Um vier Uhr morgens setzten mir die Wärterinnen auf einem Tablett vier oder fünf verschiedene Gemüsesorten, Lammfleisch und Hühnchen vor. Ich wusste gar nicht mehr, dass es solch köstliche Speisen überhaupt gab. Eine uigurische Beamtin nach der anderen trat zu mir in die Zelle, mich sorgenvoll musternd: »Warum isst du nicht? Bitte, iss!« Nach einer kurzen Pause erkundigten sie sich: »Welchen Wunsch hast du noch?« Da wurde mir mit einem Mal bewusst, dass sie mich erschießen würden. Das war meine Henkersmahlzeit.Die Wärterinnen fragten mich, welche Kleidung ich anlegen wollte. Ich verlangte nach meinem weißen langen Rock, meinem langen weißen Ledermantel mit Pelzbesatz und für den Kopf meine geliebte weiße Pelzmütze, meine »Tomak«. Für die Füße wählte ich kurze weiße Stiefel mit etwas höheren Absätzen. Meine Haare wollte ich waschen und lang fallen lassen. »Ich will mich schminken«, sagte ich.Sie holten mir das Gewünschte aus der Wohnung in Ürümqi. Alle waren darüber informiert worden, dass ich in wenigen Stunden exekutiert werden würde. »Darf ich meine Kinder noch einmal sehen?«, fragte ich voller Hoffnung. »Nein, das wird Gefangenen, die zum Tode verurteilt worden sind, nicht erlaubt«, wurde mir beschieden.Da bat ich darum, mich in einem großen Spiegel betrachten zu dürfen. Dem Wunsch wurde stattgegeben. Im Spiegel erblickte ich eine schöne Frau. Als ich dieses Bild von mir betrachtete, blieben zum ersten Mal seit langer Zeit meine Gedanken still. Eine unglaubliche Ruhe umfing mich. Alles um mich herum wurde unscharf und vermischte sich, die Wärterinnen, die Zelle, das Licht und der Boden, auf dem ich stand. Nur mich selbst schien es noch zu geben.Die Chinesinnen hinter mir steckten die Köpfe zusammen und flüsterten miteinander. Ihnen war anzusehen, dass sie Mitleid mit mir empfanden. Ich versank in eine Art innerer Zufriedenheit. Ich war allein - mit der Stille, mit dem Tod und mit meinem Spiegelbild. Viele Häftlinge beklagten laut in ihren Zellen mein Schicksal. Sogar die uigurischen Wärterinnen wischten sich verstohlen Tränen aus ihren Augen.»Alle Wünsche«, sagte die Uniformierte leise, die mir Hand-und Fußschellen anlegte, »die Sie noch haben, will man Ihnen erfüllen.« Da ich aber meine Kinder nicht sehen durfte, bat ich sie nur darum, mich mit diesen Hand- und Fußschellen noch einmal im Spiegel betrachten zu dürfen. Eine uigurische Wärterin trat zu uns in den Raum und holte die chinesische Kollegin heraus: »Du wirst von jemandem gerufen!« Kaum war die Chinesin gegangen, zog die Uigurin einen Fotoapparat aus der Tasche und machte schluchzend ein paar Aufnahmen von mir.Sie fragte mich, was ich als letztes Wort für sie hätte. Aber ich war in einem Zustand, der nichts mehr mit ihrer Welt zu tun hatte. »Wie schön bin ich geworden«, seufzte ich, »jemandem, der dem Volk gehört, stehen keine goldenen Ketten, sondern Hand-und Fußschellen. Nur der Mensch ist wirklich frei, der in der Lage ist, solche Hand- und Fußschellen zu sprengen. Gott wird das für mich tun. Ich werde nicht sterben!«Warum ich so geredet habe, kann ich nicht erklären. Vielleicht war die lange Einzelhaft daran schuld oder die Tatsache, dass ich kurz vor der Hinrichtung stand, ich weiß es nicht. Ich rief mir meinen Mann und meine elf Kinder vor mein geistiges Auge. Jedes meiner Kinder, besonders Kekenos, weil sie die Kleinste war, habe ich gefragt: »Wie kann euer Vater jetzt ohne mich leben?« Die Wärterinnen unterbrachen mich: »Die Zeit ist um.