Spätfrühling in Toledo, Oregon. Hasan Hujdur befreit sein Auto schon seit zwei Stunden von Schnee und Eis. Zunächst hat er mit bloßen Händen weggefegt, was im Lauf der Nacht gefallen war; ohne vor der eisigen Berührung zurückzuschrecken, umarmte er den Schnee und schob ihn von der Motorhaube, von der Windschutzscheibe und vom Dach, dann ging er um den Wagen herum, noch zwei, drei Arm voll und es sah so aus, als wäre er fast fertig. Ein zufälliger Beobachter - den es nicht gab, denn wer würde bei minus zwanzig Grad herumspazieren und schauen, was die Leute so treiben - hätte geschworen, dass dieser Mann seinen silbernen Buick Rivera aus der ersten Modellreihe von 1963 mehr liebte, als Männer ihr Auto gewöhnlich lieben, wahrscheinlich keine Kinder hatte und ganz bestimmt nicht in Oregon geboren war. Nur ein Fremder konnte so gleichgültig gegenüber der Kälte sein, und zwar ein Fremder, der aus einem weit entfernten, unmenschlichen Land kam, in dem der Körper nicht leicht friert und die Menschen nichts von Krankheit wissen. Den Arzt brauchen sie nur, damit er den Tod feststellt, denn es ist ihre größte, genau genommen einzige Sorge, lebendig begraben zu werden. In allem - oder doch mit dem meisten - hätte jener zufällige Beobachter Recht gehabt, wenn es ihn gegeben hätte und wenn er gesehen hätte, wie es nach den Umarmungen weiterging. Nachdem Hasan Hujdur den frischen Schnee vom Auto gewischt hatte, begann er mit dem, womit er in diesem Augenblick beschäftigt war und was ihn noch mindestens eine Stunde beschäftigen sollte. Vor dem Auto breitete er ein Schaffell aus, wie man es in Osteuropa für das islamische Gebet verwendet, und legte darauf sein Werkzeug zurecht: zwei Kehrbleche mit Gummirand, ein kleineres und ein größeres, einen kleinen Kanister mit Auftaumitteln für die Glasscheiben, Enteiserspray für die Schlösser, Handfeger, Gummischaber und -spachtel, mehrere Ahlen aus Plastik, deren Funktion nicht ganz klar war, drei von Hand gesäumte Lappen aus grobem Zwillich und noch einen Lappen aus weichem Hirschleder. Zum Schluss legte er die Zigarettenschachtel dazu und das Wegwerffeuerzeug oben drauf, trat einen Schritt zurück, kontrollierte, dass alles da war und in der richtigen Reihenfolge lag, rieb sich die Hände, mehr aus Vorfreude als wegen der Kälte, und dann fing er an. Zentimeter für Zentimeter entfernte er das Eis, so vorsichtig wie ein Archäologe mit der Mumie eines Königs umgeht, damit er das Auto nicht zerkratzte. Er arbeitete außerordentlich geschickt, nutzte jedes von dem guten Dutzend Werkzeuge, die er auf dem Schaffell zurechtgelegt hatte, und legte jedes nach Gebrauch an seinen Platz zurück, sorgsam noch vom letzten Krümel und Eispartikel gesäubert. Wenn er das nicht schon immer so halten würde, wäre das Fell des Schafs längst schwarz vor Schmutz und nicht schneeweiß, als wäre es soeben aus einer Reklame für sardischen Käse entstiegen. Man sah, dass der Mann Erfahrung hatte, die Winter in Oregon sind lang, und dies ist bereits sein zweiundzwanzigster, man sah auch, dass Hasan Hujdur nur an wenigen Dingen mehr Freude gehabt hätte. Er ist keiner dieser krankhaft pedantischen und ordentlichen Menschen, die jede Arbeit mit demselben Eifer erledigen, denn wäre er es, er käme nie zum Ende, fände keine Zeit mehr zu schlafen und würde an einer Ordentlichkeit irrewerden, die seinem sozialen Status vollkommen unangemessen wäre. Er ist kein König und kein Adeliger, er wird nicht bedient und es gibt keine Hofleute, die hinter ihm herputzen und aufräumen. Aber selbst wenn er es sich leisten könnte, würde er wohl kaum jemanden diese Arbeit in Kälte, Eis und Schnee überlassen, gleichgültig, wie viel Zeit sie beansprucht und wie oft sie sich wiederholt. Jeder Mensch hat ein oder zwei Dinge, zu denen er ein solches Verhältnis hat, auf jeden wartet irgendwo sein Buick Rivera, es mag ein Auto, ein Fahrrad, ein Füllfederhalter oder sogar ein Computer sein, es kann ein Hund oder ein Pferd sein, etwas, das einen kümmert und beschäftigt, das einen besser und geduldiger macht, nur ist es nicht allen vergönnt, dieser Sache im Lauf ihres Lebens zu begegnen. Hasan Hujdur musste über einen Ozean fahren und, nachdem sein Stipendium ausgelaufen war, in einsamen Zimmern und Stundenhotels wohnen, Hunderte verschiedener Arbeiten annehmen, bevor ihm jemand glaubte, dass er ein Filmregisseur war; er musste von einer Stadt in die andere und von einem Staat in den anderen ziehen, um endlich in Toledo, Oregon, anzukommen und dort, auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt, ihn zu sehen (oder vielleicht auch - sie), Buick Rivera, wie er in der Augustsonne glänzte, dass einem die Augen davon wehtaten. Da steht er, wie ein neuer Stern im Hollywood-Boulevard, dachte er, ging in den Supermarkt, verlangte den Geschäftsführer, der bot ihm eine Probefahrt an, »den muss ich nicht Probe fahren«, sagte er und zählte 800 Dollar ab. Nur Ausländer haben so viel Bargeld in der Tasche, und nur sie tragen ihr ganzes Geld bei sich. Der Geschäftsführer holte seine Sachen aus dem Kofferraum, händigte Hasan Schlüssel und Papiere aus, erinnerte ihn daran, auf den Ölstand und das Wasser zu achten, verabschiedete sich von seinem Auto, und das Geschäft war erledigt. Von diesem Tag an war Hasan Hujdur gegen die meisten Enttäuschungen gefeit, auf böse Worte reagierte er wie ein Mystiker, erfüllt vom tiefsten Frieden, die Nervosität von anderen nahm er in sich auf wie eine Brücke den Fluss: Der Fluss kann noch so sehr tosen, die Brücke steht ruhig darüber. Buick Rivera wurde zum Ort seiner inneren Sammlung; einer dem anderen ergeben, der Mann und sein Auto, gaben sie sich, was Menschen, wenn sie nicht Geistliche oder Psychiater sind, einander nie zu geben vermögen. Hunde, die vor dem Supermarkt auf ihr Herrchen warten müssen, würden das verstehen. Die Besorgnis der Hunde, dass sie nicht mehr abgeholt werden, dass das Herrchen für immer im Supermarkt bleibt oder drinnen einen besseren Freund findet, legt sich nie. Selbst wenn sie ihr ganzes Leben lang jeden Tag vor dem Supermarkt warten müssten, Hunde gewöhnen sich nicht daran und winseln jedes Mal, bellen und schauen so traurig, als müssten sie zum ersten Mal warten. Sie sind nicht zu dumm, um es zu verstehen, aber sie ziehen die Angst dem Verstehen vor, denn ihre Freude ist unermesslich, wenn der Freund zurückkehrt. Gewöhnung würde die Freude töten, und das lohnt sich weder in der Welt der Menschen noch in der der Hunde. Der Mensch steht vor seinem Gebrauchtwagen wie ein Hund vor dem Supermarkt. Das werden Menschen nie begreifen, die neue Autos fahren, und auch jene nicht, die von einem neuen träumen, während der Gebrauchte ihnen nur ihre vorübergehende Armut bestätigt. Alles Wilde, was sich in Hasan anstauen konnte, alles, was er von anderen mitnahm und das unter seiner Haut keinen Platz hatte, sondern unverdaulich wie Sondermüll - Plastiksäcke auf dem Meeresgrund - durch seine Adern rollte, schluckte Buick Rivera. Er wischte mit dem Hirschleder über die Scheinwerfer, als Angela zum ersten Mal aufwachte. Sie sah auf die Uhr, Viertel nach elf, drehte sich auf die andere Seite, sah, dass er nicht da war, zwei kleine Säbel der Unzufriedenheit erschienen in ihren Mundwinkeln, verharrten dort für einige Sekunden und verschwanden, kaum dass sie wieder in den Schlaf sank. Angela Raubal hatte eine anstrengende Nacht hinter