Sie umklammerte sein Handgelenk fester. Die Haut spannte.»Komm, jetzt tun wir es«, sagte Jenny und zog ihn kichernd hinter sich her.Er wehrte sich.»Der Künstler glaubte, er würde funkeln, aber das funktioniert nicht bei der Größe. Das mit dem Funkeln.« Sie zog ihn weiter.»Was meinst du?«Sie antwortete nicht.Jenny hörte ihn nicht oder tat vielleicht nur so.»Pass auf! Die Taxifahrer fahren um diese Tageszeit wie die Irren«, sagte sie lachend und trat in den zweispurigen Kreisverkehr, ohne sich auch nur umzusehen.Tobias wehrte sich noch mehr.»Warte, was sollen wir denn da? Das gibt doch nur Ärger. Ich habe keine Lust, den ganzen Vormittag in einer Ausnüchterungszelle zu sitzen.«»Komm schon. Die Bullen haben um diese Zeit was Besseres zu tun. Kein Mensch wird sich um uns kümmern.«Sie runzelte die Stirn, starrte ihn gespielt angestrengt an und zog erneut an seinem Arm. Dann ließ sie ihn los und rannte lachend in die Mitte des Kreisverkehrs.Er gab nach und lief hinterher.Das Wasser schimmerte hellgrün. Es wurde von Lampen am Boden des Beckens beleuchtet. Die Wasserstrahlen, die sonst glitzernde Bögen bildeten, waren abgestellt, vielleicht war irgendwas kaputt. Aus wenigen Metern Entfernung sah er, dass der Glasobelisk aus gegeneinander verschobenen, unterschiedlich dicken Glasplatten bestand. Straßenstaub und Abgase lagen wie eine Fettschicht auf der Oberfläche des Obelisken und dämpften das strahlende Licht in seinem Inneren. Er erreichte sie und folgte ihrem Blick zur Spitze des Glaspfeilers. Eine Weile standen sie nebeneinander da und betrachteten ihn.Sie brach das Schweigen.»Mitten ins Herz.«»Was?«»Mitten ins Herz. Das denke ich manchmal. Ein Speer, der mitten ins Herz getroffen hat, ins Herz der Stadt.«Er schüttelte den Kopf, als wäre sie ein kleines Kind, das unfreiwillig etwas Lustiges gesagt hatte.»Ich würde es eher als das Arschloch der Stadt bezeichnen. Ein Speer ins Arschloch der Stadt. Ich kann mir kaum einen schlimmeren Ort vorstellen. Hier oben verdreckt, und ein Stockwerk tiefer voller menschlichem Abfall«, sagte er mit einer Mischung aus Abscheu und Zärtlichkeit in der Stimme.»Nein, es ist das Herz. Alles beginnt hier, sowohl das Schöne als auch das Hässliche, genau wie im Leben selbst«, sagte Jenny.Er grinste.»Wie viel hast du eigentlich getrunken? Komm, lass uns abhauen.«»Nee, zuerst gehen wir baden. Wenn wir schon mal hier sind, können wir genauso gut ins Wasser springen. Runter mitden Klamotten.«Ein paar Taxis, die vorbeifuhren, hupten, aber keiner schien sich ernsthaft an den Nachtschwärmern mitten im Kreisverkehr zu stören. Ein Streifenwagen mit eingeschalteterSirene fuhr vor einem Krankenwagen her. Es dröhnte in den Ohren. »Wovon redest du? Sollen wir uns ausziehen?«, sagte er, als die Sirenen verstummt waren. »Ja, klar, willst du nachher etwa nass durch die Gegend laufen?« »Wir müssen ja nicht baden gehen. Das wäre das Allereinfachste.« »Stell dich nicht so an.