St. Louis, Missouri
Januar 1849
»Trödle nicht so, Finola!« Madigan sprang am Broadway auf die Straße und wich einem Pferdeomnibus aus, der durch den schweren Matsch rollte. »Der Heiratsvermittler wartet.«
»Hetz mich nicht!« Finola Shanahan folgte ihrem jüngeren Bruder und stakste auf Zehenspitzen vorsichtig in den Matsch. Sie hob die schwarze Kutte hoch, die ihr die Schwestern der Barmherzigkeit großzügig überlassen hatten und die sie trug, wenn sie die Schwestern bei ihrer wohltätigen Arbeit begleitete. »Ich gehe, so schnell ich kann.«
»Mama und Papa haben von deiner Widerspenstigkeit die Nase voll.« Madigan schaute sie warnend an. Der Sechzehnjährige war mit seinen großen, blauen Augen und seinem braunen Haar bereits ein attraktiver junger Mann, nach dem sich die Mädchen umdrehten.
Alle behaupteten, dass sich Finola und Madigan von den sechs Shanahan-Kindern am ähnlichsten sahen. Ja, sie hatte die gleichen blauen Augen und das gleiche braune Haar wie er. Aber die Sommersprossen hatte Gott nicht gerecht zwischen ihnen aufgeteilt. Die hatte alle Finola abbekommen.
Der Winterwind zerrte an ihrer Haube und jagte einen Schauer über ihren Rücken. »Ich bin eine pflichtbewusste Tochter.«
Madigan schnaubte: »Und ich bin der Papst.«
Finola bekam Schuldgefühle. Sie war eine pflichtbewusste Tochter. Nur in einer Sache nicht: Sie wehrte sich gegen die Bemühungen ihrer Eltern, sie unter die Haube zu bringen.
Madigan sprang über eine halb zugefrorene Pfütze. »Sie wollen doch nur einen guten Eindruck auf den Heiratsvermittler machen.«
»Das ist mir bewusst.« Ihre Eltern wollten Oscar McKenna, den irischen Heiratsvermittler von St. Louis, vielleicht beeindrucken, aber Finola wollte Oscar so frustrieren, dass er sich weigerte, ihren Eltern zu helfen. Zu dem Termin mit ihm zu spät zu kommen, war ein guter Anfang.
Als sie einen weiteren vorsichtigen Schritt auf die belebte Durchgangsstraße machte, haftete sich der Matsch an ihre geschnürten Stiefel.
Eine mattgelbe Droschke kam auf sie zugerollt. Der Kutscher saß vornübergebeugt auf dem Kutschbock, hatte den Kopf eingezogen und die Krempe seines Zylinders tief in die Stirn geschoben. Er schien nicht darauf zu achten, wohin er fuhr. Die Zügel hielt er locker in der Hand, als würde das Pferdegespann auch ohne sein Zutun den Weg kennen.
Finola zwang ihre Beine, Madigan schneller zu folgen. Am Spätnachmittag dieses grauen Januartages herrschte in St. Louis viel Verkehr, besonders in der Washington Street am Broadway nahe am Flussufer, wo Fabriken, Lagerhallen und Geschäfte die unbefestigten Straßen säumten. Da der graue Himmel endlich aufgehört hatte, eine Mischung aus Regen und Schnee auszuspeien, waren anscheinend alle herausgekommen, um ihr Tagewerk abzuschließen.
Als ein mit Fässern beladener Bierwagen aus der anderen Richtung angerollt kam, blieb sie stehen. Der Fahrer beachtete sie genauso wenig wie der Droschkenkutscher. Dem Bierwagen folgte ein Pferdefuhrwerk, das randvoll mit Lebensmittelkisten und Tabakfässern beladen war.
Madigan war bereits auf der anderen Straßenseite und wollte nachsehen, wie weit sie inzwischen gekommen war. Entsetzt riss er die Augen auf. »Heiliger Bimbam, Finola! Komm von der Straße, bevor du überfahren wirst!« Mit hektischen Armbewegungen forderte er sie auf zurückzuweichen, während sein panischer Blick zu der Pferdedroschke raste, die mit ungebremster Geschwindigkeit geradewegs auf Finola zusteuerte.
