TEIL 1: DIE REISE
Sophia war ganz ruhig. Bis vor wenigen Augenblicken noch hatte sie wie wild um sich geschlagen und versucht, irgendwie an der Wasseroberfläche zu bleiben. Todesangst schnürte ihr den Hals und die Brust zu. Die Schreie, die aus ihrer Kehle hinauswollten, suchten vergeblich die Luft, während stattdessen sprudelndes, wirbelndes Nass durch Nase und Mund die Atemwege füllte.
Das Wasser siegte über die Luft, schwemmte die geordnete Struktur, die wir Leben nennen, einfach mit sich davon. Einen entsetzlichen Moment war da Panik und Schmerz. Sophia hörte ihren letzten Aufschrei, der ohne einen einzigen Ton ihr Herz zerriss. Dann war tiefe Ruhe in ihr. Und Leichtigkeit. Eine sie befreiende Leichtigkeit. Kein Ringen mehr um den nächsten Atemzug. Kein Kampf.
Während ihr Körper tiefer und tiefer sank, schwebte ein anderer Teil von ihr immer höher hinaus über die Wellen und sah sich um. Die Sonne stand mitten am Himmel. Sie spiegelt sich nasekräuselnd im Wasser und das Meer glitzerte wie ein blauer Edelstein. Weiter draußen tummelten sich einige Segelboote. In einem dieser Segelboote würde wohl auch ihre Familie sitzen. Jannik und Philipp, ihre beiden Söhne und Sebastian, ihr Mann. Er war ganz vernarrt in das Segeln. Deshalb fuhr die Familie auch jedes Jahr hierher. Sophia mochte die Berge lieber. Komisch, dass sie gerade jetzt daran denken musste. Ihr ganzes Leben raste an ihr vorbei, während sich ihre Lungen endgültig mit Wasser füllten und sie sich dem Unvermeidlichen hingab. Es war ganz leicht, keine Panik, kein Schmerz. Sie konnte einfach loslassen.
Wie wunderschön doch die Sonne aussah, die sich durch die Wasseroberfläche brach und mit ihren Strahlen versuchte, den Grund zu ertasten. 'Ob man mich wohl schon vermisst?' Das Glitzern des Lichtes über ihrem Kopf wurde stärker. Es war wie ein Sog. Sie erinnerte sich an den Moment, als sie bei ihrer Geburt das Licht der Welt erblickte. 'Jetzt geht es also zurück', dachte sie. Es war so leicht, so vertraut. Als hätte sie diese Reise schon unzählige Male gemacht. Sie schloss die Augen, überließ sich der Schwerelosigkeit des Augenblicks und tauchte ein in gleißend helle, weiße, endlos unendliche Ewigkeit.
8
"Verdammt noch mal, kann denn dieser Idiot nicht abblenden?" Fast wäre ich im Straßengraben gelandet.
Es ist Samstagabend und ich bin mal wieder unterwegs zu einer dieser verhassten Partys, über die so wichtig zu berichten
ist: Möchtegernsternchen, die dümmlich kichernd ihren Prosecco schlürfen und verzweifelt versuchen, auf ein Foto der morgigen Klatschpresse zu gelangen. Oberflächliches Blabla maskenartig lächelnder Gleichgesichter mit U-Boot-Lippen, ohne jede Mimik und ohne jedes Hirn. Nicht zu vergessen die übergebräunten Popeye-Gestalten, die mit ihren aufgeblasenen Muskelpaketen wie Idioten wirken, weil sie vor Kraft strotzend kaum noch vernünftig laufen können. Dazwischen der eine oder andere echte Promi, dessentwegen ich mir diese ganze Tortur überhaupt antun muss.
Und jetzt fängt es auch noch an zu regnen. Von einem Augenblick auf den anderen öffnet der Himmel seine Schleusen und schüttet eimerweise das Wasser vom allwöchentlichen Hausputz auf die Straßen des österreichischen Hinterlandes.
Die Scheibenwischer sind eindeutig überfordert. Resigniert fahre ich an den Seitenrand und halte an. Okay, mein Chef wird wütend sein, wenn er meine Reportage nicht rechtzeitig auf seinem Schreibtisch hat, aber gegen diese Naturgewalt würde auch er keine Argumente finden. Und wer weiß, wofür es gut ist. Ich hatte sowieso keine Lust, auf diese Party zu gehen. Ich werde einfach später ein paar Fotos machen und mir dazu die eine oder andere Zeile einfallen lassen. Es würde wahrscheinlich nicht einmal einen Unterschied machen, ob ich wirklich da war oder nicht. Ich stelle den Motor ab, drehe meinen Sitz nach hinten und warte. Das Getrommel des Regens auf meinem Autodach geht mir tierisch auf die Nerven.
Ich kann einfach nicht machen, dass es aufhört. Wenigstens in meinem Kopf versuche ich es auszublenden, doch je mehr ich das tue, desto lauter und mächtiger wird das Gehämmer.
