1.Leuchtende Farben - Orange, Rosa und Rot - zogen sich über den Himmel und verwandelten den Ozean in eine lodernde Flamme, als die Sonne tief über dem Meer unterging. Sechs Meter unter der Wasseroberfläche verharrte Abigail Drake regungslos, geradezu hypnotisiert von der erlesenen und seltenen Schönheit des Augenblicks. Die Delfine, die in trägen Kreisen um sie herum schwammen, boten plötzlich einen vollständig veränderten Anblick, als die orangeroten Streifen durch das Wasser schimmerten und überall Schatten warfen. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass die Nacht anbrach und dass nur wenige Meter weiter trübes Dunkel jegliche Gefahr mühelos verbergen konnte. Sie wusste selbst, dass sie nicht allein tauchen gehen sollte. Aber angesichts eines so strahlenden Tages hatte sie einfach nicht widerstehen können, als sie die wilden Delfine entdeckt und gewusst hatte, dass sie auf der Suche nach ihr hergekommen waren. Sea Haven, ein Küstenort im Norden Kaliforniens, war ihre Heimat. Abigail war eine der sieben Schwestern, die die siebente Schwester der magischen Drake-Familie geboren hatte, und jede von ihnen besaß einzigartige Gaben. Die Drake-Schwestern waren in Sea Haven allseits bekannt und wurden beschützt und liebevoll umsorgt. Es war der einzige Ort auf Erden, wo sie sich entspannen und sie selbst sein konnten. Mit Ausnahme von Abigail, die nur hier, im Meer, wahren Frieden fand. Vor der Küste im Norden Kaliforniens waren auch etliche Delfinarten beheimatet. Sie kannte die meisten von ihnen und konnte sie nicht nur an ihrem Äußeren voneinander unterscheiden, sondern auch an ihrem Erkennungspfiff. Ein Erkennungspfiff war so gut wie ein Name und die meisten Forscher waren sich darüber einig, dass Delfine sich gegenseitig mit ihrem Namen anredeten, wenn sie sich miteinander verständigten. Diese spezielle Gruppe von Delfinen hatte auch einen Erkennungspfiff für Abigail. Sie hatte die Tiere rufen gehört, als sie auf der Aussichtsplattform des Hauses ihrer Familie stand. Sie war monatelang fort gewesen, um in anderen fernen Meeren zu forschen, und doch hatten die Delfine sie bei ihrer Rückkehr zu Hause willkommen geheißen wie sonst auch. Vor ein paar Jahren hatte sie sich im Rahmen ihrer Doktorarbeit intensiv mit dieser speziellen Gruppe von Delfinen befasst, sie katalogisiert und jede Kontaktaufnahme und jedes Sichten festgehalten. Ihr besonderes Augenmerk galt dabei der Kommunikation dieser Tiere. Sie war fasziniert von deren Sprache und wollte lernen, sie mit der Zeit zu verstehen. Mit zwei von den Männchen hatte sie eine Art Zeichensprache entwickelt. Und so stattete sie ihnen jedes Mal, wenn sie nach Hause kam, einen Besuch ab. Obwohl keine ihrer Schwestern zur Verfügung gestanden hatte, um gemeinsam mit ihr zu tauchen, hatte sie dem Ruf »ihrer« Delfine nicht widerstehen können und sich mit ihrem Boot auf den Weg gemacht, um sich ihnen anzuschließen. Wenn man in den Vereinigten Staaten mit wilden Delfinen schwimmen wollte, war eine staatliche Sondergenehmigung erforderlich. Und Abigail war in der glücklichen Lage, dass ihr diese Erlaubnis für ihre Forschungen vor der kalifornischen Küste ein zweites Mal erteilt worden war. Doch sie achtete sorgsam darauf, sich unauffällig zu verhalten, damit sie