Die Droschke war keine zehn Schritte mehr von ihr entfernt, und der Kopf des Fahrers war nach wie vor nach unten gebeugt, die Zügel lagen locker in seiner Hand und die Pferde trabten ihres Weges, ohne für eine einzelne Frau, die ihnen im Weg stand, ihr Tempo zu drosseln.
»Beeil dich, Finola!« Madigans Stimme nahm eine Dringlichkeit an, die ihren Puls mit einem Mal galoppieren ließ. Sie versuchte, ihre Füße dem Tempo ihres Herzschlags anzupassen, aber als sie sich umdrehte, blieb sie mit dem Stiefel in einer Fahrrille hängen. Im nächsten Moment verlor sie das Gleichgewicht.
Sie fing ihren Sturz mit den Händen und Knien ab und die dicke Matschschicht verhinderte eine schmerzliche Landung. Aber angesichts des immer näherkommenden Klirrens des Pferdegeschirrs und Quiet-schens der Wagenräder bemühte sie sich, sich schnell wieder aufzuraffen.
Die polternden Pferdehufe näherten sich unheilvoll.
Sie versuchte, im Matsch Halt zu finden, rutschte aber immer wieder zurück.
Mehrere Rufe - darunter Madigans Stimme - forderten sie mit wachsender Panik auf, sich in Sicherheit zu bringen. Ihr Herz schlug plötzlich so laut, dass sie nichts richtig hören konnte - außer der Sterbeglocke.
Sie würde sterben. Und sie konnte nichts dagegen tun.
»Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir ...« Doch die Worte des »Ave Maria« blieben in ihrer Kehle stecken und der Rest ihrer Bitte um Barmherzigkeit erstickte in einem angsterfüllten Schrei, während sie panisch versuchte, sich aus dem Matsch zu befreien.
Aber mit jeder Bewegung, die sie machte, versank sie tiefer im Schlamm, der sie wie mit eisernen Händen festzuhalten schien.
»Flach hinlegen!«, durchdrang eine tiefe Stimme ihre Panik.
Während sie sich auf den Zusammenprall mit den Pferden und der Droschke einstellte, machte ein Mann einen Satz auf sie zu, rollte sie auf den Rücken, warf sich auf sie und schirmte sie mit seinem Körper ab. Im nächsten Moment trabten die Pferde links und rechts an ihr vorbei. Die Hufe polterten so nahe neben ihrem Körper, dass sie wie erstarrt liegen blieb.
Der Mann, der wie ein Schutzschild auf ihr lag, rührte sich genauso wenig und stellte sich eindeutig darauf ein, von den Pferdehufen getroffen zu werden. Er drückte seinen Kopf neben ihren, so nahe, dass er ihre Haube verschob und sein schwerer Atem in ihrem Ohr widerhallte.
Sie wand sich innerlich und rechnete damit, dass er von den Hufen verletzt würde, aber sie wurden nur von beiden Seiten mit Matsch bespritzt.
Einen Moment später hatten die Pferde sie passiert, und die grünen Droschkenräder rollten heran. Der tiefe Unterbau des Gefährts glitt über sie hinweg, streifte aber den Rücken ihres Retters, der sich noch fester auf sie drückte.
Zum Glück hatte sie eine zierliche Figur und war nicht besonders groß. Trotzdem drückte sie sich so gut sie konnte in den Matsch, damit der Mann über ihr nicht verletzt wurde.
Als die Schatten der Droschke dem wolkigen Himmel über ihnen wichen, hob der Mann den Kopf, um die Straße nach weiteren Gefahren abzusuchen, vor denen er sie schützen musste.
Da er offenbar keine unmittelbare Bedrohung sah, entspannte sich sein Körper auf ihrem und seine Aufmerksamkeit kehrte zu ihr zurück. »Sind Sie verletzt?«
Finola blickte in die tiefblauen Augen des Mannes, die in diesem Moment beinahe schwarz wirkten. In seinen Augenwinkeln hatten sich Sorgenfalten gebildet und seine blonden Brauen zogen sich über einer geraden, schmalen Nase zusammen. Sein Hut war ihm vom Kopf gestoßen worden, und sein blondes Haar fiel ungezähmt in seine Stirn.
Er schaute sie eindringlich an und würde sicherlich erst beruhigt sein, wenn sie ihm versicherte, dass sie unverletzt war. Sie untersuchte im Geiste schnell ihre Gliedmaßen und wackelte gleichzeitig mit den Fingern und Zehen. Nichts schien zu fehlen oder gebrochen zu sein. »Ich denke, ich bin unverletzt.«
Er warf erneut einen Blick über seine Schulter und dann die Straße hinab in die entgegengesetzte Richtung. Die Wagen um sie herum waren alle zum Stehen gekommen.
Alle bis auf einen.
Als denke er das Gleiche, richtete ihr Retter seinen Blick auf die Droschke, das einzige Fahrzeug, das nicht stehen geblieben war und in seinem rücksichtslosen Tempo weiterraste, als wäre es etwas völlig Alltägliches, Fußgänger zu überrollen.
Er runzelte die Stirn und sein markantes Kinn, das von hellbraunen Bartstoppeln überzogen war, verhärtete sich energisch. Trotz seiner jetzt beinahe finsteren Miene fiel Finola auf, dass er sehr attraktiv aussah.
»Hey, Sankt Riley, der heilige Riley hat wieder jemanden gerettet!«, rief jemand.
Sankt Riley? Riley Rafferty, der als Sankt Riley aus dem Kerry-Viertel in St. Louis bekannt war?
Sie hatte ihn nie wirklich persönlich kennengelernt. Aber die irische Gemeinde in St. Louis war so klein und überschaubar - wenigstens war sie das bis vor einigen Jahren gewesen -, dass sie fast von jedem Iren in der Stadt gehört und die meisten irgendwann bei einer Parade, Messe, Hochzeit oder Beerdigung gesehen hatte. Deshalb war sie Riley Rafferty in ihren dreiundzwanzig Jahren selbstverständlich hin und wieder begegnet.
Aber er war einige Jahre älter als sie und verkehrte nicht in denselben gesellschaftlichen Kreisen wie ihre Familie. Sie hatte sich nie Gedanken über ihn gemacht, bis sie im letzten Herbst mit eigenen Augen gesehen hatte, wie er in den Mississippi gesprungen war, um einen Schiffsjungen vor dem Ertrinken zu retten.
In den vier Monaten seit jener Rettungsaktion hatte sie ihn gelegentlich aus der Ferne beobachtet und genauso wie alle anderen über seine wagemutigen Taten gestaunt.
Und jetzt war er hier!
Ihr Atem stockte, aber dieses Mal nicht aus Angst, von einem rasenden Fahrzeug überrollt zu werden. Nein, sie war atemlos, weil der heldenhafte Riley Rafferty ihr das Leben gerettet hatte.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass er der Länge nach auf ihr lag - mit seiner breiten Brust, seinem muskulösen Oberkörper, seinen kräftigen Armen und langen Beinen. Da sie zugesehen hatte, wie er damals triefend nass aus dem Fluss gestiegen war, wusste sie, dass er ein muskulöser, kräftiger Mann war. Sie fühlte sich in diesem Moment, als wäre die Welt stehen geblieben. Nichts und niemand konnte ihr etwas anhaben, solange Riley bei ihr war. Dieses Gefühl der Geborgenheit, das sie seit vielen Jahren nicht mehr erlebt hatte, erstaunte sie.
»Finola Shanahan!«, ertönte Madigans laute Stimme über ihr. »Was soll ich nur mit dir machen?«
Als Riley ihren Namen hörte, zog er die Brauen hoch und seine Augen wurden ein wenig heller. Erkannte er sie?
Höchstwahrscheinlich kannte er ihren Nachnamen. Ihr Vater gehörte zu den prominentesten Männern von St. Louis. Und zu den reichsten.
Riley schien sie genauso zu mustern wie sie ihn, denn sein Blick wanderte langsam über die Sommersprossen auf ihrer Nase und ihren Wangen.