« Jenny zog sich ihren Pullover über den Kopf. Ihre Brüste hoben sich weiß von der übrigen sonnengebräunten Haut ab. Sie stieg aus ihrer Hose, behielt jedoch den Slip an. Dann trat sie mit einem großen Schritt auf die niedrige Betonmauer und sprang entschlossen ins Wasser. »Du kannst alleine baden, ich habe keine Lust«, sagte er bockig zu ihrem Rücken. Tobias ging der Spaß langsam zu weit. Er sehnte sich weg, wurde langsam müde. Jenny watete ein Stück ins Wasser hinein, das ihr bis zu den Knien reichte. Sie legte sich auf den Bauch und tat so, als würde sie kraulen, stieß aber mit den Knien auf den Boden des Beckens. Der Beton war rau, und sie schrammte sich ein Knie auf. Es begann zu bluten. Das war ihr egal. Ein heller Blutstreifen bildete sich im Wasser, löste sich aber wieder auf, als sie mit den Armen auf das Wasser eindrosch. »Super«, rief sie und bewegte sich mit gespielten Kraulbewegungen weiter von Tobias weg. Ein Flyer flog vom Asphalt auf und drehte ein paar Pirouetten in dem lauen Wind, der zwischen den hohen Häusern heranwehte, die den Brunnen umgaben. Tobias folgte dem Handzettel mit dem Blick, bis er neben der niedrigen Beckenkante landete. Er schaute wieder zu Jenny hinüber und sah, dass sie aufgestanden war. Das Wasser tropfte silberglänzend an ihr herab. Sie lachte, und es schauderte sie, als der Wind über ihren nackten nassen Körper strich. Ihre Brustwarzen wurden steif, und ihre dünnen hellen Arme überzog eine Gänsehaut. »Das Leben ist zu schön. Jetzt kann es kaum noch besser werden«, rief sie. Aber er hörte sie nicht, er hatte aufgegeben. Er ließ sie gewähren und blickte stattdessen auf die Glasfassade des Kulturhuset auf der gegenüberliegenden Seite. Dahinter verschaffte sich die Stadt ein kulturelles Alibi. Ihm gefiel das Gebäude jedoch. Es repräsentierte in gewisser Weise etwas Neues, eine Zukunft. »Ich begreife nicht, warum so viele dieses Haus hassen«, sagte er laut. »Immer dieses verdammte Gejammer darüber, wie schön es war, bevor sie alles plattgemacht haben. Dafür gibt es ja verdammt noch mal die Altstadt.« Jenny war auf der anderen Seite angelangt und stand jetzt wieder auf dem Rand des Brunnenbeckens. Das Wasser funkelte auf ihrer Haut, und die roten Lichter leuchteten grell, als die Autofahrer bremsten, um einen Blick auf die Verrückte der Nacht zu werfen. Keine anderen Menschen waren zu sehen. Tobias kam der Gedanke, dass es hier seltsam ausgestorben wirkte, obwohl sie sich mitten in der Hauptstadt befanden. Eine Unruhe erfüllte ihn, ein seltsames Gefühl des Unbehagens. »Komm jetzt, wir gehen«, rief er. Jenny ging langsam auf der Umrandung des Beckens entlang. Sie hielt die Arme ausgestreckt, als wollte sie fliegen. Fast wie eine Seiltänzerin. »Ich komme«, rief sie. »Tobias, ich komme jetzt zu dir.« Ihre Stimme trug nicht recht über das Wasser. Die Worte wurden vom Wind davongeweht.Ulf Holtz stand am Rand des Beckens und sah hinein. Ihr blondes Haar schien zu schweben, zumindest um den sichtbaren Teil ihres Kopfes herum. Sie lag auf dem Rücken eingekeilt zwischen zwei Scheinwerfern und einem dicken Rohr auf dem Bassinboden. Die obere Kopfhälfte wurde von dem Rohr verdeckt. Sie trug nur einen Slip. Der Körper war graugrün, und die Augen starrten ihn mit leerem Blick an. Ertrunken, dachte er. Sie könnte ertrunken sein, oder sie hat sich den Kopf irgendwo angeschlagen. Oder beides. Ein vertrautes Gefühl der Trauer drang durch sein beruflich bedingtes dickes Fell. Wie sinnlos, wie verdammt sinnlos! Er betrachtete sie lange, und seine Gedanken schweiften ab. Die Gesichter seiner eigenen Mädchen tauchten vor seinem inneren Auge auf. Obwohl beide schon vor langer Zeit von zu Hause ausgezogen waren und ihr eigenes Leben führten, machte er sich ständig Sorgen um sie. Sie hänselten ihn deswegen. Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben und sich ganz auf das tote Mädchen auf dem Grund des Beckens zu konzentrieren. Ihre Nacktheit brachte ihn in Verlegenheit. Verdammt sinnlos, dachte er wieder. Der gesamte Kreisverkehr war abgesperrt. Blauweißes Plastikband war in einem Kreis um das Becken die Gehsteige entlang aufgespannt. Der Verkehr wurde umgeleitet. Es war immer noch früher Morgen, und kaum ein Mensch hielt sich auf der Straße auf. Obwohl Sonntag war, würde es zu einem Verkehrschaos führen, wenn sich die Busse und Autos andere Wege suchen mussten. Holtz hatte, als er in der Morgendämmerung eingetroffen war, einen Augenblick lang erwogen, vorsichtshalber auch die U-Bahnstation unter dem Kreisverkehr absperren zu lassen, es dann aber bleiben lassen. Es handelte sich vermutlich um einen Unfall, und eine solche Maßnahme würde zu Protesten führen. Nichts verärgerte die Großstädter so sehr, wie wenn der öffentliche Nahverkehr lahmgelegt wurde. Eine tote junge Frau änderte daran nichts. Er hatte ganze Bahnhöfe absperren lassen, sowohl Fernverkehr als auch U-Bahn, um nach Raubüberfällen Spuren zu sichern. Aber den Polizeichef hatten diese Maßnahmen oft nur wenig begeistert und zu der Frage veranlasst, ob das wirklich nötig sei, deswegen hatte er immer häufiger auf Absperrungen verzichtet. Außerdem war schwere Kriminalität inzwischen so alltäglich, dass ständig irgendein Bahnhof gesperrt sein würde, wenn er und die anderen Kriminaltechniker ihren Willen durchsetzen würden. Das würde allerdings überwiegend die Vororte betreffen, in denen die Räuber immer in die U-Bahnhöfe flüchteten, nachdem sie einen bemitleidenswerten Kioskbesitzer um eine vernachlässigbare Summe erleichtert hatten. Hass und Abneigung richteten sich dann meist gegen die Polizei und nicht gegen die Räuber. So gesehen war es also das Beste, auf Absperrungen zu verzichten. Er wandte sich wieder dem Becken zu. Holtz wollte eigentlich nichts dem Zufall überlassen, musste sich aber eingestehen, dass er diesen Einsatz nicht sonderlich ernst nahm. Vermutlich ein Unfall, vielleicht ein Spiel, das schiefgelaufen ist, dachte er und kratzte seine Bartstoppeln. Er hatte es morgens eilig gehabt, nicht einmal zum Duschen war ihm Zeit geblieben. Er fühlte sich klebrig. Holtz machte den Fotoapparat los, der um seinen Hals hing, und schoss eine Serie Fotos. Eines nach dem anderen, überlappend, einmal im Kreis. Dann bekam er die Tote auf den Monitor und drückte auf den kleinen Metallknopf auf der Oberseite der Kamera. Ein zur Hälfte gefülltes rotes Quadrat zeigte an, dass sich der Akku zu leeren begann. Es blinkte eindringlich, Aufmerksamkeit heischend. Ulf Holtz hatte zwar den Akku gewohnheitsmäßig über Nacht aufgeladen, er wurde aber langsam alt. Er hatte sich vorgenommen, ein paar Reserveakkus zu kaufen, woraus jedoch bislang nichts geworden war. Das ärgerte ihn jetzt. Es blitzte. Er schaltete den Blitz aus, damit das Wasser nicht reflektierte und um den Akku zu schonen. Ich kann die Fotos später am Bildschirm aufhellen, dachte er. Ulf