunddreißig Jahren Ehe waren die Ohren ihres Mannes nur zwei von mehreren Körperteilen, die langsam ihren Geist aufgaben. Maggie hatte ihn schon mehrmals darauf angesprochen, sich endlich ein Hörgerät anzuschaffen. Aber jedes Mal, wenn sie das Thema anschnitt, grinste er sie nur an und tat so, als hörte er kein Wort. Sie konnte nie umhin, zu lachen. Lustig, wenn man sich im selben Zimmer befand, aber nicht so lustig, wenn er unten und sie oben war und ihn rufen wollte. »Sal!« Wieder keine Antwort. Maggie wollte schon auf den Boden stampfen, wusste aber, dass es nichts bringen würde. Sie wusste, dass der Mann im Haus Sal sein musste. Oder? Das Haus der Mortons lag direkt am See und war eines der letzten an der Gold Star Road. Ihre nächsten Nachbarn, die Kinsels, wohnten etwa einen Kilometer entfernt und waren den gesamten Herbst über verreist. Diese Abgeschiedenheit war einer der Gründe gewesen, warum sich die Mortons das Anwesen überhaupt gekauft hatten. Maggie konnte ganze Tage damit verbringen, kein anderes menschliches Wesen - von ihrem Mann abgesehen - zu treffen; es sei denn, sie fuhr in die Stadt und machte Besorgungen. Der Gedanke, dass jemand Fremdes in ihr Haus eindrang, war schlicht und ergreifend unvorstellbar. Dieser Gedanke der Unmöglichkeit beruhigte sie wieder, und sie schloss erneut die Augen.Kurz darauf riss sie diese allerdings wieder auf, als das Geräusch der Mikrowelle an ihre Ohren drang. Schon bald folgte eine Salve Maschinengewehrfeuer, die sie als poppendes Popcorn erkannte. Sal sollte um diese Zeit nichts mehr essen. Der Arzt hatte ihn davor gewarnt, es würde sein Sodbrennen nur noch anschüren, was wiederum Maggie auf die Palme brachte, weil sie kein Auge zutun konnte, wenn Sal sich die ganze Nacht unruhig von einer Seite auf die andere warf.Sie seufzte und setzte sich auf.»Sal! Der Arzt hat dich vor diesen nächtlichen Snacks gewarnt!«Keine Antwort. Maggie fragte sich, ob Sal tatsächlich Probleme mit den Ohren hatte oder es einfach nur als Vorwand benutzte, um sie ignorieren zu können. Jetzt schwang sie ein Bein aus dem Bett und stampfte kräftig drei Mal mit ihrer Ferse auf den Boden.Sie wartete auf eine Antwort.Bekam aber keine.Maggie stampfte erneut auf und brüllte dann »Sal!«, so laut sie konnte.Zehn Sekunden verstrichen.Und weitere zehn.Dann hörte sie die Toilettenspülung im Erdgeschoss.Wut stieg in ihr auf. Ihr Mann hatte sie offensichtlich gehört, ignorierte sie jedoch. Das war so ganz und gar nicht typisch für Sal.Dann, ähnlich einer Hitzewallung, überkamen sie Zweifel. Was war, wenn die Person da unten doch nicht Sal war?Es muss Sal sein, versicherte sie sich. Sie hatte keine Boote gehört, auch keine Autos. Außerdem war Maggie eine Städterin. Sie kam aus Chicago und hatte die Stadt im Blut. Selbst gute zwanzig Jahre im Nirgendwo hatten es ihr nicht austreiben können, jeden Abend gewissenhaft die Haustür abzuschließen. Die Wut packte sie erneut. Sal ignorierte sie absichtlich! Wenn er erst einmal seinen Fuß ins Schlafzimmer setzte, könnte er sich auf etwas gefasst machen. Sie würde ihm die Leviten lesen. Oder sollte sie ihn vielleicht einfach ignorieren? Wie du mir, so ich dir, dachte sie. Beruhigt schloss sie die Augen. Kurz darauf drang das ihr wohlbekannte Geräusch von Sals Außenborder durch das Fenster an ihre Ohren. Der Evinrude war älter als Sal. Warum er sich nicht einen neueren, schnelleren Motor anschaffte, konnte sie nicht begreifen. Einer der Gründe, warum sie nicht mit ihm auf den See fahren wollte, war die Tatsache, dass der alte Außenborder ständig seinen Geist aufgab und. Maggie schnellte hoch. Panik ergriff sie. Wenn Sal im Boot saß, wer war dann im Haus? Sie schnappte sich erneut ihre Brille und griff nach dem Telefon neben dem Wecker. Kein Freizeichen. Sie wählte eine Nummer. Die Leitung war tot. Maggie begann flacher zu atmen. Sals Boot kam immer näher, aber es würde noch einige Minuten dauern, ehe er am Steg anlegte. Und selbst wenn er nach Hause kommen würde, was sollte dann passieren? Sal war ein alter Mann. Was konnte er schon gegen einen Einbrecher ausrichten? Sie hielt den Atem an und konzentrierte sich auf die Geräusche von unten. Dann hörte sie etwas, aber es kam nicht aus dem Erdgeschoss, sondern vom Flur vor dem Schlafzimmer. Jemand kaute Popcorn. Maggie war sich nicht sicher, was sie tun sollte. Etwas sagen? Vielleicht handelte es sich ja um ein Missverständnis. Irgendein verwirrter Tourist, der ins falsche Haus gestolpert war. Oder vielleicht ein Einbrecher, der nach Geld oder Drogen suchte. Man musste ihm nur geben, was er wollte, und die Sache wäre erledigt. Kein Grund, dass jemand Schaden nehmen musste. »Wer ist da?« Weiteres Kauen. Es kam näher. Der Eindringling stand bereits so gut wie im Zimmer. Sie konnte das Popcorn riechen, die Butter und das Salz, und der Geruch drehte ihr den Magen um. »Meine ^ Meine Pillen befinden sich im Medizinschrank im Badezimmer! Und mein Geldbeutel liegt auf dem Stuhl neben der Haustür. Nehmen Sie sich alles!« Das Knistern der Papiertüte. Mehr Kauen. Nein, nicht nur Kauen, sondern Schmatzen. So laut, als ob jemand Kaugummi malträtieren würde. Warum gab der Kerl keinen einzigen anderen Ton von sich? »Was wollen Sie?« Keine Antwort. Maggie zitterte jetzt am ganzen Leib. Die Geschichte mit dem Touristen war nicht länger plausibel. Auch die Sache mit dem Einbrecher wurde immer unwahrscheinlicher. Stattdessen kam ihr eine neue Idee. Sie dachte an gruselige Geschichten, die des Nachts um Lagerfeuer erzählt wurden, oder an Horrorfilme - das Schreckgespenst, das sich unter dem Bett versteckt, der entlaufene Verrückte, der nach jemandem sucht, dem er wehtun kann ^ Den er töten muss. Maggie musste dringend aus dem Zimmer raus - weg von hier. Sie konnte zum Auto laufen oder Sal am Steg abfangen und zu ihm ins Boot steigen. Sie konnte sich sogar draußen im Wald verstecken. Sie musste nur ins Gästezimmer, das Fenster öffnen und hinausklettern. Kauen - diesmal direkt neben ihrem Bett. Maggie schnappte nach Luft und zog sich die Bettdecke noch höher unter dasKinn. sie schielte in die Dunkelheit vor sich und konnte in der Finsternis die Silhouette eines Mannes ausmachen - kaum einen Meter von ihr entfernt. Die Papiertüte knisterte. Jemand berührte Maggies Gesicht, und sie stieß einen leisen Schrei aus. Dann eine weitere Berührung - diesmal an ihrer Stirn. Sie zuckte zurück. Sie versuchte den Eindringling von sich zu stoßen, griff aber ins Leere, bis sie etwas auf der Bettdecke ertastete. Popcorn. Er warf mit Popcorn nach ihr. Maggies Stimme versagte beinahe, und es entfuhr ihr wie ein Flüstern: »Was ^ Was werden Sie mit mir tun?« Die Federn der Matratze ächzten, als er sich neben sie auf das Bett setzte. »Alles«, sagte er.Kaum hatte sich General Alton Tope einen Fingerbreit von fünfundzwanzig Jahre altem Glenfarcas in sein Whiskyglas aus Bergkristall eingeschenkt, als sein Pager zu piepsen begann. Er zog das Gerät von seinem Gürtel und blickte auf das winzige Display, das die Nummer 6735 anzeigte. Im Kopf ging er die Standard-Prozedur durch und fügte die ersten vier Zahlen des Datums hinzu. Das ergab 6762. Er runzelte die Stirn, da ihm der Code unbekannt war. Was zum Teufel bedeutete der Code 6762? General Tope ging ins Schlafzimmer; der Scotch würde vorerst warten müssen. Er zog die Rollos herunter, setzte sich an seinen Computer und gab das Kennwort ein. Ein eigens vom Militär entwickeltes Virusprogramm startete automatisch, gab an, dass sein System nicht gefährdet war und erlaubte ihm, sich bei USAVOIP einzuloggen - dem U.S.