'Wie seltsam', denke ich. 'Da sitze ich nun in meinem Wagen, ich, die doch ihr Leben völlig im Griff zu haben glaubt und so ein bisschen Regen bringt mich total aus der Fassung.'
Ich schließe die Augen und versuche, mich auf irgendetwas Schönes zu konzentrieren. Da hört der Regen auf .
Als Sophia die Augen wieder öffnete, war das Licht verschwunden. Wohin sie auch blickte, war alles nur weiß. Wo aber war ihr Körper? Sie konnte ihn fühlen und doch sah sie ihn nicht. Sie begann zu laufen und konnte doch nicht erkennen, dass sie sich überhaupt bewegte.
Sie hatte ständig das Gefühl, kleben zu bleiben. 'Lauf weiter', trieb sie sich an. Eine innere Kraft drängte sie, sich gegen diese undurchdringliche, klebrige, weiße Wand weiter zu bewegen, ohne zu wissen, warum. Schritt um Schritt, wie in Trance, durchdrang Sophia das farblos strahlende Feld. Sie verlor jedes Gefühl für Zeit und Raum. Das Atmen fiel ihr immer schwerer.
Sie spürte die Erschöpfung in ihrem körperlosen Körper. Sie spürte die Muskeln, die sich immer wieder in derselben Weise an- und abspannten. Schritt um Schritt. Sie wurde zu dieser einen, sich ständig wiederholenden Bewegung. Kein anderer Gedanke hatte mehr Raum in ihr. Sie fand sich damit ab, dass dies das Letzte sein würde, was sie tat. Das also war das Ende.
In derselben Sekunde verschwand das Weiß um sie herum. Der undurchdringliche Vorhang aus Nichts öffnete sich und Sophia bekam endlich wieder Luft. Sie stand inmitten einer Wiese voller Blüten, Gräser und tanzendem Licht und konnte es nicht glauben. Das Leben schien zurückgekehrt, so saftig und frisch roch die Welt um sie herum. Ein leichter Duft von Sommer umspielte ihre Haut. Direkt vor ihren Füßen sprangen zwei Eichhörnchen, tanzten um ihre Beine herum, als ob es das Natürlichste der Welt sei. Sophia erinnerte sich, wie sie mit ihrem kleinen Sohn Philipp hinter so einem Eichhörnchen hergelaufen war und wie sie beide versucht hatten, es zu fangen. Jedoch immer ohne Erfolg. Schnell und scheu waren die flinken Tierchen. 'Wie die glücklichen Momente des Lebens', ging es ihr durch den Kopf. 'Man kann sie nicht fangen und festhalten. Man kann sie nur genießen, wenn sie da sind.' Für einen Augenblick zog ein Schleier der Wehmut durch ihren Sinn. Warum nur wusste sie erst jetzt, mit welchen Kostbarkeiten das Leben sie beschenkt hatte?
Zarter Wind weckte sie aus ihren Erinnerungen. Ein großer, buntschillernder Schmetterling nahm majestätisch Platz auf ihrer Hand. Ein weiterer gesellte sich hinzu, doch ehe Sophia sie genauer betrachten konnte, erhoben sich beide wieder.
Ein Windhauch nahm sie mit sich fort und sich in Spiralen umeinanderwindend malten sie mit ihren Flügeln rätselhafte Ornamente an den blauen Himmel. Zeichen, die Sophia noch nie gesehen hatte, die sich verdichteten und miteinander verbanden. Sie schwebten vom Himmel hinunter auf die blühende Wiese, nahmen mehr und mehr gemeinsame Form an, bis sie zu einem riesigen, strahlenden Tor wurden, auf dem mit goldenen Buchstaben geschrieben stand:
"Willst du hier zum Tor hinein, musst du würdig für den Schlüssel sein."
Während Sophia noch über den Sinn dieser Worte nachdachte, flatterten die beiden Schmetterlinge auf das Tor zu und gemeinsam mit den Eichhörnchen verschwanden sie, kaum, dass sie das Tor berührt hatten. Vorsichtig setzte auch Sophia ihren Fuß auf die Schwelle. Doch anstatt hindurch zu gleiten, stieß sie gegen kaltes, glattes Metall. Sie suchte etwas, an dem sie hätte rütteln können, doch keine Klinke oder sonst irgendetwas war zu finden. So schlug sie mit Kraft und Entschlossenheit gegen die undurchdringliche Wand. Nichts bewegte sich. Sie schlug fester. Nichts. Noch fester. Nichts. Mit all ihrem Mut nahm sie Anlauf, um sich mit ihrem ganzen Körper gegen das Hindernis zu werfen, doch ehe sie auch nur in seine Nähe kam, bebte das Tor und schleuderte sie mit einer Druckwelle einige Meter zurück durch die Luft. Entsetzt starrte sie auf den so hartnäckigen Widersacher: