Warum das Leid? Wie kann Gott das Leid zulassen? Ist das sinnlose Leiden ein
Beweis gegen die Existenz Gottes? Lässt Gott das Leid zu? Schickt er es gar?
Wie kann ich das Bild des barmherzigen Gottes mit dem unbarmherzigen Leiden
zusammenbringen? Ist Gott nicht ungerecht, wenn er gerade die Armen leiden
lässt? In Psalm 34 heißt es: "Da ist ein Armer; er rief, und der Herr erhörte ihn. Er
half ihm aus all seinen Nöten." (Ps 34,7) Kann man diesen Psalmvers heute noch
beten, wenn einem der eigene Sohn durch den Tod entrissen wurde? Sind diese
Worte nicht Hohn, wenn man Arme sieht, über die ein Unglück nach dem andern
hereinbricht?
Da ist zum Beispiel eine allein stehende Frau, die es sowieso schon schwer mit
sich hat, die sich am Arbeitsplatz gemobbt fühlt und sich durchs Leben kämpfen
muss. Jetzt erfährt sie vom Arzt, dass sie Krebs hat. Da bricht es aus ihr hervor:
"Warum gerade ich? Womit habe ich das verdient? Ich habe mich doch all die
Jahre bemüht, dem Willen Gottes gemäß zu leben. Ich bin einen spirituellen Weg
gegangen. Ich habe mich gesund ernährt. Und jetzt widerfährt mir das? Warum
ist das alles so? Will Gott mich für etwas strafen? Warum tut mir Gott so etwas
an? Ich habe doch schon genug gekämpft. Allein durchs Leben zu gehen, ohne
Unterstützung einer Familie, das war nicht immer einfach. Jetzt auch das noch?
Muss denn alles auf einmal zusammenkommen? Das ist doch ungerecht. Den
andern gelingt alles. Doch bei mir geht alles schief. Ich fühle mich wie verflucht.
Kümmert sich Gott denn um mein Leid? Ich habe zu ihm im Gebet geschrieen.
Aber es hat alles nichts genützt."
Solche Fragen werden mir in Gesprächen und nach Vorträgen immer wieder
gestellt. Die zentrale Frage dabei ist immer: "Warum lässt Gott das Leid zu?
Warum verhindert er es nicht? Warum muss ausgerechnet mich dieses Leid
treffen? Was führt Gott im Schilde, dass bei mir nun alles zerbrochen ist, worauf
ich mein Leben gebaut habe? Ist Gott so grausam? Hat er kein Mitleid mit mir?
Ist er ungerecht?" Auf die Frage, ob Gott ungerecht ist, kann ich nichts erwidern. Ich kann nur
sagen: "Ich weiß es nicht. Ich kann Gott nicht in seine Karten schauen. Ich kann
mich nicht über Gott stellen und ihm zuschauen, welche Gedanken er sich bei
allem, was geschieht, macht. Ich kann nur versuchen, im Nachhinein zu
verstehen, was geschehen ist, und es zu deuten." Gemeinsam mit dem
Leidenden versuche ich, mich seiner Wut und seiner Trauer, seinem
abgrundtiefen Schmerz und seiner Verzweiflung zu stellen. Auch ich muss die
Unbegreiflichkeit seines Leidens aushalten. Erst wenn wir lange genug
geschwiegen haben, kann ich behutsam nach Worten suchen, die dem
Leidenden mein Mitgefühl und meine Hilflosigkeit, aber auch meine Bereitschaft,
mit ihm zu gehen, vermitteln. Vielleicht kommen mir dann auch Worte, die den
andern ermutigen und aufrichten.
Wenn ich jetzt in diesem Buch viele Worte aufschreibe, die sich an all die vom
Leid Bedrückten, Gebeugten, Erschütterten, Zerbrochenen und Durchwühlten
richten, dann tue ich es mit großer Vorsicht. Ich weiß aus Erfahrung, dass selbst
gut gemeinte Worte den verletzen können, der von seinem Schmerz wie betäubt
ist. Alle Erklärungsversuche und alle Deutungsversuche rufen oft nur seine Wut
hervor: "Du hast gut reden. Wenn du deine Tochter durch einen Unfall verlierst,
dann kannst du nicht mehr so sprechen."
In diesem Buch wage ich es trotzdem zu sprechen. Ich habe dabei die vielen
schmerzerfüllten Menschen im Blick, denen ich in den letzten Jahren begegnet
bin. Wenn in dir, liebe Leserin, lieber Leser, die Trauer und der Schmerz noch zu
groß sind, dann kann es sein, dass dich manche Sätze ärgern oder verletzen.
Aber ich vertraue darauf, dass es in deiner Trauer immer auch Phasen gibt, in
denen du nach Worten suchst, die das Geschehene in ein anderes Licht heben,
die dir helfen, das Leid, das dich getroffen hat, zu verstehen und anders damit
umzugehen.
Manchmal kann es auch helfen, von der subjektiven Erfahrung, die einen selbst
gerade so besetzt, wegzugehen und objektiver auf die Frage des Leids zu
schauen, all die Gedanken, die sich die Weisen verschiedener Zeiten über das
Leid gemacht haben, zu bedenken. Die Überlegungen anderer können das
persönliche Leid nicht ungeschehen machen. Sie vermögen nicht, den Schmerz
zu lindern. Aber vielleicht hilft die Sichtweise oder die Erfahrung eines anderen
Menschen, mit anderen Augen auf die Situation zu schauen. Daher habe ich in
diesem Buch einige Theorien zusammengetragen, die mir für den christlichen
Umgang mit dem Leid angemessen erscheinen. Es geht mir mit diesen
Gedanken nicht um Lösungen, sondern um eine Hilfe, die eigene Leiderfahrung
in einen größeren Horizont zu stellen. Das Denken schafft eine Distanz zu
meinem Schmerz. Und manchmal ist gerade diese Distanz hilfreich, um den
Schmerz zu lindern. Aber das Denken löst den Schmerz nicht auf. Denken führt
zum Verstehen. Und bei aller Unbegreiflichkeit des Leids ist es ein Urbedürfnis
des Menschen, sein Leid zu verstehen. Nur wenn ich mein Leben verstehe,
vermag ich, zu mir zu stehen und das Leid durchzustehen.