Amüsierst du dich, Sheena?« Stavros Gratsos rieb mit seinen Handflächen Elle Drakes nackte Arme, um sie zu wärmen, als er hinter ihr an der Reling seiner großen Yacht stand. Von allen Seiten wehten der Klang von Gelächter und Gesprächsfetzen an Elle vorbei auf das schimmernde Mittelmeer hinaus. Sheena MacKenzie, Elles Deckname als Agentin - und ihr Alter Ego. Sheena konnte auf jeder Abendgesellschaft und an jeder Tafel glänzen, denn ihre geschliffenen Umgangsformen, ihre Kultiviertheit und ihre geheimnisvolle Aura garantierten ihr Aufmerksamkeit. Ohne Make-up und das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden konnte Elle Drake hingegen mit den Schatten verschmelzen und darin verschwinden. Die beiden waren eine nahezu unschlagbare Kombination, und Sheena hatte genau das getan, wofür Elle sie gebraucht hatte - sie hatte Stavros angelockt und sein Interesse lange genug wach gehalten, damit Elle in seinem Luxusleben herumstochern und sehen konnte, was sich dort aufdecken ließ - und das war bisher rein gar nichts. Elle konnte die Gedanken und Gefühle von Stavros nicht so lesen wie bei anderen Menschen, wenn diese sie berührten, und das erstaunte sie. Ihre übersinnliche Fähigkeit, Gedanken zu lesen, war die meiste Zeit störend, aber es gab auch vereinzelt Menschen, die natürliche Barrieren zu haben schienen. In einem solchen Fall war eine gezielte »Invasion« erforderlich, wenn sie sehen wollte, was diese Personen dachten. Elle drang so gut wie nie vorsätzlich in die Privatsphäre anderer Menschen ein, selbst dann nicht, wenn sie als Agentin tätig war, doch im Falle Stavros würde sie eine Ausnahme machen müssen. Sie ermittelte schon seit Monaten gegen ihn und hatte nichts gefunden, was ihn von jedem Verdacht freisprach, aber auch nichts, das einen Hinweis auf seine Schuld gab. Sie warf ihm über ihre Schulter einen Blick zu. »Es war wunderbar. Ganz erstaunlich. Aber ich glaube, das gilt für alles, was du tust, und das weißt du selbst.« Stavros veranstaltete immer die besten Partys, und seine Yacht war größer als die Häuser der meisten Menschen. Er setzte seinen Gästen das beste Essen vor, hatte die beste Musik und umgab sich mit intelligenten Menschen, mit Leuten, die Spaß machten. In all den Monaten, seit sie ihn überwachte, hatte sie bisher noch keine Spur irgendwelcher kriminellen Aktivitäten entdeckt. Stavros war gütig und großzügig gewesen, hatte Millionen für wohltätige Zwecke gespendet, unterstützte die schönen Künste und hatte zusammen mit seinen Angestellten eine gute Lösung gefunden, wie sich die Entlassung einer ganzen Gruppe von Arbeitern vermeiden ließ. Inzwischen respektierte sie den Mann trotz früherer Verdächtigungen. Sie überlegte bereits, zu Dane Phelps, ihrem Chef, zurückzugehen und einen Bericht zu schreiben, in dem klipp und klar stehen würde, an den Gerüchten, die sich um Stavros rankten, sei nichts dran - abgesehen davon, dass seine Aura auf Gefahr und einen ausgeprägten Hang zu Gewalttätigkeit hinwies. Allerdings umschwirrten manche der Männer, die sich ihre Schwestern als Gefährten ausgesucht hatten, ebenso lebhafte Farben. »Ich habe diese Party dir zu Ehren gegeben, Sheena«, gestand Stavros. »Mein flatterhafter Schmetterling, den ich nicht zu fassen bekomme.« Er zog an ihrem Arm, um sie umzudrehen, damit ihr Rücken an der Reling lehnte und sein Körper sie dort festhielt. »Ich möchte, dass du mit mir auf meine Insel kommst und dir ansiehst, wie ich wohne.« Ihr Herz überschlug sich. Wenn man den Gerüchten Glauben schenkte, nahm Stavros nie eine Frau auf seine Insel mit. Er hatte Häuser auf der ganzen Welt, doch die Insel war sein privater Zufluchtsort. Die meisten Geheimagenten hätten sich für die Gelegenheit begeistert, Zutritt zu Stavros' privatem Reich zu erlangen, zu seinem Allerheiligsten, doch ihr Boss hatte ausdrücklich darauf bestanden, dass sie nicht dorthin ging, noch nicht einmal dann, wenn sich ihr die Gelegenheit bot. Denn von dieser Insel aus war jede Kontaktaufnahme unmöglich. Stavros nahm ihre Hand und führte ihre Knöchel an seine Lippen. »Komm mit mir, Sheena.