Fast ein ganzes Jahr lang hatte die Alexander sich mit ihrer Sträflingsfracht durch die Wellen des Ozeans gekämpft, jetzt war sie am Ende der Welt angekommen. Es gab kein Schloss an der Tür der Hütte, in der William Thornhill, deportiert im Jahre des Herrn 1806 für die Dauer seines natürlichen Lebens, seine erste Nacht in der Strafkolonie Seiner Majestät in Neusüdwales verbrachte. Genau genommen gab es auch nichts, das die Bezeichnung Tür oder Wand verdient hätte, nur ein Geflecht aus Stöcken und Lehm und vor der Türöffnung einen Lappen aus Baumrinde. Schlösser,Türen,Wände, das alles wurde hier nicht gebraucht. In diesem Gefängnis bestanden die Gitter aus Tausenden und Abertausenden Meilen Wasser.Thornhill lag neben seiner friedlich schlummernden Frau, die ihre Hand fest in seiner verschränkt hatte. Auch das Kind und das Baby schliefen eng aneinander gekuschelt. Nur er selbst konnte sich nicht überwinden, in dieser fremden Dunkelheit die Augen zu schließen. Er spürte, wie die Nacht feucht und bedrohlich durch den Eingang der Hütte kroch. Sie brachte ihre ganz eigenen Geräusche mit: ein Knistern und Knacken, ein verstohlenes leises Rascheln und über allem das Rauschen des Waldes, der sich unendlich weit erstreckte.Als er aufstand und durch die Tür ins Freie trat, hörte er niemanden rufen und sah auch keinen Wachposten. Draußen war nichts als die hellwache Nacht mit ihren schweren, erdigen Gerüchen. Über ihm ragten riesige Bäume auf. Eine Brise säuselte durch das Laub, erstarb und ließ nur den mächtigen Wald zurück.Thornhill war nichts als ein Floh auf der Flanke eines riesigen, reglosen Wesens.In der Dunkelheit weiter unten, am Fuße des Hügels, verbarg sich die Siedlung. Ein Hund bellte müde und verstummte sofort wieder. Aus der Bucht, in der die Alexander vor Anker lag, drang das ruhelose Rauschen der See, die sich zwischen den Ufern der Landspitzen hin und her wälzte und hoch gegen den Strand schlug.Am Himmel stand eine dünne Mondsichel, und die paar Sterne dort oben hatten für ihn so wenig Bedeutung wie achtlos verstreute Reiskörner. Es gab keinen Polarstern, jenen alten Vertrauten, an dem er sich auf der Themse orientiert hatte, und auch keinen Sirius, den Hundsstern, dessen Verblassen ihm die nahende Morgendämmerung angekündigt hätte. Nur ein unbekanntes und gleichgültiges Funkeln.Wenn er in den langen Monaten auf der Alexander in seiner Hängematte gelegen hatte, dem einzigen Platz, der ihm auf dieser Welt geblieben war, und dem Schlagen der Wellen an den Schiffsrumpf lauschte oder die Stimmen seiner Frau und seiner Kinder aus dem Lärm des Frauenquartiers herauszuhören versuchte, war es oft tröstlich für ihn gewesen, sich den Verlauf der Themse in Erinnerung zu rufen. Die Isle of Dogs, die Hundeinsel, die gefährlichen Strömungen im tiefen Becken von Rotherhithe, die jähe Biegung bei Lambeth, hinter der man sich, kaum hatte man sie umschifft, mit einem Schlag unter einem völlig anderen Himmel wiederfand. Er kannte den Fluss wie seine Westentasche. In der Hängematte neben ihm grunzte Daniel Ellison, der selbst im Traum noch kämpfen musste, und hinter der Spant bei den Frauen herrschte Stille, während er selbst in Gedanken den Biegungen des Flusses folgte.Doch dieses Leben war für immer vorbei. Das wusste Thornhill, als sich jetzt der seufzende Atem des weiten fremden Landes über ihn senkte und er den kalten Lehmboden unter seinen Füßen spürte. Genauso gut hätte er an dem Strick baumeln können, den man schon für ihn geknüpft hatte. Dieser Ort war wie der Tod, von hier kehrte kein Mensch mehr zurück. Es war ein spitzer, stechender Schmerz, wie von einem Splitter unter einem Nagel, der Schmerz des Verlustes. Er würde hier unter diesen fremden Sternen sterben, und sein Körper würde in dieser kalten Erde verrotten.Seit dreißig Jahren hatte er nicht mehr geweint, nicht mehr, seit er ein hungriges kleines Kind gewesen war, das noch nicht wusste, dass Tränen einem