Natürlich lebten in St. Louis noch andere Iren mit dem Namen Shanahan, und er erkannte vielleicht nicht, dass sie die älteste Tochter des Eisenmagnaten James Shanahan war, des Alleineigentümers der Shanahan-Eisenwerke.
»Sind Sie sicher, dass Sie nicht verletzt sind, Schwester?« Riley schaute sie mit fragenden Augen an.
Schwester? Hielt er sie für eine Nonne? Dieser Irrtum war vermutlich nur natürlich, da sie eine Schwesterntracht trug. Sollte sie die Sache klarstellen?
»Komm jetzt, Finola!« Madigan hielt ihr eine Hand hin.
Irgendwie wollte sie Riley erklären, dass sie keine Nonne war. Aber wozu? Sie hatte die feste Absicht, in den Orden der Schwestern der Barmherzigkeit einzutreten . sobald sie ihre Eltern überreden konnte, ihr das zu erlauben.
Aber zuerst musste sie deren neuesten Plan vereiteln, sie mit Hilfe des Heiratsvermittlers unter die Haube zu bringen. Wenn sie ihre Bemühungen zunichtemachte, würden sie sicher einsehen, dass Finola nach so vielen gescheiterten Versuchen, einen geeigneten Mann zu finden, dazu bestimmt war, die Braut Christi zu werden.
Als er Madigans ausgestreckte Hand sah, begann Riley, sich aufzurappeln. Am liebsten hätte Finola ihn festgehalten, damit er sie nicht verlassen konnte. Woher kam dieser völlig irrationale Impuls? Dieser Mann war ein Fremder! Und sie konnte nicht noch länger mitten auf dem belebten Broadway im Matsch liegen bleiben.
Während sich Riley behutsam von ihr hochschob und aufstand, jubelten und klatschten die Umstehenden.
Madigan beugte sich nach unten, um ihr auf die Beine zu helfen, aber sie konnte ihren Blick nicht von Riley losreißen.
Ein Junge lief auf Riley zu und reichte ihm ehrfurchtsvoll seinen Hut, der im Matsch gelandet war. Riley drückte dankend die Schulter des Jungen, bevor er den abgenutzten Filzhut auf seinen Kopf setzte. Er winkte den Zuschauern grinsend zu, als hätte er ihnen eine Theateraufführung dargeboten, die er wochenlang eingeübt hatte.
Obwohl Rileys Hose und Wollstrümpfe dick mit Matsch bespritzt waren, waren sein Mantel und das Leinenhemd darunter fast unversehrt geblieben. Im Gegensatz zu ihrer Kleidung!
Sie brauchte nicht nach unten zu blicken, um zu wissen, dass sie wie ein Schwein aussah, das sich gerade im Schweinepfuhl gewälzt hatte. Der Matsch klebte nicht nur vorne an ihr, sondern auch hinten. Und auch ihr Gesicht war schlammbeschmiert.
Riley fand bestimmt, dass sie schrecklich aussah.
Als habe er ihre Gedanken gelesen, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf sie. Der Ernst war aus seiner Miene verschwunden. Stattdessen funkelten seine Augen belustigt und seine Mundwinkel zuckten, als seien es seine Lippen gewohnt zu lächeln.
Fand er ihr Aussehen etwa lustig?
Sie wollte den Matsch von ihrer Wange wischen, unterließ es aber. Was Riley Rafferty über sie dachte, war egal. Es war egal, was irgendein Mann über sie dachte.
Sie richtete sich zu ihren ganzen ein Meter achtundfünfzig auf. »Danke, dass du mir das Leben gerettet hast. Du bist ein guter Junge.«
Riley zog die Brauen hoch. »Gern geschehen.«
Jeder, der bei klarem Verstand war, sah, dass Riley ein erwachsener Mann war, der mit beiden Beinen im Leben stand. Aber ihre Verehrer zu behandeln, als wäre sie sechzig Jahre älter als sie, erstickte normalerweise jedes aufflackernde Interesse im Keim. Natürlich war Riley kein Verehrer. Und er hatte auch kein Interesse an ihr. Trotzdem sollte er wissen, dass sie sich in keiner Weise zu ihm hingezogen fühlte. Absolut nicht.