sich. Vom Theater hatte sie Al Rahimi, Nachtportier und Statist im Schwanensee, erst gegen fünf Uhr nach Hause gebracht. Danach hatte sie in der Küche gesessen und ein bisschen geweint, weil Neumond war, wegen einer Erkältung, den Idiotien des Regisseurs oder weil es sie kränkte, dass Hasan nicht mehr aufstand, wenn sie heimkam. Das war früher anders gewesen, dachte sie, da kam er angelaufen wie ein junger Hund, ohne Rücksicht auf die Uhrzeit, und jetzt atmet er tief, mitten in einem Schlaf, aus dem ihn nicht einmal ein Presslufthammer reißen könnte; er atmet wie ein Kind, das im Kino eingeschlafen ist. Dieses Atmen hatte Hasan Hujdur lange geübt, seit er zum ersten Mal gedacht hatte, dass sich die Liebe in einen Krieg verkehrte und er mehr tat, um sie auszutricksen, als um ihr etwas Gutes zu tun. Er schielte in die Dunkelheit, sah sie in der Schlafzimmertür stehen und warten, manchmal zehn Minuten lang, ihn stumm rufen, anflehen, er möge aufwachen, wütend werden, schmollen und gähnen, als würde sie brüllen, die Hand nach ihm ausstreckte, aber dann ging sie weg wie eine Tennisspielerin nach einem verlorenen Match und tröstete sich mit dem Gedanken, es wären die Jahre: Manche Männer fangen an zu schnarchen, was ihnen am Anfang der Ehe nicht passiert wäre, andere entführt eben der Schlaf. Es grämte ihn; was er tat, war böse, aber ihm blieb praktisch keine Wahl, denn hätte er sie im wachen Zustand erwartet, wer weiß, mit welchen Wutanfällen sie nach Hause gekommen wäre. Nächte und Morgen, an denen Angela gut gelaunt heimgekommen war, hatte sich Hasan nicht gemerkt oder aus seiner Statistik gestrichen. Irgendwann einmal, wann, wusste er nicht mehr, hatte er begonnen, alles Gute zu vergessen, so wie er bis zu diesem Zeitpunkt alles Schlechte vergessen hatte. In einer Abhandlung über die Ehe hätte gestanden, das sei der Moment, in dem die Verliebtheit aufhört. Trotzdem wünschte er sich, während er unter der Bettdecke tief atmete und zur wartenden Angela hinüberschielte, dass sie laut schreien oder wenigstens husten möge, um ihn zu wecken. Aber nein, sie ging auf Zehenspitzen davon und weckte ihn nicht. Wenn sie ins Bett kam, nachdem sie sich fertig gemacht, den Kühlschrank geöffnet und geschlossen und den Fernseher ein- und ausgeschaltet hatte, schlief er bereits. Zwei Stunden später wachte er auf, löste sich vorsichtig aus ihrer Umarmung, legte ihre Hand auf sein Kopfkissen, sah nach, ob die Zeitung da war, setzte sich in die Küche, rauchte, las und trank die erste Coca-Cola des Morgens. Sie schlief wieder tief, als er mit dem weichsten Tuch über die Glasscheiben fuhr, jedes Schloss am Buick Rivera enteiste und sein Ritual beendete. Er packte das ganze Werkzeug in einen schwarzen Leinenrucksack, verstaute das Schaffell im Kofferraum, setzte sich ans Steuer, atmete tief durch und drehte den Zündschlüssel um. Das Herz des Motors sprang sofort an, der Alte brummte erst laut, dann immer leiser, bis er in seinem Rhythmus lief, der sich seit dem Tag nicht geändert hatte, an dem JFK in Dallas ermordet worden war. In diesem Rhythmus waren Leben verstrichen, die weder voneinander wussten noch sich aller Wahrscheinlichkeit nach je getroffen hätten. Hasan Hujdur kannte nicht die Namen aller Vorbesitzer, und es waren sieben, bevor er den letzten im Supermarkt getroffen hatte, aber er fühlte eine mystische Verbundenheit zu ihnen, eine tiefere Beziehung, als sie zwischen Menschen üblich ist. Seine Finger sanken in Vertiefungen am Lenkrad, die ein anderer während der langen Jahre des Fahrens durch seine Art zu lenken verursacht hatte, eine Art, die von der physischen Konstitution und vom Temperament abhängt, vom Geisteszustand und was auch