keine unnötige Aufmerksamkeit auf die Anwesenheit der Delfine lenkte. Sie konnten mühelos fünfzig Meilen zurücklegen und manchmal machten sie es einem schwer, ihren Kurs zu verfolgen, doch diese Gruppe, wie auch viele andere, rief sie oft unter Verwendung desselben Pfiffs zu sich. Es war sehr ungewöhnlich, dass die Delfine sie identifiziert und ihr einen Namen gegeben hatten, und es freute sie ganz besonders, dass sie nach ihrer langen Abwesenheit über ihre Rückkehr informiert waren. Abigail rollte sich herum und schwamm Bauch an Bauch mit Kiwi, einem großen ausgewachsenen Männchen, das eine enge Beziehung zu Boscoe, einem anderen Männchen, eingegangen war. Die beiden Männchen schwammen normalerweise synchron miteinander. Boscoe vollzog zu exakt demselben Zeitpunkt genau dieselben Bewegungen wie Kiwi und schwamm dicht neben Abigail her, als sie zu dritt gemeinsam eine träge Schleife beschrieben, während etliche andere Delfine in einem weiten geschwungenen Kreis tanzten, als hätten sie jede Bewegung im Voraus einstudiert. Das Tanzen mit Delfinen war eine Wohltat. Abigail beobachtete Delfine, fotografierte sie und machte Aufzeichnungen von ihnen, doch heute Abend genoss sie schlicht und einfach ihre Gesellschaft. Ihre Ausrüstung, die sie immer bei sich hatte, war nahezu in Vergessenheit geraten, während sie für die nächsten vierzig Minuten gemeinsam dieses seltsame und faszinierende Ballett aufführten. Anfangs tauchte das Rot der untergehenden Sonne sie in feuriges Gold, doch als die Abenddämmerung anbrach, wurde es immer schwieriger, den Tanz fortzusetzen, wenn sie auch noch so gern geblieben wäre. Widerstrebend deutete Abigail auf die Wasseroberfläche und veränderte ihre Haltung, um sich an den Aufstieg zu machen. Die Delfine schwammen in lockeren Kreisen um sie herum, ihre Körper in ihrer Geschmeidigkeit keineswegs beeinträchtigt durch die enormen Muskeln und ihre gewaltige Kraft. Es war erstaunlich, mit welcher Geschwindigkeit sie durch das Wasser schießen und so tief tauchen konnten und dabei doch so wenig Sauerstoff verbrauchten. Abigail fand sie einfach umwerfend. Sie kam an die Oberfläche, nahm die Taucherbrille von den Augen und ließ sich auf dem Rücken treiben, während sie zu dem großen runden Ball am Himmel aufblickte. Ihr leises Lachen hallte über das Wasser. Wellen plätscherten gegen ihren Körper und spritzten ihr ins Gesicht. Sie erlaubte ihren Beinen, sanft nach unten zu gleiten, damit sie Wasser treten konnte, während sie ehrfürchtig die weißen Schaumkronen anstarrte, die vom hellen Glanz des Vollmonds in funkelnde Juwelen verwandelt wurden. Neben ihr kam ein großer Tümmler an die Wasseroberfläche und umkreiste sie in einer anmutigen Schleife. Der Delfin schüttelte den Kopf von einer Seite auf die andere und stieß eine Serie von kreischenden und schnalzenden Lauten aus. Sie schwamm in einem trägen Kraulstil auf ihr Boot zu und verabschiedete sich von den Delfinen mit dem kurzen vergnügten Pfiff, den sie stets benutzte. Sie brauchte nur ein paar Minuten, um ihre Kamera und den Recorder zu verstauen, bevor sie in ihr Boot kletterte. Zitternd vor Kälte warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. Ihre Schwestern würden sich große Sorgen um sie machen und sie wusste, dass ihr eine