2019
Eben ist mein Mann an mir vorbeigegangen. Auf der La Rambla, er mochte Barcelona eigentlich nie, und die Frau an seiner Seite studierte konzentriert die Schaufensteraus- lagen der geschlossenen Läden, während er sie am Ellenbogen mit seiner weichen Hand unerbittlich weiterführte. Mein Mann hielt die Frau fest und starrte jedem, der mit einer Estelada-Flagge Richtung der Basilika Sagrada Família hastete, mit saurer Verachtung ins Gesicht.
In der Ferne das Geräusch hochdrehender Motoren der Wasserwerfer, die die Innenstadt einkesselten. Brandgeruch.
Mein Mann sah mich an, als er an mir vorbeiging, und ich ihn, flüchtig, vage, eine Passantin im wachsenden Strom der Demonstranten. Er hatte mich nicht erkannt, oder vielleicht doch, und sich gesagt, dass es nicht sein konnte, denn schließlich war ich seit viereinhalb Jahren tot.
2015
Jeanne Patou sitzt am Tresen der Bar Central in der La Boqueria Markthalle. Niemand sieht sich nach ihr um, niemand erkennt sie. Niemand erwartet, dass jemand wie sie sich an Orten materialisiert, wo sonst nur normale Leute hingehen und es nach Tapas, Bier und warmem Fett riecht. Als hätten berühmte Menschen wie Jeanne eine andere Welt nur für sich zur Verfügung.
Ich habe es mir angewöhnt, über mich als »Jeanne« zu denken. Ich ist eine andere. Ich trage einen anderen Namen, aber ich bin längst getilgt, aufgegangen in der Rolle der Patou. Es ist, als beobachtete ich Jeanne von jenseits der Haut, die wir uns teilen. Ich sehe ihr zu, wie sie trinkt, und wir reden nicht miteinander, schon lange nicht mehr.
Jeanne trinkt Rotwein, neben ihrem Barhocker steht ihr kleiner Rollkoffer. Sie hat Pata Negra, Croquetas de Jamón und heiße, knusprige Churros bestellt, die sie nicht anrührt. Sie bleibt beim Rotwein, ein Tempranillo, so trocken, dass er ihr in den Gaumen sticht. Zu früh für den Tag, genau rechtzeitig für den Schmerz, den sie empfindet. Luc nennt sie den Schmerz, aber Luc ist nur das Dekor. Es ist ein Schmerz, der aus den Sedimenten ihres Seins quillt. Eine unendliche Müdigkeit, zäh, träge, klebrig. Jeanne will hier nur noch sitzen und das Weinglas in den Fingern drehen. Dieser unglaubliche Widerwille, weiterzugehen.
Es birst vor Farben und Überfluss im Bauch von Barcelona. Dutzende von der Decke hängende Serrano- und Pata-Negra-Schinken, überquellende Tische mit Früchten, Gemüse, Regale voller Weinflaschen. Mallorquinischer Hierbas, spanischer Sherry, Brandy und Cava. Nassglatte Fische, Kraken, Krebse, Hummer. Es summt von Stimmen, die TV-Bildschirme, die in den Hallengängen hängen, erzählen Neues aus der Welt.
Die spanischen Nachrichten berichten im Liveticker, dass im US-Bundesstaat Utah die Todesstrafe durch Erschießen mit dem Gewehr vollstreckt werden kann, sofern kein Giftstoff zum Spritzen vorrätig sei. Die Weigerung europäischer Chemikalienhersteller zur Lieferung von Todesspritzen hätten wiederholt zu Verzögerungen geführt. Und jetzt zum Wetter. Jeanne dreht das Rotweinglas in den Fingern, und erst als sie wieder einen Schluck nimmt, da fällt es ihr auf. Niemand schaut mehr woanders hin als zu den Fernsehbildschirmen, an jedem Tresen in der Markthalle. Das Reden der zeitig gekommenen Einkäufer ist verstummt, niemand wagt es mehr, Geräusche zu machen. Hände haben sich über Münder gelegt. Stille senkt sich über die zweihundertfünfzig Stände, und an jedem Ende der Markthallengänge sind die acht Quadratmeter großen TV3-Displays randvoll gefüllt mit verwaschenen Bildern eines verheerend zerstörten Flugzeugwracks. Jeanne stellt das Rotweinglas auf den Tresen. Vorsichtig. Leise. Der Wirt dreht den Ton seines Fernsehers über dem Tresen lauter. Unterbrechung des Programms, Eilmeldung. Ein Flugzeugabsturz in den südfranzösischen Alpen. Germanwings Flug 4U9525 ab Barcelona. Alle einhundertvierundvierzig Passagiere und die Crew tot. Zwei Opernsänger, sechzehn Schülerinnen und Schüler aus Haltern am See, einundfünfzig Spanier. Und Jeanne Patou, die gefeierte, bepreiste, geliebte Film- und Theaterschauspielerin. Eine Ikone.
Ich bin tot?, denkt Jeanne, die am Vorabend eingecheckt hat, online. Ein Rollkoffer, schnell rein, schnell raus. Ich bin tot? Aber, ja, da steht es, auf Spanisch, Jeanne Patou unter den Opfern, und: Tragödie. Tragödie ist, denkt Jeanne, als sie ein Foto von ihr einblenden, übergroß und überirdisch schön, dass die berühmten Namen all den anderen die Einzigartigkeit ihres Todes stehlen. Und für einen schwebenden Moment glaubt sie es. Dass sie tot ist, aber es selbst nicht bemerkt hat.
Sie zeigen Wrackteile im Fernsehen und dieses ikonische Bild von Jeanne. In der Rolle der Lulu, sie war Mitte dreißig. Vor zehn Jahren, ein schönes Bild, eine perfekte Illusion. Die Leute vom spanischen Sender haben einen schwarzen Rahmen darum gesetzt. Das Licht fällt auf Jeannes Stirn, betont ihre Wangenknochen, ihr Blick ist nach oben gewendet, als würde sie beten und gleichzeitig hilflos der Verehrung ausgesetzt sein, unfähig, sich selbst zu begreifen, unfähig, ihre Macht zu erkennen. Auch das besitzt etwas Religiöses, Enthobenes. Das gute alte Top Lighting. Jeannes Gedanken werden jählings zornig, laut. Schon immer selektieren Männer nur wenige Frauen und erheben sie aus der Menge an Vaginen, denkt Jeanne; Männer entwerfen eine neue Skizze von ihr, setzen das Studiolicht auf ihre Stirn wie der heiligen Maria, und erst dann ist sie kein Miststück mehr, nicht mehr »wie die anderen Frauen«. Diese erhobene Frau hernach für diese Männer weiter arbeiten zu lassen, damit die Selektierte zufrieden ist und andere Frauen kleinhalten will, die es von selbst schaffen wollen und ihr den Platz streitig machen: Das ist die Macht der Männer. Eifersüchtige Äffinnen im Käfig zu erschaffen. Jeanne drückt fest mit beiden Händen auf ihre Schläfen. Als hätte das je genutzt, diese Gedanken zu dämpfen. Die Wut, die sie mit sich trägt, ist gewachsen und so alt wie sie selbst. Die Wut, selbst jetzt, im Tod, schön und jung präsentiert zu werden. Der Sender blendet François Hollande ein. Für einen Moment wird Jeannes' unwirklich schönes Bild kleiner, und der gut frisierte französische Staatspräsident gibt eine Erklärung ab. Er ist erschüttert. Stammelt angemessen. Wegen allem, auch wegen ihr. Jeanne hat ihn ein paar Mal getroffen. Er mochte es, mit ihr zusammen fotografiert zu werden. Es machte ihn sympathisch. Tot nutzt sie ihm wenig.
Jeanne denkt an Luc, von dem sie sich getrennt hat, kurz zuvor, sie hat ihn in der graugelben Lufthansa-Senator-Lounge sitzen lassen, sagte: »Ich muss zum Flug.« Es sollte eine Trennung sein, »wir werden uns nicht wiedersehen«, jetzt wird es ihm prophetisch vorkommen und nicht wie die Zurückweisung, die es sein sollte. Von einer Frau an ihren Liebhaber. Luc war der Erste, mit dem Jeanne als verheiratete Frau geschlafen hatte, sie hatte achtzehn Jahre lang nicht mal daran gedacht, es mit jemand anderem als ihrem Ehemann zu tun. Es. Die einen nennen es Betrug, Seitensprung, Sünde und so weiter, die anderen Leben, Neugier. Es war Notwehr. Sie haben es ein paar Mal im Jahr getan, nur dort, wo sie eine fremde Tür hinter sich schließen konnten. Auch gestern Abend. Ein Zimmer in einem Hostel, Casa Gràcia, der schmale Steinbalkon zum Boulevard Passeig del Gràcia im kalten Schatten. Haut und Berührung. Etwas wie Hunger. Und Durst. Die Glätte seiner Haut.