«Durch den Flur folgten mir dreißig Polizisten mit Maschinenpistolen. Vor und neben mir marschierten noch einmal zehn Wachen. Sie nahmen mich, wie bei einem Tanz, in ihre Mitte, und fast genoss ich es, von so vielen Menschen umringt zu sein. Trotz der schweren Ketten schritt ich voran, als kämen meine Füße mit dem Boden gar nicht in Berührung. Ich war bereit zu sterben, um eine Heldin zu werden, und ich hatte keine Angst. Nur eine seltsame Nervosität hatte mich befallen. Da sprach ich mir selbst Mut zu, weil ich befürchtete, dass mich die Kraft plötzlich verlassen könnte: »Rebiya, du musst es so sehen: Wenn jemand wie du bereit ist zu sterben, werden dir tausende nachfolgen. Das Volk wird in dir ein Symbol für seine Freiheit sehen. Und nach dir wird eine neue, noch stärkere Heldin erscheinen. Du bist nicht sinnlos gestorben.«Mit diesen Gedanken fand ich erneut zur Ruhe. Ich genoss diese letzte mir verbleibende Stunde. »Immer habe ich gedacht, dass ich unser Land von den Besatzern befreien würde. Das habe ich nicht erreicht«, ging es mir durch den Kopf, »aber ich habe der Bevölkerung wie eine Lehrerin den Weg aufgezeigt.« Die zweite Tür öffnete sich vor uns.Im Hof bildeten sich drei Reihen mit jeweils etwa fünfzig Polizisten. Ich stand in der Mitte. Sie schrien unverständliche Kommandos hin und her - vermutlich eine Art Übergabezeremonie. Kaum war mein Namen ausgerufen worden, stellte sich die Gruppe der Staatsdiener in blauen Uniformen hinter mir auf und legte die Hand zum Gruß an die Stirn. In meinem weißen Gewand fühlte ich mich vor diesen dunklen Gestalten noch mehr wie ein Engel.Die Soldaten in Kampfanzügen, die mich übernommen hatten, führten mich durch eine dritte Tür nach draußen. Auf Chinesisch brüllte jemand: »Die Angeklagte Rebiya Kadeer wurde gebracht!« Zahlreiche Uniformierte stiegen aus den vielleicht hundert schwarzen Autos, die vor dem Tor hintereinander parkten. Darunter auch zwei große Militärlastwagen voller Soldaten. Drei Helikopter kreisten über uns. Da habe ich gelacht. So eines Aufwandes hätte es nun wirklich nicht bedurft.Als ich zu einem der Autos geführt wurde, salutierten zwei uigurische Polizisten. Ich zwinkerte ihnen zu, und die Augen der Männer füllten sich mit Tränen. Das Volk beschimpfte die uigurischen Polizisten als Verräter, weil sie für die Chinesen arbeiteten. In ihren Herzen aber wünschten sie alle das Gleiche: die Freiheit.In Ürümqi hatte die Regierung eine Militärsperrzone einrichten lassen und den Beamten verboten, zur Arbeit zu kommen. Dies und die Tatsache, dass die Stadt abgeriegelt wurde, in den Straßen so viele Schwerbewaffnete patrouillierten und am Himmel die Hubschrauber lärmten, machte die Bevölkerung hellhörig.Viele Einwohner Ürümqis hatten bereits in Erfahrung gebracht, dass ich heute vom Gericht zum Tode verurteilt und anschließend sofort hingerichtet werden sollte. Einige Beamte hatten meinen Kindern zwar mitgeteilt, dass ich nach dem Prozess freigelassen werden würde, aber sie glaubten ihnen nicht. Viele Menschen waren trotz des Verbotes auf der Straße.Ich rutschte auf die Hinterbank einer schwarzen Limousine. Neben mir und vorne saßen jeweils zwei Männer. Durch die abgedunkelten Scheiben konnte man nicht zu mir hineinsehen. Sirenen von fünf Polizeiautos heulten. Die beiden Männer neben mir unterhielten sich darüber, dass ich ursprünglich in einem Kistenwagen hätte transportiert werden sollen, auf dem üblicherweise die Gefangenen hinten im Käfig hockten.