Strafpredigt bevorstand. Die Delfine streckten ihre Köpfe aus dem Wasser und grinsten sie an. In ihren runden schwarzen Augen funkelte unverkennbar Intelligenz. »Euch beiden habe ich es zu verdanken, wenn ich jetzt großen Ärger bekomme«, sagte sie zu den Männchen. In einer vollendeten Synchronisation schüttelten sie ihre Köpfe und tauchten gemeinsam unter, doch sie verschwanden nur unter der Wasseroberfläche, um auf der anderen Seite ihres Bootes pfeifend und quiekend wieder aufzutauchen. Abigail schüttelte ebenso entschieden den Kopf. »Nein! Es ist dunkel - oder das wäre es jedenfalls, wenn wir nicht Vollmond hätten. Ihr beide tut wirklich alles, damit ich mir eine Strafpredigt von Sarah einhandle. Wenn die erst mal loslegt, dann werden wir Übrigen ganz kleinlaut.« Sie ließ sich auf den gepolsterten Sitz sinken und kritzelte hastig ein paar Notizen, um ihre Beobachtungen festzuhalten. Auch diktierte sie immer auf Band, während sie das Boot steuerte. Für ihre Studie war es wichtig, an DNA-Proben zu kommen, um diese auf Pestizide und sonstige künstliche Giftstoffe zu untersuchen, aber auch auf übertragbare Krankheiten und natürlich auf Familienbande. Boscoe pfiff, ein unverwechselbarer Ton, der sie lächeln ließ. Abigail beugte sich über den Bootsrand. »Danke, dass ihr mir einen Namen gegeben habt, Jungs. Wir sehen uns dann morgen wieder, falls ihr bis dahin noch nicht auf und davon seid.« Inzwischen hatte sich die Dunkelheit vollends herabgesenkt. Sie war immer noch ein gutes Stück von zu Hause entfernt und jetzt seufzte sie tief, da sie wusste, dass sie diesmal nicht ungeschoren davonkommen würde. Sarah, ihre älteste Schwester, wartete mit Sicherheit schon auf sie, pochte mit dem Fuß auf den Boden und hatte die Arme in die Hüften gestemmt. Dieses Bild entlockte ihr ein Lächeln. Der Mond ergoss sein helles Licht auf das Wasser. Dadurch entstanden geheimnisvolle Tümpel aus flüssigem Silber auf der Oberfläche. Wellen mit kleinen weißen Schaumkronen funkelten, so weit ihr Blick reichte. Sie hielt ihr Gesicht der sanften Brise entgegen, als sie den Motor anließ und sich auf den Rückweg zu dem kleinen Hafen machte, in dem sie ihr Boot liegen hatte. Sie war etliche Meilen weit aufs Meer hinausgefahren, um sich zu den Delfinen zu gesellen, und sie war dankbar für den Mondschein, als sie Tempo zulegte, um die Küste zu erreichen. Boscoe und Kiwi rasten neben ihr her. Sie schnitten sich unglaublich flink durchs Wasser und sprangen verspielt in die Luft. »Ihr Angeber«, rief sie lachend. Die Kunststücke der beiden machten ihr große Freude, und sie folgten ihr durch die Meerenge unter der Brücke in den Hafen hinein. Ohne jede Vorwarnung sausten die zwei männlichen Delfine blitzschnell voraus und kreuzten direkt vor dem Boot ihren Weg, sodass sie das Gas zurücknahm. Das Benehmen der beiden schockierte sie und jagte ihr einen gewaltigen Schrecken ein. Die Delfine wiederholten dieses Manöver mehrere Male, bis ihr gar nichts anderes übrig blieb, als ihr Boot gleich nach der Hafeneinfahrt anzuhalten, in Sichtweite des Kais. »Kiwi! Boscoe! Was tut ihr denn da? Ihr werdet euch noch verletzen!