-Army- Voiceover-Internet-Protokoll. Dann setzte er sich das Headset auf. Nebenbei bemerkte er, dass das Mikro nach altem Zigarettenrauch roch. Er griff wie von selbst nach der Schachtel Winstons neben dem Monitor. Eine Kennwortabfrage später klingelte es in der Leitung. »Guten Abend, General«, ertönte die ihm bekannte Stimme, die immer da zu sein schien. »Bitte nennen Sie den Alarmcode.« Manchmal stellte sich General Top hinter der Stimme eine vollbusige Blondine vor. Aber wahrscheinlich handelte es sich nur um eine computererzeugte Stimme, die von einem übergewichtigen Zivilisten-Geek programmiert worden war, dessen Zimmer mit Postern von Wonder Woman vollgekleistert war. »Sechs Sieben Sechs Zwo«, antwortete er und klopfte sich eine Zigarette aus der Schachtel, um sie schräg in den Mund zu stecken. Das Feuerzeug lag genau da, wo es hingehörte, nämlich in einer Büroklammerschachtel neben der Maus. Ein billiges Einwegfeuerzeug. Es hatte ihm mittlerweile drei Jahre lang gute Dienste geleistet. Tope rauchte nur während dieser verschlüsselten Telefongespräche, und die passierten nicht jeden Tag. »Wir haben einen gefallenen Engel, General«, klärte ihn die Stimme auf. »Oberste Priorität.« General Tope atmete scharf ein und füllte seine Lungen mit heißem Rauch. Als er antwortete, versuchte er nichts davon entweichen zu lassen. »Welche Art von Einheit?« Während der Computer am anderen Ende diese Frage verarbeitete, schloss Tope die Augen und wartete die zwölf Sekunden, die es dauerte, bis das Nikotin über die Lungen seinenBlutkreislauf erreichte und die Dopaminrezeptoren in seinem Gehirn anregte. Aber die Antwort ließ nur acht Sekunden auf sich warten. »Red-Ops.« General Tope hustete so heftig, dass Speichel auf seinen Monitor spritzte. »Wiederholen.« »Red-Ops.« General Tope trennte die Verbindung zu USAVOIP, zog erneut an der Zigarette und klickte dann auf das Icon, das ihn mit dem Weißen Haus verband.Big Lake und Little Lake McDonald bildeten zusammen die Form eines Hufeisens, das sich um die kleine Stadt von Safe Haven legte - ein zweihundertundfünfzig Quadratkilometer großes Hufeisen, welches das Städtchen nach Norden hin komplett abschirmte. Safe Haven besaß eine einzige Straße, die hinein und hinaus führte. Man sprach schon seit Jahren darüber, dass man sie ausbauen und verbreitern, sie vielleicht sogar mit einigen Attraktionen auf dem Weg bereichern sollte. Die lukrative Tourismusindustrie, die manch andere Städte in der Umgebung belebte, hatte es nie so recht bis nach Safe Haven hinauf geschafft. Das lag teils daran, dass die Ortschaft weitab vom Schuss lag, aber vor allem daran, dass seine neunhundertundsieben Einwohner es so wollten. Zur Jahreshauptversammlung zog das Versprechen vieler Dollar gegenüber der Privatsphäre stets den Kürzeren. Selbst wenn das hieß, den Wohlstand außen vor lassen zu müssen. Sal war einer dieser neunhundertundsieben Einwohner, und die Abgeschiedenheit zusammen mit den sehr akzeptablen Fischgründen gehörte zu den Hauptgründen, warum er und Maggie sich das Haus gekauft hatten. Sie mochten die Einsamkeit. Keine Nachbarn, mit denen man falsche Nettigkeiten austauschen musste. Keine Fremden, über die man sich Sorgen zu machen brauchte. Keine Aufregung, keine Verbrechen und vor allem keine Überraschungen. Sal hatte die erste Hälfte seines Lebens im Stress und in der Hektik einer Großstadt verbracht. Die Rente in Abgeschiedenheit zu verbringen, war seine Belohnung für das anstrengende Berufsleben. Es war Oktober, und sämtliche Warmduscher waren vor der Kälte nach Florida oder Kalifornien geflohen oder wo auch immer sie den Winter über wohnten. Übrig geblieben war nur eine Handvoll Leute, die die kalten Monate nicht scheuten. Als das Kreischen begann, konnte sich Sal nur eine Person in der gesamten Umgebung vorstellen, von der dieses Geräusch stammen konnte. Er drehte am Gas des hochempfindlichen Außenborders, und der Evinrude-Motor brachte ihn nur geringfügig schneller Richtung Ufer, das noch immer mehrere Hundert Meter entfernt lag. Noch ein Schrei - ein fürchterlicher Schrei. Der Schrei eines Menschen, der unvorstellbar grauenvolle Schmerzen litt. Der Schall spielt so manchen Trick mit dem menschlichen Ohr, vor allem, wenn er sich übers Wasser ausbreiten kann. Er erklingt, wird lauter, hallt wider und macht es so gut wie unmöglich, seine Quelle zu bestimmen. Aber als Sal den zweiten Schrei vernahm, hatte er keinen Zweifel mehr, aus welcher Richtung und von wem er stammte. Maggie. Diese Erkenntnis brachte beinahe sein Herz zum Stillstand. Er drehte das Gas bis zum Anschlag und fuhr schnurstracks in Richtung seines Hauses. Was konnte Maggie dazu veranlassen, derartig zu schreien? War sie hingefallen? Hatte sie sich etwas gebrochen oder sich vielleicht verbrannt? Eine Blinddarmentzündung? Grauenvolle Zahnschmerzen? Oder hatte es etwas mit dem Helikopter zu tun? Als das Kreischen kein Ende nehmen wollte, begann Sal das Herz bis zum Hals zu schlagen und sein Magen verkrampfte sich. Er musste so schnell wie möglich nach Hause. Er musste sie in Sicherheit wissen. Er musste ^ Der Motor stotterte zwei Mal und gab dann den Geist auf. »Verdammt! Dieser verdammte Haufen Schrott! Scheiße! Scheiße!« Sal hob den roten Benzinkanister hoch und stellte fest, dass er noch halbvoll war. Er griff nach dem Spritschlauch und drückte zu, um sicherzugehen, dass er gut gefüllt war. Er war es. An Kraftstoff mangelte es ihm also nicht. Er zog vier Mal rasch hintereinander am Seilzug, aber der Motor gab keinen Ton von sich. Dann veränderten sich Maggies Schreie. Zuerst waren sie nur unverständlich und animalisch gewesen. Jetzt aber formten sie Worte. »AUFHÖREN AUFHÖREN OH GOTT AUFHÖREN AUFHÖREN!« Sal fasste sich an die Brust. Der Schmerz, der gerade noch seinen Magen hatte verkrampfen lassen, wanderte nun Richtung Herz. Wen schrie Maggie an? Was zum Teufel passierte da mit ihr? Er packte die Ruder, steckte sie in die Halterungen, setzte sich und legte los. »NEIN NEIN NEIN NEIN AUFHÖREN NEIN!« Sal musste es nach Hause schaffen. Es war schon Jahre her, seitdem er das letzte Mal gerudert war - vielleicht sogar Jahrzehnte. Wenn der Evinrude normalerweise seine Dienste verweigerte, stellte Sal den Sonnenschutz auf und räumte auf oder reparierte irgendwas, um die Zeit totzuschlagen, bis der Außenborder wieder bei Laune war - und das konnte bis zu einer Stunde dauern. Manchmal war er sogar dazu gezwungen, Hilfe herbeizuwinken und bis an den Steg gezogen zu werden. Aber rudern? Niemals. Das war etwas für junge Kerle oder Ungeduldige. Aber jetzt musste er zu Maggie, und zwar sofort.»BITTE BITTE OH GOTT BITTE OH GOTT!«Sals Arme und Brust waren kurz davor, seinen Befehlen nicht länger Folge leisten zu können. Seine Lungen brannten wie verrückt und schienen nicht in der Lage, ihm genügend Luft zu liefern. Aber Sal ließ nicht ab. Schmerzerfüllt warf er einen Blick über die Schulter und sah, dass es keine fünfzig Meter mehr bis zum Ufer waren.»TÖTE MICH! TÖTE MICH! TÖTE MICH!