« Sie bemühte sich, nicht zusammenzuzucken. Sheena. Sie war ja eine solche Schwindlerin. Das war der Mann, in den sie sich verlieben sollte, nicht der Wurm - der Unaussprechliche -, der ihr das Herz gebrochen hatte. Hier stand Stavros, gut aussehend, intelligent, wohlhabend, ein Mann, der Probleme löste und dem viele der Dinge am Herzen zu liegen schienen, die auch ihr ein echtes Anliegen waren. Warum konnte er nicht der Mann sein, in den sie sich rasend verliebte? »Ich kann nicht mitkommen«, sagte sie leise. »Wirklich nicht, Stavros. Ich möchte gern, aber ich kann es nicht tun.« Seine Augen verfinsterten sich. Stavros hatte gern, dass es nach ihm ging, und er war eindeutig daran gewöhnt, seinen Willen zu bekommen. »Das heißt, du kommst nicht mit.« »Das heißt, ich kann nicht mitkommen. Du willst Dinge von mir, die ich dir nicht geben kann. Ich habe dir von Anfang an gesagt, wir könnten Freunde sein - aber kein Liebespaar.« »Du bist nicht verheiratet.« »Das ist richtig.« Aber sie hätte es sein sollen. Sie hätte sich längst im Haus ihrer Familie mit dem Mann niederlassen sollen, den das Schicksal ihr bestimmt hatte, aber er hatte sie zurückgewiesen. Der Gedanke versetzte ihren Magen in Aufruhr. Sie hatte dafür gesorgt, dass sie durch eines der Weltmeere voneinander getrennt waren, doch er versuchte immer noch, sie zu erreichen; seine Stimme war nur ein schwaches Surren in ihrem Kopf, wenn er versuchte, sie zu einer Rückkehr zu überreden - aber wohin hätte sie zurückkehren können? Zu einem Mann, der keine Kinder und kein magisches Erbe haben wollte. Er weigerte sich zu verstehen, wer sie war - und was sie war. Indem er ihr Vermächtnis zurückwies, wies er auch sie zurück. Und sie brauchte einen Mann, der ihr helfen würde. Der verstehen würde, wie schwierig es für sie war, ihrer Zukunft ins Auge zu sehen. Sie brauchte jemanden, der ihr eine Stütze war, nicht jemanden, dem sie gut zureden oder um den sie sich kümmern musste. »Komm mit mir nach Hause«, wiederholte er. Elle schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht mitkommen, Stavros. Du weißt, was passieren würde, wenn ich es täte, und dazu darf es nicht kommen.« Seine weißen Zähne blitzten auf. »Dann hast du dir zumindest Gedanken darüber gemacht.« Elle legte ihren Kopf in den Nacken und blickte zu ihm auf. »Du weißt, wie man eine Frau umgarnt. Welche Frau würde sich von dir nicht in Versuchung führen lasen?« Bei ihr war es ihm zumindest gelungen. Es wäre so einfach. Er war ganz reizend zu ihr, stets aufmerksam, und er wollte ihr die Welt zu Füßen legen. Sie hob eine Hand und berührte voller Bedauern sein Gesicht. »Du bist ein prima Kerl, Stavros.« Sie schämte sich dafür, dass sie ihn der abscheulichsten Dinge verdächtigt hatte - bis hin zum Menschenhandel. Ja, früher hatte er in seinen Frachtern tatsächlich Waffen geschmuggelt, zu Zeiten, als er noch nichts hatte. Aber er schien all seine Fehler mehr als wieder gutgemacht zu haben und ging, so weit sie das feststellen konnte, nur noch legalen Geschäften nach. Zumindest konnte sie seinen Namen bei Interpol und den anderen Geheimdiensten weltweit nun reinwaschen. Da sie die letzten Monate hart daran gearbeitet hatte, sich mit ihm anzufreunden und sein Vertrauen zu gewinnen, würde ihr das ein besseres Gefühl geben. »Ich höre ein unausgesprochenes >Aber<, Sheena«, sagte Stavros. Elle breitete ihre Arme weit aus, um mit dieser Geste die Yacht und das schimmernde Meer einzuschließen. »All das. Das ist deine Welt, und ich kann ihr gelegentlich einen kurzen Besuch abstatten, aber ich könnte mich niemals behaglich darin einrichten. Ich habe einen Blick darauf geworfen, was du bisher getan hast, Stavros, und Beständigkeit scheint nicht dein Fall zu sein. Und nur damit du es weißt, ich habe es ganz sicher nicht darauf angelegt, dass du mich heiratest. Es ist nur so, dass ich mich kenne. Ich hänge mein Herz an Menschen, und Trennungen sind für mich furchtbar schmerzhaft.« »Wer sagt denn, dass es zu einer Trennung kommen muss?