« Das Herz schlug ihr bis zum Halse. Die Delfine folgten oft dem Bug des Bootes, sprangen in seinem Kielwasser und führten ihre Kunststücke vor, aber sie hatten noch nie mehrfach hintereinander so dicht vor dem Boot ihren Weg gekreuzt. Die großen Männchen kamen immer wieder Seite an Seite an die Oberfläche, standen auf ihren Schwänzen und redeten schnatternd auf sie ein. Sie hatte gar keine andere Wahl, als den Motor ganz auszuschalten. Durch die kräftige Dünung geriet das Boot an der Einmündung des Hafens ins Wanken. Sowie der Motor verstummte, kehrten Kiwi und Boscoe neben das Boot zurück, sprühten sie aus ihren Blaslöchern an und schüttelten heftig die Köpfe, als wollten sie ihr damit etwas sagen. Etliche andere Delfine tauchten ihre Köpfe aus dem Wasser und sprangen hoch, um einen besseren Ausblick auf den Kai zu haben. Sie wusste, dass dieses so genannte »Spy-hopping« unter Delfinen und Walen an der Tagesordnung war und eingesetzt wurde, um die Welt außerhalb ihrer natürlichen Umgebung zu betrachten. Auch diese Tiere schienen sich nach etwas umzusehen, was sich nicht im Wasser befand. Abigail blieb einen Moment lang still sitzen, denn sie war verblüfft über das ungewöhnliche Verhalten der Delfine. Nie hatte sie beobachtet, dass sich eines der beiden Männchen dergestalt gebärdete. Sie waren in heller Aufregung. Delfine waren ungeheuer stark und schnell und konnten gefährlich sein. Tümmlermännchen verbündeten sich manchmal auch mit anderen Männchen und hetzten ein einsames Weibchen, bis sie es eingefangen hatten. So etwas taten sie doch gewiss nicht mit ihr? Sollten sie sich etwa zusammengetan haben, um sie vom Hafen fernzuhalten? Sie wandte den Blick von ihnen ab und sah zum Ufer. Der Mond verströmte sein Licht über das dunkle Gewässer und die hölzernen Planken, die über das Wasser hinausführten. Dort erhoben sich Gebäude, zwei Restaurants mit Glasfronten zum Meer hin, die vom Mondschein angestrahlt wurden, doch sie waren geschlossen. Im Hafen war keine Spur mehr von dem hektischen Treiben zu erkennen, das sich tagsüber dort abspielte. Ihr Boot wurde von den Wellen hochgehoben und glitt tiefer in das stillere Wasser des Hafens hinein. Geräusche wehten über die Bucht, Stimmen, anfangs gedämpft, doch dann erhoben sie sich wie im Zorn. Abigail griff nach ihrem Fernglas und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Kai. Dort war wie üblich ein Ausflugsboot festgebunden. Gleich hinter dem Kai befand sich eine zweite Mole vor einem metallenen Geschäftsgebäude. Dort war ein Fischerboot vertäut und das war äußerst ungewöhnlich. Die Fischerboote benutzten die andere Seite des Hafens und sie hatte noch nie gesehen, dass eines von ihnen so dicht an dem Geschäftsgebäude lag. Ein kleines Rennboot, ein Zodiac mit leise surrendem Motor, war neben dem Fischerboot vertäut. In dem Rennboot konnte sie mindestens drei Männer erkennen. Einer, der ein kariertes Hemd trug, hatte seinen Arm ausgestreckt, und als sie genauer hinsah, erkannte Abigail plötzlich, dass er eine Waffe in der Hand hielt. Ein zweiter Mann erhob sich und stand nun direkt im Mondschein. Das Licht fiel auf ihn und zeigte sein grau meliertes Haar, das marineblaue Hemd und eine Waffe in seiner Hand. Beide Schusswaffen waren auf einen dritten Mann gerichtet, der im Boot saß. Weiße Nebelfetzen hatten begonnen, vom offenen Meer an die Küste zu treiben. Wie Geisterhände verschleierten sie ihr die Sicht, obwohl das Boot immer näher zum Kai trieb. Behutsam blies sie in die Luft und hob ihre Arme ein wenig, um Wind aufkommen zu lassen. Er strömte an ihr vorbei, nahm die Girlanden aus grauem Dunst mit sich und gewährte ihr von neuem ungetrübte Sicht über das Wasser. Jemand sagte schroffe Worte in einer Sprache, die sie vom Klang her für Russisch hielt. Der sitzende Mann erwiderte daraufhin etwas auf Englisch, aber das Meer schlug dröhnend gegen die Mole, während ihr Boot noch näher an den Kai trieb, und sie konnte die Worte nicht verstehen. Abigail hielt den Atem an, als sich der sitzende Mann auf den im karierten Hemd stürzte. Der Mann im marineblauen Hemd hob eine Schwimmweste vom Boden auf, hielt sie vor die Mündung seiner Waffe und presste sie seinem Opfer an den Hinterkopf, während dieses verzweifelt darum rang, die andere Schusswaffe an sich zu bringen. »Schieß auf ihn, Chernyshev! Erschieße ihn jetzt gleich!« Die Stimme war klar und deutlich zu vernehmen; sie hatte einen ausgeprägten russischen Akzent. Abigail hörte den gedämpften Schuss, einen Laut, von dem sie wusste, dass er sie bis in alle Ewigkeit verfolgen würde. Das Opfer brach langsam zusammen und sank auf den Boden des Rennboots. Das Fischerboot an der Mole geriet leicht in Bewegung und beide Männer drehten ihre Köpfe danach um. Einer rief einen Befehl. Abigail schnappte nach Luft, als ihr klar wurde, dass es sich bei dem Fischerboot mit dem unverwechselbaren Anstrich um eines von denen handelte, die sie eindeutig identifizieren konnte. Gene Dockins und drei seiner Söhne betrieben Fischfang von Noyo Harbor aus. Die Familie wohnte in Sea Haven und war allgemein beliebt. Zu ihrem Entsetzen sah sie, dass Gene, der bisher auf dem Boden des Fischerboots gekauert hatte, langsam aufstand. Er hatte die Hände erhoben, um sich zu ergeben. Gene war ein Bär von einem Mann, mit breiten, gebeugten Schultern und einem grauen Haarschopf, der ihm als zottige Mähne über die Ohren fiel, so wüst und ungebärdig, wie es einem Seefahrer wie ihm entsprach. Der Atem stockte ihr, und ihr Herz begann heftig zu pochen. Der Mann gestikulierte mit seiner Waffe und bedeutete Gene, aus seinem Boot zu steigen. Der Fischer ging zur Leiter, blieb stehen und sprang in dem Moment ins Meer, als die Waffen abgefeuert wurden. Daran, wie sein Körper während des Sturzes zuckte, konnte Abigail erkennen, dass Gene getroffen worden war, aber sie konnte auch sehen, wie seine Arme sich bewegten, als er aufs Wasser traf und unterging. Er war eindeutig noch am Leben. Die beiden Schützen fluchten und begannen, Schüsse in das dunkle Wasser abzugeben. Sie feuerten die Kugeln durch die Schwimmwesten ab, um die Geräusche ein wenig zu dämpfen. Abigail stieß Boscoes Erkennungspfiff aus und streckte ihren Arm zu einem Befehl vor. Sie hoffte, der Delfin würde ihr gehorchen. Ihre telepathischen Fähigkeiten waren zwar recht gering, wenn es darum ging, Kontakt zu ihren Schwestern aufzunehmen, doch ihre Verbindung zu den Delfinen war wesentlich stärker, und sie verstanden oft, was sie wollte, wenn sie es nicht sogar schon voraussahen. Boscoe schoss davon wie eine Rakete, schlug augenblicklich den Weg zur Hafenmole ein und stieß, als er dort aus dem Wasser auftauchte, etliche Rufe und Pfiffe aus, die eindeutig als Signale für die anderen Delfine der Herde gedacht waren. Als sie nach ihrem Funkgerät griff, um Hilfe zu rufen, wurde sie von den beiden Männern im Rennboot entdeckt. Der mit dem grau melierten Haar drehte sich sofort um, riss beide Arme hoch und legte auf sie an. Plötzlich überkam sie große Furcht, und sie spürte, wie das Blut in ihren Adern erstarrte. Abgesehen von dem scharfen Tauchermesser, das an ihrem Gürtel hing, und einem langen Teleskopstock, den sie selbst entworfen hatte und mit sich herumtrug, um Haie abzuwehren, falls sie beim Tauchen von ihnen angegriffen werden sollte, war sie unbewaffnet. Kugeln sausten zischend ins Wasser und schlugen in die Seite ihres Boots ein. Sie schnappte sich den Teleskopstock, der nach dem Druckluftprinzip funktionierte, und machte einen Hechtsprung. In dem Moment, als sie auf das Wasser traf, zuckte etwas Heißes über ihren Rücken und ihre Schulter. Das Salzwasser brannte und verschlimmerte den stechenden Schmerz, doch dann wirkte das Adrenalin in Verbindung mit dem eisigen Hauch des Meeres betäubend. Sie tauchte keuchend wieder auf, um Luft zu schnappen. Nicht nur die beiden bewaffneten Mörder bereiteten ihr Sorgen. Normalerweise traf man im Hafen nur Sandhaie und vereinzelt auch Leopardenhaie an. Die Fischer achteten peinlich genau darauf, Fischreste von den Hafengewässern fernzuhalten, aber die Küstenregion war von etlichen gefährlicheren Haifischarten bevölkert, die die seichten Rinnen bevorzugten. Die Gegend war dafür bekannt, dass es hier weiße Haie gab, da Robben in der Nähe ihren Brutplatz hatten. Jetzt verloren sie und Gene im Hafenbecken Blut, und sie wusste, dass sie sich möglichst schnell in Sicherheit bringen musste. Sie wandte sich vom Hafen ab und den Klippen von Sea Haven zu, während sie beide Arme aus dem Wasser hob und den Teleskopstock fest in einer Hand hielt. Sie rief den Wind herbei, um ihn als Boten übers Meer zu senden und ihre Schwestern zu benachrichtigen. Das Rennboot steuerte schnell auf sie zu und beide Männer gaben Schüsse auf sie ab. Kugeln sausten durch das Wasser und eine zerschnitt die Luft so dicht neben ihrem Ohr, dass sie hören konnte, wie sie zischend vorüberflog und hinter ihr ins Wasser eindrang. Sie tauchte wieder unter und warf ihre Beine nach oben, um mehr Schwung zu bekommen und schneller ins tiefere Wasser zu gelangen. Ihr Herz hämmerte, als das Boot sie erreichte und sein Propeller sich in bedrohlicher Nähe durchs Wasser schnitt. Sie musste sich beeilen, musste schleunigst zu Gene gelangen, denn falls Haie vom Blut in den Hafen gelockt wurden, würde Boscoe ihren Angriffen schutzlos ausgeliefert sein, solange er Gene über Wasser hielt. Sollten die Haie aggressiv werden, dann konnten die Delfine den blutenden Fischer nicht lange über Wasser halten. Als sie durch das Wasser nach oben blickte, konnte sie erkennen, dass die beiden Männer über den Rand des mittlerweile stillstehenden Bootes schauten und versuchten, einen gezielten Schuss auf sie abzugeben. Sie bewegte sich mit größter Vorsicht, denn sie wusste, dass sie wieder an die Oberfläche kommen musste, um Luft zu schnappen, und dass sie dann gleichzeitig angreifen musste. Kiwi kam ganz dicht an sie heran, um sie zu beruhigen. Dann begab er sich auf die gegenüberliegende Seite des Boots und lenkte die Aufmerksamkeit der beiden Männer auf sich, indem er direkt vor den Augen des Mannes im karierten Hemd plötzlich aus dem Wasser sprang. Kiwi signalisierte ihr seinen Sprung durch eine Reihe von Klicklauten und Abigail tauchte auf der anderen Seite des Boots aus dem Wasser auf. Chernyshevs Waffe war auf den Delfin gerichtet, während sein Partner alarmiert zurückwich. Chernyshev gab in dem Moment einen Schuss ab, als Abigail das Ende des Teleskopstocks gegen seine Wade schmetterte und abdrückte, damit das innere Rohr hervorschoss. Er schrie laut auf, als ihn der Hieb mit ungeheurer Wucht traf, doch sie hörte seinen Schrei nur noch gedämpft, als sie wieder unter der Wasseroberfläche verschwand. Das Wasser schloss sich über ihrem Kopf, und Abigail bewegte sich mit kräftigen Beinschlägen noch etwas weiter nach unten, um in den düstereren Tiefen Deckung zu suchen. Sie schlug den Weg zum offenen Meer ein. Gleich darauf spürte sie, wie das Wasser an ihr riss, ihren Körper packte und ihn herumwälzte. Sie war auf eine seichte Rinne gestoßen und die Rückströmung zog sie nach unten. Kiwi stupste sie an und ließ seine Flosse wie eine freundliche Aufforderung beinah unter ihre Hand gleiten. Sie packte sie, wenn auch eher instinktiv als überlegt. Er zog sie blitzschnell durch den stechenden Sand in das stillere Wasser des Hafens und von dort direkt zur Mole. Als sie den Atem nicht mehr anhalten konnte, ließ sie die Flosse los und strampelte sich kräftig nach oben. Japsend tauchte sie aus dem Wasser auf und drehte sich wild im Kreis, um nach dem Rennboot Ausschau zu halten. Es lag neben ihrem eigenen Boot und der Mann mit dem karierten Hemd beugte sich gerade hinein, um etwas an sich zu bringen, bevor er sich abstieß und Kurs aufs offene Meer nahm. Kiwi versetzte ihr wieder einen Rippenstoß und bot ihr seine Flosse an. Er schnalzte und quiekte und stupste sie, um sie zur Eile anzutreiben. Sie packte seine Flosse und versank unter der Wasseroberfläche, um sich von ihm in einem Tempo ziehen zu lassen, das sie allein niemals erreicht hätte. Kiwi hielt abrupt an, als Abigail gerade sicher war, dass ihrer Lunge für alle Zeiten die Luft versagt bleiben würde. Sie strampelte heftig, da sie es kaum erwarten konnte, an die Oberfläche zu kommen. Etwas streifte ihren Rücken. Es war ziemlich unheimlich, denn es fühlte sich an wie Fingerspitzen, die über ihre Schulterblätter strichen. Als sie sich geschwind umdrehte, sah sie sich von Angesicht zu Angesicht einem Toten gegenüber. Seine Augen waren offen und in seinem erstarrten Blick lag Entsetzen. Sein dunkles Haar schwebte um ihn herum wie Seetang, und sein Gesicht war bleich unter Wasser. Seine Arme waren ausgestreckt, und doch hielt das Wasser sie stets in Bewegung. Als die einlaufende Welle ihn mit sich nahm, stieß sein Körper gegen ihren. Ihr Magen drehte sich um, und sie keuchte. Das letzte bisschen Luft entwich ihrer Lunge, und sie schluckte Meerwasser. Sie strampelte verzweifelt, weil sie schleunigst die Oberfläche erreichen musste, und während sie hustete und würgte, durchbrach ihr Kopf den Wasserspiegel. Salz oder vielleicht auch Tränen ließen ihre Augen brennen, doch sie sog ihre Lunge voll mit Luft und hielt sich ein drittes Mal an Kiwi fest.