Alt werden war überhaupt nicht und genau so, wie die Leute es sich vorstellten. Natürlich verwechselte Minna nicht Zucker und Salz. Ersteren hatte sie schon immer in einer zarten Keramikschüssel aufbewahrt, Salz rieselte seit Jahrzehnten aus dem angelaufenen Streuer, nach dem schon ihr Mann sonntags beim Frühstücksei gedankenverloren gegriffen hatte. Das war nicht das Problem. Schlimm war, dass die wechselnden Pflegerinnen, die Minna nun seit einiger Zeit unterstützten, wie es heute hieß, immer das falsche Salz kauften. Mal von billigen Marken mit jaschreiender Zustimmung, mal ohne Jod. Dabei litt rund jede dritte Person in Deutschland an leichtem bis moderatem Jodmangel. Das hatte Minna im Fernsehen gelernt, den sie mit eiserner Disziplin nie vor 18 Uhr einschaltete. Nun war ihr durchaus bewusst, dass ihre Generation unter ganz anderen Dingen gelitten hatte als moderatem Jodmangel, trotzdem überkam sie mit jeder Packung jodfreiem Salz wieder die Enttäuschung. Dabei meinten die Claudias und Nadines, die Sabines und Natasas es ja nur gut, wenn sie mit einem neuen Päckchen in die Küche stolzierten und ein wenig zu laut verkündeten, sie hätten diesmal ans Salz gedacht. Minnas 92-jährige Ohren hörten noch ziemlich gut, doch ihr Gesicht, das einem Blatt zerknitterter Zeitung glich, verleitete Menschen dazu, sie anzuschreien. Auch das nahm sie hin wie jodfreies Salz. Denn was war die Alternative?