Weder Jeannes Mann Bernard noch Lucs Frau Ana haben gewusst, dass Luc und Jeanne ein gelegentliches Paar waren. Oder was man so ein »Paar« nennt, das die Drehpläne abstimmt, die An- und Weiterflugzeiten, die wenigen Stunden, die man in einem dieser Hotels, angedockt an die Flughäfen, in einem quadratischen Zimmer auf einem rechteckigen Bett verbringt. Immer Barzahlung. Um mit Luc in Hotels zu schlafen, in Restaurants zu essen, Taxi zu fahren, sich einen Wagen zu mieten. Um diesem Mann, der ihr fremd ist, außer wenn sie miteinander schlafen, ein Geschenk zu machen, und alles ohne die Spur einer Kreditkartenabrechnung. Jeanne hat immer fünfundzwanzigtausend Euro in bar dabei. Wie sie zu Beginn darauf gefiebert hatte, Luc wiederzusehen, diesen freundlichen, in seiner Lust auf sie verzweifelten Mann. Der erste Kuss, der immer mehr ein Beißen gewesen war. Und schon wenige Minuten später der Wunsch, es möge vorbei sein, damit sie allein sein konnte, mehr Stunden zwischen ihn und sich und ihrer aneinanderreibenden Haut bringen, ihrer beiden Gerüche, die nur entstanden, wenn er bereit war, hart, und sie, entschlossen, feucht. Allein sein. Endlich einmal allein sein. Unbeobachtet. Nicht genötigt, sich zu verhalten. Jeanne hat sich heute Morgen von Luc zu befreien versucht, von der Heimlichkeit, von den WhatsApps, von der Anspannung des miserablen Gewissens. Luc, der innere Notausgang aus ihrer Ehe, doch der Notausgang führte nur in einen Hinterhof mit Mauern.
Ihr Bild bleibt auf dem Bildschirm stehen, während der Nachrichtensprecher berichtet, was sie alles nicht wissen. Warum, zum Beispiel, warum hat sich der Airbus A320-211 mit der Nase voran in das Bergmassiv Trois-Évêchés gerammt? Jeannes Bild bleibt weiter stehen, und sie, an dem Tresen, tastet nach ihrer Sonnenbrille und setzt sie auf. Jeanne hat heute Früh als Erste angestanden am Boarding. Sie wurde eingebucht, registriert, man hat ihr eine gute Reise gewünscht, und Jeanne ist rasch weitergeschritten, durch die Tür, die langen Flure, sie hat die anderen Reisenden hinter sich und den verwinkelten Flurecken gelassen. Der Flughafen Barcelona wird gerade umgebaut, und die Fluggäste mussten sich durch ungenügend überwachte Abfolgen von Fluren und Gängen suchen, in denen Plastikplanen vor Baustellen gehängt waren, auf denen selten jemand arbeitete. Jeanne dachte an Luc. An Luc, an Bernard, an ihre beiden Töchter. Mathilde. Katja. Jeanne hatte ihnen Kaschmirtücher in Barcelona gekauft, ein dunkelrotes für Mathilde, ein hellblaues für Katja, und sie dachte daran, während sie an den unfertigen, nach Baustaub riechenden, nackten Wänden vorbeiging, dass in Kriegsgebieten niemand Farben trägt. Um nicht die Aufmerksamkeit der Sniper auf sich zu lenken. Die Blicke der Kampfpiloten, jener Männer, die sich von Vätern und Söhnen und Liebhabern verwandeln in Jäger und Mordende und für immer Unglückliche, die bis zu ihrem Tod an den roten Schal denken, auf den sie zielten, und deren Kinder sich schämen werden über den nachts weinenden Mann am Ende eines Flures. Die Agonie eines stillen Zimmers. Am Ende dieser mäandernden Gedankenattacke, da widerfuhr es Jeanne, zwischen Boarding, der Wanderung durch Baustellen und dem Erklimmen der Treppe in das Flugzeug. Mehr ein Gefühl. Weniger Gedanke, weniger Entschluss. Ich kann nicht. Ich will nicht.
Ich will das nicht.
Alles will ich nicht.
Verschwinden zu wollen ist ein verschlingendes Gefühl. Es beginnt im Hals, es zieht ihn zu, bis der Atem keinen Weg mehr findet. Ein Ertrinken von innen, ein Drang, sich aufzulösen, um sich zu schlagen, zu sterben, um alldem zu entgehen. Überall zu sein, bloß nicht hier.