Holtz verließ die Tote und folgte langsam dem Beckenrand. Er achtete genau darauf, wo er hintrat. Seine Schuhe steckten in schwarzen Überzügen. Er verabscheute die hellblauen, unförmigen, die vor langer Zeit in riesigen Mengen gekauft worden waren. Sie schienen nie zur Neige zu gehen, vielleicht kaufte auch jemand nach. Sie raschelten, und das ging ihm auf die Nerven. Außerdem rutschte man leicht in ihnen aus. Er hatte sich stattdessen Überzüge aus schwarzem Wildleder nähen lassen. Entscheidend war, keine eigenen Schuhabdrücke zu hinterlassen, und dazu eignete sich Leder genauso gut. Seine Kollegen von der forensischen Abteilung schüttelten über seine Eigenwilligkeiten den Kopf und spotteten sogar darüber. Sein erfahrener Blick suchte nach Ungewöhnlichem, Dingen, die fehl am Platz waren, doch obwohl er um das ganze Becken herumging, fiel ihm nichts Besonderes auf. Ich werde die Runde noch ein paar Mal abgehen müssen, dachte er. Als Ulf Holtz wieder zu der Stelle gelangte, an der das Mädchen lag und zu ihm hochstarrte, hielt er inne. Ohne es zu merken, kratzte er sich wieder die Bartstoppeln. Das Gesicht des Mädchens war nur verschwommen zu erkennen, da der Kopf ein paar Zentimeter unter der Wasseroberfläche lag. Ihr Haar erinnerte ihn an Seegras. Dünnes und leichtes Seegras. Holtz setzte sich mit dem Rücken zu ihr auf den Beckenrand, zog die Schuhschoner, seine dunklen Lederschuhe und die Strümpfe aus. Er stellte die Schuhe auf den Rand und legte die Strümpfe ordentlich darauf. Die Überzüge steckte er in die Tasche. Dann krempelte er seine dunkelbraune Cordhose auf, drehte sich um und stieg neben dem Mädchen ins Wasser. Es war kalt. Die Hose wurde nass. Ich hätte sie noch weiter hochkrempeln sollen, dachte er und setzte sich auf den Rand. Nach ein paar Minuten rief er eine der Polizistinnen, die bei der Absperrung standen, zu sich. Sie sieht kräftig aus, dachte er. Die Polizistin deutete mit einem fragenden Gesichtsausdruck auf sich. Er nickte. Schlendernd, fast zögerlich, kam sie auf ihn zu und achtete dabei darauf, auf die Leichtmetallroste zu treten, die Holtz bei seinem Eintreffen ausgelegt hatte. Die Gitter führten von der Absperrung in rechtem Winkel zum Becken. Niemand durfte, solange Holtz das Sagen hatte, innerhalb der Absperrung diesen provisorischen Weg verlassen. »Können Sie mir helfen, sie herauszuziehen?« »Muss das sein?« »Ja, zu zweit geht es leichter, nicht wahr?«, sagte er mit freundlicher, aber unnachgiebiger Stimme. Sie antwortete nicht, sondern kletterte auf den Rand und von dort ins Wasser. Bläschen stiegen auf, als sich ihre schwarzen, hohen, gewienerten Stiefel mit dem kalten Wasser füllten. »Was soll ich tun?«, fragte sie gleichmütig, aber Holtz konnte ein leichtes Zittern in ihrer Stimme ausmachen. »Wenn Sie ihren Arm und Oberkörper fassen und sie zu sich drehen, während Sie sie herausziehen, dann stütze ich ihren Kopf. So können wir die Leiche auf den Bauch wenden, ohne dass sie irgendwelche Schäden davonträgt. Abgesehen von denen, die bereits vorhanden sind.« Ihr Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass sie es unangenehm fand, die junge Frau im Wasser mit dem Gesicht nach unten zu drehen. »Packen Sie an«, sagte Holtz. Die Tote drehte sich im Wasser, blieb aber an einem der Scheinwerfer hängen. Holtz musste ein wenig an dem Körper rütteln. Dann fiel der Leichnam platschend auf den Bauch und erzeugte dabei kleine Wellen. »Eines ist sicher. Ertrunken ist sie nicht. Jedenfalls nicht danach«, sagte Holtz. Die Polizistin starrte auf die Leiche im Wasser.Das Bild stellte ein Haus in fröhlichen, vorwiegend rötlichen Farbtönen dar. Die Sonne war mit gelber, leuchtender Wachsmalkreide gemalt und warf vier spitze Strahlen über die Idylle, eine flatternde Fahne an einer Fahnenstange verkündete, in welchem Land das Haus stand. Pia Levin trug Gummihandschuhe, während sie das Bild in das weiße Licht der Lampe hielt. Sie drehte das dicke Papier hin und her, ohne etwas anderes als den abgebildeten Sommertag entdecken zu können. Dann legte sie das Bild mit der Vorderseite auf eine Metallplatte und bedeckte die Rückseite mit einer dünnen Plastikfolie. Als Pia Levin das DLI, das Dustprint Lifting Instrument, oder den Staubheber, wie sie ihn nannte, über das Plastik führte, begannen ihre Gedanken abzuschweifen. Warum war er ihr gegenüber in letzter Zeit so unleidlich? Obwohl sie kein konkretes Beispiel hätte anführen können, hatte sie das Gefühl, dass er einen Abstand zwischen ihnen geschaffen hatte. Sie erinnerte sich an die erste Begegnung mit dem legendären Ulf Holtz. Damals war sie nervös gewesen, Anfängerin, ihr erster Tag bei der forensischen Abteilung. Gerüchteweise hatte sie schon von diesem Genie der Kriminaltechnik gehört und anfänglich fast Angst vor ihm gehabt, dann aber recht bald, nach nur wenigen Monaten, begriffen, dass auch er kein Übermensch war, sondern nur sehr kenntnisreich und genau. Und etwas seltsam. Sie verstanden sich und hatten jahrelang ein effizientesTeam dargestellt. Damals war er der King gewesen. Dann war sein Stern ziemlich gesunken. Aber sie hatte ihrem Kollegen in guten wie in schlechten Zeiten den Rücken gestärkt. Und schlechte Zeiten gab es reichlich. Der Fall mit dem Minister nahm ihn sehr mit. Die ganze Abteilung bekam es ab. Sie nahm ihn jedoch immer in Schutz, obwohl sie gelegentlich überlegte, ob dies so klug sei. Ihre Freundschaft siegte jedoch immer über ihre Sorge um ihre eigene Karriere. In letzter Zeit überlegte sie jedoch, ob es die ganzen Streitigkeiten wert gewesen war. Holtz war mittlerweile wieder mehrheitsfähig, aber irgendwas an ihm kam ihr seltsam vor. Bereits mehrfach hatte sie ihn darauf ansprechen wollen, aber irgendwie war dann nie etwas daraus geworden. Morgens war sie immer fest entschlossen gewesen. Sie wollte sich Klarheit verschaffen, eine direkte Frage stellen. Dann kam ihre Entschlossenheit stets abhanden, wenn sie ihm gegenüberstand. Ihre eigene Unsicherheit ärgerte sie. Pia Levin stellte das DLI ab, und das kräftige, vom Gleichstrom erzeugte Spannungsfeld verschwand. Sie zog die Folie, die sich nur widerstrebend von der umgedrehten Zeichnung löste, vorsichtig ab. »Tralala. Ich wusste es«, sagte sie laut. Das Spannungsfeld hatte einen kaum sichtbaren Abdruck von dem Papier auf die Folie übertragen. Sie legte die Folie auf eine schwarze Pappe, so dass der graue Staubabdruck eines Schuhs oder vielleicht eines Stiefels besser zu sehen war. Sie hatte den süßen Geschmack des Triumphes auf der Zunge. Es spielte keine Rolle, ob es um fortschrittliche DANN-Technik, einfache Fingerabdrücke oder ballistische Geschossuntersuchungen ging. Oder um Schuhabdrücke. Es war jedes Mal gleichermaßen aufregend, wenn sich ein Rätsel seiner Lösung näherte. Sie klemmte die Pappscheibe unter eine Kamera, die fest auf ein Stativ montiert war, und machte eine Reihe Schwarzweißaufnahmen. Der Auslöser klickte bei jedem Bild. Pia Levin hatte den Soundeffekt selbst so eingestellt, da es ihr so am echtesten, wirklichsten vorkam. Sie änderte einige Male die Tiefenschärfe und machte mit der neuen Einstellung jeweils weitere Aufnahmen. Der Abdruck war perfekt. »Was machst du?« Sie drehte sich der Stimme zu. Holtz stand in der Tür und sah sie an. »Dieses Lächeln kenne ich doch. Du bist auf etwas gestoßen, stimmt's?«, sagte er, als sie nicht antwortete. »Einbruch in ein Einfamilienhaus. Sah aus wie ein Schlachtfeld. Alle Schubladen herausgerissen und die Schränke geöffnet. Ich habe leider keine Abdrücke gefunden, obwohl ich fast alles präpariert habe. Sie müssen also Handschuhe getragen haben. Dafür habe ich das hier gefunden.« Sie hielt das Bild in die Höhe. »Was ist das?« »Das lag vor dem aufgebrochenen Küchenfenster auf dem Fußboden. Vielleicht hat das Bild ja am Kühlschrank gehangen und ist runtergefallen, als die Einbrecher gewütet haben. Einer der Einbrecher muss draufgetreten sein, als er durch das Fenster wieder aus dem Haus geklettert ist.« »Blöd wie immer also. Aber solange sie nicht fliegen lernen«, meinte Holtz. Den Abdruck würde sie später auf Anhaltspunkte darüber absuchen, ob der Absatz seitlich abgetreten war und ob sich irgendwo das Logo des Herstellers erkennen ließ. Jede Schuhsohle war einzigartig, und falls es einem eifrigen Polizisten wider Erwarten irgendwann gelang, die Einbrecher aufzuspüren, würde man sie vielleicht mit Hilfe eines Schuhs überführen können. Vielleicht würde man sie auf frischer Tat ertappen und konnte dann zwei Einbruchsdelikte auf einmal lösen. Hatte man erst einmal eine Spur gesichert, dann knickten sie häufig ein und legten ein Geständnis ab. Sonst bekam man nicht viel aus ihnen heraus. Das hatten sowohl Levin als auch Holtz oft erlebt. Deswegen gaben sie nie auf, unternahmen nie einen nur halbherzigen Versuch, egal wie aussichtslos das Unterfangen wirken mochte. Selbst die winzigste Spur, die einem Täter zugeordnet werden konnte, war wichtig, manchmal wichtiger als alles andere. »Schon seltsam, dass die Schurken fast immer ihre Schuhe behalten, aber alles andere wegwerfen, oder?«, sagte Pia Levin und konzentrierte sich wieder auf die Kamera. »Es dauert eine Weile, bis man ein Paar Schuhe eingelaufen hat. Jacken und Mützen mit Augenschlitzen kann man sich leicht wieder beschaffen, aber ein Paar eingelaufene Stiefel wirft man auch dann nicht weg, wenn einem die Bullen auf den Fersen sind.« »Die Bullen? In was für Kreisen verkehrst du eigentlich?