«Herr im Himmel - Maggie! Was war da bloß los? Sals Arme zuckten unkontrolliert und er konnte die Ruder kaum noch aus dem Wasser heben. Dennoch schaffte er es, seinen Rhythmus zu halten und nicht aufzugeben.Und zieh.Und zieh.Und zieh.Und zieh.Mit jedem Schlag näherte er sich seinem Zuhause und der Frau, die er liebte.Ich komme, Schatz. Ich komme.Sal hatte nicht geglaubt, dass es für ihn etwas Schlimmeres als die Schmerzensschreie seiner Frau geben konnte. Aber er hatte sich getäuscht. Ihm blieb beinahe das Herz stehen, als völlige Stille eintrat.Er machte einen letzten, verzweifelten Schlag, und derSchwung beförderte ihn bis ans Ufer. Hektisch band er das Boot fest und kletterte auf den Steg. »Maggie!« Sein Ruf glich mehr einem Schnaufen. Mit weichen Knien rannte er an Land und dann auf sein Haus zu. Die Tür stand sperrangelweit offen. Maggie hätte sie nie offengelassen. Jemand befand sich im Haus. Jemand, der ihr schreckliche Dinge antat. Er blickte sich suchend nach einer Waffe um. Auf der Veranda neben dem Tisch entdeckte er ein fünf mal zehn Zentimeter langes Kantholz, mit dem er den Fischen eins überzog, ehe er sie filetierte. Sal ergriff das Stück Holz. Es fühlte sich beruhigend schwer an. Dann betrat er das Haus. Das Wohnzimmer und die Küche waren leer. Der Gestank verbrannten Popcorns stieg ihm in die Nase. Und dann ein weiterer Geruch. Er hatte ihn schon früher gerochen, aber noch nie war er so stark gewesen. Blut. »Maggie! Wo bist du?« Keine Antwort. Er eilte so schnell ihn seine Beine trugen die Treppe hinauf und ins Schlafzimmer. Etwas Undefinierbares lag auf dem Bett. »^ Töte ^ mich sagte das Etwas. Sal begriff nicht, was er sah. Es schien nicht mehr menschlich zu sein. Als er endlich verstand, was geschehen war und in dem, was auf dem Bett lag, die Überreste seiner Frau erkannte, glitt ihm das Kantholz aus der Hand und fiel scheppernd auf den Boden. Er merkte nicht, dass sich jemand von hinten an ihn heranschlich und ihm eine Klinge an den Hals drückte. »Du musst Sal sein«, flüsterte der Mann. »Wir müssen reden.«Sheriff Arnold »Ace« Streng vom Ashburn County hatte es sich gerade in seinem Schaukelstuhl mit einer Schale Chili bequem gemacht, um sich eine Doppelfolge MythBusters auf dem Discovery Channel anzuschauen, als sein Handy klingelte. Er stellte das Chili auf dem Tischchen neben sich ab und betrachtete durch seine Brille das Display seines Mobiltelefons. FIREHOUSE 4. Safe Haven. Streng stöhnte. Safe Haven bedeutete eine vierzigminütige Autofahrt, und es handelte sich höchstwahrscheinlich um nichts weiter als eine Katze auf einem Baum oder irgendwelche Camper, die die Anwohner störten. Er drückte auf den grünen Knopf und nahm das Gespräch an. »Streng.« Am anderen Ende wurde sofort aufgelegt. Streng warf erneut einen Blick auf das Display, hielt es vor seine Augen und sah zwei schwarze Balken in der oberen linken Ecke - der Empfang war also ausnahmsweise einmal unschuldig. Die Störung lag wahrscheinlich am anderen Ende. Warum irgendjemand in dieser Umgebung freiwillig Handys benutzte, war Streng völlig unverständlich. Eine normale Unterhaltung von drei Minuten Dauer wurde mindestens acht bis neun Mal unterbrochen. Strengs Standardwitz lautete, dass er seinen Hilfs- sheriffs statt Mobiltelefone demnächst mit Faden verbundene Blechdosen spendieren würde. Dann klingelte es erneut. Streng richtete sich so weit er konnte auf, so dass er ganze fünf Zentimeter höher saß - fünf wertvolle Zentimeter näher am Satelliten. »Streng.« »Sheriff, ich bin es. Josh VanCamp von der Feuerwehr in Safe Haven. Wir haben hier ein Problem.«