nicht den Bauch füllten. Doch jetzt schnürte es ihm die Kehle zu, und unter dem Druck der Verzweiflung quollen ihm Tränen aus den Augen und rollten warm seine Wangen hinab.Es gab Schlimmeres als den Tod, so viel hatte das Leben ihn schon gelehrt. Und hier in Neusüdwales gelandet zu sein war sicher schlimmer.Als sich vor ihm etwas in der Dunkelheit bewegte, dachte Thornhill erst, es liege am Tränenflor vor seinen Augen. Er brauchte einen Moment, bis er begriff, dass dieser Schatten ein Mensch war, nackt und so schwarz wie die Nacht. Seine Haut schien das Licht zu schlucken, der Mann wirkte irreal, als würde Thornhill ihn sich nur einbilden. Die Augen lagen tief im Schädel und waren in ihren Knochenhöhlen nicht zu sehen. Das Gesicht wurde von dem großen Mund, der breiten flachen Nase und den tiefen Wangenfalten beherrscht. Wie im Traum und ohne jede Überraschung registrierte Thornhill die Narben auf der Brust des Mannes, akkurate gerade Linien, die sich wulstig von der Haut abhoben.Der Mann machte einen Schritt auf Thornhill zu, fahles Sternenlicht fiel auf seine Schultern. Er trug seine Nacktheit wie einen Mantel. Der Speer in seiner erhobenen Hand schien Teil von ihm zu sein, eine Verlängerung seines Armes.Thornhill selbst fühlte sich trotz seiner Kleidung nackt wie ein Wurm. Der Speer war lang und bedrohlich. Sollte er dem Tod am Galgen entkommen sein, nur um sich unter diesen kalten Sternen die Haut durchbohren zu lassen und zu verbluten? Und hinter ihm lagen, kaum geschützt durch den Lappen Baumrinde, die weichen Körper seiner Frau und seiner Kinder.Die Wut, seine gute alte Freundin, sprang ihm zur Seite. »Verflucht noch mal, hau ab«, rief er. »Scher dich zum Teufel!« Nach der langen Zeit als Sträfling, in der er immer vor der Peitsche gekuscht hatte, spürte er, wie sein Rücken sich durchdrückte und ihm seine volle Größe zurückgab. Seine Stimme war rau und kräftig, und seine Wut breitete sich warm in ihm aus.Er machte einen drohenden Schritt nach vorne und sah die kleinen Steinsplitter an der Spitze des Speers. Diese Waffe würde den Körper nicht glatt wie eine Nadel durchbohren. Sie würde sich hineinfressen und ihn zerfetzen, und beim Herausziehen würde sie ihn noch einmal zerfetzen. Die Vorstellung entfachte seinen Zorn nur noch mehr. »Hau ab!« Auch wenn sie leer war, erhob er seine Hand gegen den Mann.Dem Mund des Schwarzen entwichen Geräusche, und wie zur Bekräftigung tanzte der Speer immer wieder vor Thornhills Nase herum. Sie standen jetzt so dicht voreinander, dass sie sich hätten berühren können.Aus dem wild sprudelnden Redeschwall waren plötzlich einzelne Worte herauszuhören. »Hau ab«, rief der Mann. »Hau ab!« Und zwar genau in Thornhills Tonfall.Das war verrückt, als würde ein Hund auf Englisch bellen.»Hau ab, hau ab!« Aus der Nähe sah er die Augen unter den dichten Brauen des Mannes aufblitzen. Sein Mund war nur nochein wütender Strich. Thornhill selbst hatte es die Sprache verschlagen, doch er wich nicht von der Stelle.In gewisser Weise war er schon einmal gestorben, was machte es da, wenn er ein weiteres Mal starb. Man hatte ihm alles genommen, nur die Erde unter seinen nackten Füßen verband ihn mit diesem fremden Ort. Nichts war ihm geblieben, außer dieses Stück Boden und die hilflosen schlafenden Menschen in der Hütte hinter ihm, doch die würde er niemals kampflos einem nackten Schwarzen überlassen.Stille trat ein zwischen ihnen, und eine Brise fuhr durchs Laub. Er schaute sich kurz zu der Hütte um, in der seine Frau und die Kinder lagen, und als er wieder zurückblickte, war der Mann verschwunden. Die Dunkelheit flüsterte und vibrierte, doch vor ihm lag nur der Wald. Dort konnten sich Hunderte, ja Tausende von Schwarzen verstecken, ein ganzer Kontinent voller Männer mit Speeren und diesem grimmigen Zug um den Mund.Er ging schnell zurück in die Hütte und stieß dabei gegen den Türrahmen, sodass große Brocken Lehmputz aus dem Wandgeflecht fielen.