«, fragte sie, immer noch mit dem Rücken zu ihm. Als er nicht antwortete, drehte sie sich um, um nachzusehen, ob er Witze machte. Aber er schien in Gedanken schon woanders zu sein. Sie nahm die letzte Aufnahme und betrachtete zufrieden das Ergebnis. Eigentlich war sie nicht sonderlich optimistisch, dass sie das Sommerbild zu dem Täter führen würde. Aber es tat ihrem Berufsstolz gut, eine handfeste Spur zu haben. Der Einbruch würde wahrscheinlich nach ein paar Tagen mit der Begründung, Anhaltspunkte zur Strafverfolgung fehlten, zu den Akten gelegt werden, falls dies nicht schon passiert war. Die Anzeige bei der Polizei war ohnehin eigentlich nur eineFormsache für die Versicherung, und normalerweise befassten sich die Kriminaltechniker auch nicht mit einfachen Einbrüchen, aber jetzt war gerade wieder einmal alles im Umbruch. Die Alltagskriminalität habe nun Vorrang, hieß es. Außerdem hatte sie am Wochenende Bereitschaft gehabt, und es war sonst nicht viel zu tun gewesen. »Ich habe was Kniffliges für dich«, sagte Ulf Holtz, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Sie sah ihn ein wenig misstrauisch an. Es war mehrere Wochen her, dass er sie zuletzt um Hilfe gebeten hatte. »Der Brunnen in der Innenstadt, der mit der Glassäule, muss geleert und das Wasser sorgfältig gefiltert werden. Du könntest damit anfangen, denjenigen zu suchen, der für die Wartung zuständig ist«, sagte er. »Was ist passiert?« »Eine junge Frau ist dort irgendwann heute Nacht gestorben. Nackt und mit einer großen Kopfwunde.« »Wie groß?« »Viel zu groß. Ein Drittel des Kopfes ist weg. Das halbe Gehirn ist in den Brunnen gelaufen. Du müsstest unter anderem nach Resten des Kopfes suchen. Und anderen Auffälligkeiten. Auch normalen Dingen, versteht sich, aber das weißt du ja.« »Was wissen wir bis jetzt?« »Du kannst das Wenige, was bislang bekannt ist, lesen. Ich habe dir die Notizen übers Intranet geschickt«, sagte Ulf Holtz und ging mit einem Kopfnicken. Pia Levin stellte das DLI ab und verstaute es sorgfältig in einer schwarzen, schaumstoffgepolsterten Tasche, die sie neben das Kamerastativ in einen Schrank stellte. Sie musste etwas drücken, damit die Tasche hineinpasste, und stellte verärgert fest, dass ein Metallteil des Stativs auf der Tasche eineSchramme hinterließ. Bevor sie ihr Büro abschloss, verstaute sie auch noch die dünne Stahlplatte, auf der eben noch das Sommerbild gelegen hatte. Den Schuhabdruck legte sie einstweilen beiseite. Er würde in die nationale Datenbank eingespeist werden, aber das konnte warten. Pia Levin nahm eine dünne Plastikschüssel mit Salat aus einem weißen Kühlschrank, auf dem stand: »Proben! Finger weg!« Auf der Schüssel stand »Pastasalat mit Huhn«. Ein kleiner Behälter mit Dressing war auch dabei. Currydressing. Zuunterst lag ein Nudelklumpen, der immer gleich schmeckte, egal welchen Salat man wählte. Mit dem Salat in einer, einer Flasche Mineralwasser in der anderen Hand sah sie an ihrem Computer Holtz' Notizen durch. Das dauerte nur wenige Minuten. Dann entschloss sie sich, ein paar Telefongespräche zu führen. Es gibt sicher auch am Wochenende einen Brunnenverantwortlichen, dachte sie und spießte ein Stück mit Zuckerlösung gesättigtes Huhn auf ihre Plastikgabel. Enttäuscht stellte sie fest, dass es mehr an Gummi als an Hühnerfleisch erinnerte.Das Wasser sah hellgrau aus. Es enthielt nicht die geringste Menge Blut, zumindest nichts, was mit bloßem Auge zu sehen gewesen wäre. Es roch nach sonnenbeschienenem Asphalt und Chlor. Der Sommer war früh angebrochen. »Die Filterleistung beträgt mehrere Tausend Liter in der Stunde. Das klingt vielleicht nach viel, aber es dauert trotzdem, bis das ganze Wasser ausgetauscht ist, das kann ich Ihnen sagen.« Der Polizist an der Absperrung schien an der Vorlesung nur mäßig interessiert zu sein. Er bemühte sich, den aufdringlichen Mann, so gut es ging, zu ignorieren. Am liebsten hätte er ihn zum Teufel gejagt. Börje Andersson, der ohnehin nur widerwillig die Wochenendbereitschaft übernommen hatte, stand außerhalb der Absperrung und versuchte, den uniformierten Polizisten zu überreden, dass er ihn vorbeiließ. Obwohl er immer wieder erklärt hatte, dass er und sonst niemand die Verantwortung für den Betrieb des Springbrunnens habe und er außerdem von einer Beamtin gebeten worden sei zu erscheinen, ließ man ihn nicht vor. Deswegen war Börje Andersson dazu übergegangen zu erklären, wie der Springbrunnen funktionierte. Er stieß auf taube Ohren. Börje Andersson war daher nicht sonderlich sonniger Laune, als eine Frau mittleren Alters mit Kurzhaarschnitt auf ihn zutrat und sich als Kriminaltechnikerin Pia Levin vorstellte. Sie begrüßte ihn, ohne ihm die Hand zu reichen. »Kommen Sie mit«, sagte sie kurzangebunden und hob das blauweiße Absperrband an. »Zeigen Sie mir, wo das Wasser in die Filter gesaugt wird, und halten Sie sich dabei auf den ausgelegten Rosten.« Andersson zog den Kopf unter dem Absperrband ein und folgte Levin. Er warf dem Polizisten in Uniform einen triumphierenden Blick zu. »Sind Ihre Kollegen immer so unfreundlich?« »Sie machen nur ihre Arbeit. Können Sie mir jetzt alles zeigen?«, sagte Pia Levin. Sie hatte keine Lust, sich auf eine unmögliche Diskussion über die Arbeitsmethoden der Polizei einzulassen. »Was ist eigentlich passiert?«, fragte Andersson aufgeregt und betrachtete ein gelbes Zelt, das im Becken stand. Er hatte eine Hand in der Hosentasche und in der anderen eine Zigarette. Nicht angezündet. Sein graues, fettiges Haar klebte am Kopf. Er roch ungewaschen.Das Zelt, eigentlich handelte es sich um zwei gelbe Persenninge, war ein Stück über das Becken und auch auf die Straße hinaus gespannt.»Jemand ist tot«, sagte Levin abweisend.»Aber warum haben Sie dann ein Zelt aufgebaut?«Seine Stimme war heiser und überschlug sich zum Satzende hin.Pia Levin seufzte und nahm sich zusammen.»Das ist wegen der Schaulustigen und der Sonne. Können Sie mir jetzt alles zeigen?«, wiederholte sie, und eine gewisse Ungeduld lag in ihrer sonst immer gleichmütigen Stimme.Ihr Telefon klingelte. Sie kannte die Nummer.»Warum rufst du von deinem privaten Handy an?«»Ich habe mein anderes nicht gefunden«, sagte die Stimme am anderen Ende.Pia Levin konnte nur den Kopf schütteln. Schon seltsam, dass er bei der Arbeit ein solcher Perfektionist war, aber seine eigenen Sachen nie fand.»Ich dachte, wir könnten diesen Fall gemeinsam bearbeiten. Man hat mich zum Tatortkoordinator ernannt, und ich hätte dich gerne dabei. Das Okay von oben gibt es schon. Bist du einverstanden?«, sagte Holtz.»Klar. Natürlich bin ich einverstanden. Wo bist du überhaupt?«Sie versuchte, ihre Stimme so unbeteiligt wie möglich klingen zu lassen. Wollte ihre Freude darüber, dass er sie gefragt hatte, nicht zu deutlich zeigen.»Dreh dich um«, erwiderte Holtz.Holtz stand zwanzig Meter von ihr entfernt. Er winkte ihr zu und steckte sein Handy in die Tasche.