immer, jedenfalls ist diese Art nicht wiederholbar. Wer ein Auto fährt, das zuvor anderen Menschen gehört hat, erfährt mit der Zeit alles über sie. Ob sie nervös oder phlegmatisch waren, ob sie mit einer Hand gefahren sind, während die andere auf der Lehne des Beifahrersitzes ruhte oder reglos im Schoß lag, oder ob sie das Steuer mit beiden Händen umklammerten, weil sie ein Unglück befürchteten und sich unaufhörlich vorstellten, dass ihnen ein Kind vors Auto laufen konnte und an bremsen nicht mehr zu denken wäre. Ein Auto hat vielleicht weder Seele noch Verstand, aber es merkt sich, wie es gefahren wurde. Von seinem Standpunkt aus unterscheiden sich die Menschen nicht in jene, die schnell fahren, und jene, die langsam fahren, sondern in jene, die gern fahren, und jene, die extrem ungern fahren. Autos, die von ängstlichen, unzufriedenen Menschen gefahren werden, haben kein langes Leben. So wie die Vertiefungen im Stein, die der Wasserstrahl über die Jahrhunderte in den Brunnen neben dem Friedhof der größten Moschee von Stolac gegraben hat, so erschienen Hasan Hujdur die Spuren der Vergangenheit am Buick Rivera. Er erlebte diesen Wagen nicht als etwas, das man mit einer Alarmanlage ausstatten und nachts abschließen musste, um ihn gegen Diebe zu schützen. Er war das Leben, das sich durch ein Wunder in dem Glanzprodukt der Automobilindustrie Detroits abzeichnete. Toledo, Oregon, ist um die Mittagszeit wie ausgestorben. Wer Arbeit hat, ist in Salem oder noch weiter weg in Portland, die Kinder sind in der Schule, die Alten wärmen sich zu Hause. Durch die Hauptstraße fährt ein Polizeiauto, der Schneepflug oder der Kombi, der das Essen ins Irrenhaus und ins Gefängnis liefert. Noch hat niemand seine Fußstapfen auf dem Trottoir hinterlassen, und niemand freut sich über Schnee, der seit sechs Monaten nicht weggetaut ist. Hasan parkte vor dem Alhambra, einem Lokal mit Billardsalon, das der Madrider Maler José García Cerritos vor einigen Jahren eröffnet hatte. Cerritos war ein streitsüchtiger Außenseiter, reich geworden durch den konzeptuellen Zyklus Gespräche mit Goya, der nach dem Urteil der Kritiker in aufregender Weise das Verhältnis der Gegenwart zur Tradition verändert habe und das Ereignis auf der Documenta in Kassel war, woraufhin er mit einem Haufen Geld nach Amerika flog, denn in Spanien wollte er mit keinem der 30 Millionen Einwohner mehr reden. Auf dem Flughafen schlug er die Landkarte der Vereinigten Staaten auf, fand einen Ort, der Toledo hieß, und beschloss, sich dort niederzulassen. Nur wegen des Namens. Nachdem ihn das erste Toledo enttäuscht hatte, glaubte er, das zweite müsse besser sein. Er hörte auf zu malen - in Amerika hat er nie einen Pinsel oder Bleistift angerührt - und eröffnete ein Lokal, das, wegen Josés unerträglichem Charakter und seiner merkwürdigen Gewohnheit, zu jeder Tages- und Nachtzeit Gäste hinauszuwerfen und die Kneipe zu schließen, wenn ihm ihre Visagen nicht passten, kaum jemand besuchte. Er lebte ohnehin nicht vom Alhambra. »Ich habe Dollars für drei Leben, und deshalb will ich in diesem einen um mich herum Menschen sehen und keine Murmeltiere«, sagte er zu Hasan, der ihm bedingungslos sympathisch war, weil er nichts von einem Murmeltier an sich hatte. »Du guckst wie eine Ratte, die aus ihrem Loch mitten in eine amerikanische Familie gekrochen kommt, die sie mit einem Besen erschlagen will, genau so guckst du.« Hasan zuckte mit den Schultern und lächelte liebenswürdig. Im Unterschied zu den meisten Menschen hatte José nichts gegen Ratten. »Und du bist ein elender Schuft, mit dem man nur schwer befreundet sein kann. Wenn ich dich losschicken würde, um Zigaretten zu holen, du kämst nicht eher wieder, bevor du sie nicht aufgeraucht hättest«, sagte er zu Piero Manigno, gebürtiger Neapolitaner und Hasans bester, eigentlich einziger echter Freund. Piero war also auch kein Murmeltier. Für sie beide war Josés Lokal immer geöffnet, und wenn es geschlossen war, klingelte Piero einfach am Nachbareingang und aus dem Fenster im zweiten Stock kam ein Nylonsäckchen mit dem Schlüssel darin angeflogen. José steckte noch nicht einmal den Kopf aus dem Fenster. Piero saß am Tresen und trank ein Bier, José las die Zeitung, Hasan sagte: »Da bin ich!« José fragte, ohne die Zeitung zu senken: »Wie viele Jetons?« »Mindestens zehn«, antwortete der Italiener. »Willst du erst was trinken?«, fragte er Hasan der Ordnung halber. »Nix da«, antwortete der übertrieben fröhlich. »Dein Stern war wohl wieder ein wenig nervös«, drang die Stimme aus der Toledo News. »Nein, warum?« »Man sieht es dir an.« »Man sieht immer dasselbe«, antwortete Hasan, während Piero die Kugeln auf dem Tisch ordnete und ein Queue wählte. Er wählte lange, wie immer schmerzlich von betrügerischen Machenschaften überzeugt und davon, dass einige Queues, ähnlich wie bei Pokerkarten, gezinkt und für die Verlierer bestimmt waren. Hasan ärgerte das nicht, aber er konnte nur schwer den Impuls unterdrücken, dem Freund die Sinnlosigkeit solcher Manipulation zu erklären; Betrug wäre abwegig und der bloße Verdacht ein Affront gegenüber einem Menschen, der sie spielen ließ, wann immer ihnen der Sinn danach stand. Warum hätte José, der selbst kein Billard spielte, etwas daran gelegen sein sollen, dass der eine und nicht der andere gewann? Piero hatte keine Antworten auf solche Fragen, und sie interessierten ihn letztlich auch nicht. Er glaubte, dass im Zweifeln die ganze Weisheit des Lebens liege, und deswegen zweifelte er ständig an irgendjemand. Nicht glauben, was man erzählt bekommt, und alles bezweifeln, was andere tun, das unterscheidet einen Erwachsenen vom Kind und den Mann von der Frau. Piero war sehr daran gelegen, allen kundzutun, dass er ein erwachsener Mann war. Alle versuchten ihn zu täuschen, und das musste er ihnen sagen. Am besten, bevor sie es auch nur versuchten. Er war kein Paranoiker, aber es gab für Piero keine größere Schande, als hintergangen zu werden, ohne dass er es, Gott behüte, merkte. Seine Welt war schwarz oder weiß, auf eine Art, die Hasan fremd war, aber er nahm Piero, wie er war, nur ein wenig erschrocken - oder richtiger gesagt, besorgt - allein deshalb, weil er sah, was diese Haltung aus einem Menschen machen konnte. Wenn sich José mit einem ganzen Land zerstritten hatte und in ein anderes, größeres gezogen war, in dem er nicht so schnell jeden kennen lernen und hassen konnte, dann war Piero derjenige, der sich nur mit ihnen beiden nicht überworfen hatte. José imponierte er nur, aber Hasan liebte ihn. So blind und bedingungslos, wie sich Freunde in sehr alten Büchern lieben. Beim Billard waren sie gleich gut oder schlecht. Das Ergebnis hing genau genommen nur von Hasans Laune ab. War er übertrieben fröhlich und euphorisch, so wie heute, hatte Piero keine Chance, war er ruhig und mit sich im Reinen, verlor Hasan jede Partie. Am Ende gab es immer nur einen Spielstand: zehn zu null, mal für den einen, mal für den anderen, so dass sich ein Zuschauer, hätte es diesen je gegeben, unendlich gelangweilt hätte. Die Leichtigkeit von Hasans Hand und die Präzision seines Auges hingen zum größten Teil von Angela ab. Hatte sie - eine Seltenheit und in den letzten Jahren eine endemische Ausnahme - eine gute Phase oder war sie mit der Truppe auf Tournee, wurde Hasans Hand schwer, das Auge ungenau, die Bewegungen schwerfällig, und Piero gewann mühelos jede Partie.