«, sagte Stavros. »Komm mit mir nach Hause.« Seine Stimme war sanft und einschmeichelnd, und einen Moment lang wollte sie nachgeben, wollte annehmen, was er ihr anbot. Er gab ihr das Gefühl, eine schöne, begehrenswerte Frau zu sein, und das hatte bisher noch kein anderer getan - aber schließlich war sie nicht die bezaubernde, kultivierte Sheena. Sie war Elle Drake und sie trug eine gewisse Verpflichtung mit sich, wohin auch immer sie ging. »Ich kann dir nicht sagen, wie gern ich mit dir ginge, Stavros«, sagte sie aufrichtig, »aber ich kann es wirklich nicht tun.« Ein Anflug von Ungeduld zog über sein gut geschnittenes Gesicht. Er blinzelte und seine dunklen Augen wurden etwas frostiger. »Die Boote beginnen gerade unsere ersten Gäste an Land zurückzubringen. Mit einigen muss ich noch reden. Bleib hier und warte auf mich.« Elle nickte. Was konnte das schon schaden? Nach dem heutigen Abend würde Sheena MacKenzie verschwinden und Stavros würde sie nie wiedersehen. Vielleicht wusste er bereits, dass sie sich verabschieden würde. Sie konnte ihm nicht vorwerfen, dass er verärgert war. Sie hatte versucht, ihm keine falschen Hoffnungen zu machen, aber dennoch sein Vertrauen so weit zu gewinnen, dass sie in seinen inneren Kreis vorgelassen wurde. Sie hatte seine Wohltätigkeitsveranstaltungen und seine Partys besucht und nicht ein einziges Mal gehört, dass über illegale Aktivitäten gemunkelt wurde. Falls er tatsächlich der Verbrecher war, für den ihr Boss ihn hielt, stellte er es erstaunlich geschickt an, seine kriminellen Aktivitäten zu verbergen. Sie selber jedenfalls hielt es mittlerweile nicht mehr für möglich. Warum also konnte sie sich nicht in ihn verlieben? Was stimmte nicht mit ihr? Der Wurm - der Unaussprechliche - war es doch gewiss nicht wert, sich weiterhin Hoffnungen zu machen. War sie dumm genug, das zu tun? Zu hoffen, er würde sich um sie bemühen? Dazu würde es niemals kommen. Er wollte sie nicht. Er wollte ihr Erbe nicht. Und ebenso wenig ihren Namen. Oder ihr Haus. Und schon gar nicht die sieben Töchter, die zwangsläufig damit einhergingen. Nein, sie machte sich keine Hoffnungen mehr, Jackson De- veau würde sie eines Tages lieben oder sie auch nur wollen. Jetzt musste nur noch ihr Schmerz vorübergehen. Sie beobachtete Stavros, als er mit seinen Gästen sprach, lächelte und einen glücklichen Eindruck machte. Als spürte er, dass sie ihn ansah, drehte er den Kopf um und lächelte sie liebevoll an. Ihr Herz schlug einen komischen kleinen Purzelbaum, nicht so, wie es das tat, wenn der Wurm sie anlächelte, sondern weil sie wusste, dass Stavros auf dem besten Wege war, sich in sie zu verlieben, und weil das alles so ungerecht war. Aber könnte sie so leben? So luxuriös und schnelllebig? Sie war mit einem Vermächtnis geboren worden, das wenigen anderen - wenn überhaupt jemandem - je zuteilgeworden war oder zuteilwerden würde. Als siebente Tochter einer siebenten Tochter besaß Elle übersinnliche Gaben, die in ihren Genen angelegt waren, um wiederum an ihre eigenen sieben Töchter weitergegeben zu werden. Und ihre siebente Tochter würde dasselbe bittersüße Vermächtnis antreten. Würde Elle ihre Bestimmung erfüllen? Oder würde mit ihr das magische Erbe der Drakes sang- und klanglos dahinscheiden? Elle hatte sich früher immer ein Leben voller Gelächter und Glück mit ihrem Seelengefährten ausgemalt. Das war, bevor sie ihm begegnet war. Er war ein mürrischer, schweigsamer, grüblerischer, sehr dominanter Mann. Sie wusste, dass er ihr Stille und Frieden bringen konnte, aber er konnte auch mit einem einzigen glühenden Blick ihr Blut in flüssiges Feuer verwandeln. Doch er weigerte sich zu akzeptieren, wer sie war - er weigerte sich, sie so, wie sie war, zu lieben. Und wenn er es nicht tat, fürchtete sie, kein anderer Mann würde es jemals tun - vielleicht konnte es auch keiner. Jedenfalls nicht die wirkliche Elle Drake. Sie drehte sich um und beugte sich über die Reling, um die Boote zu beobachten, die nahten, um Stavros' Gäste ans Ufer zurückzubringen. Die Nacht war längst der Morgendämmerung gewichen, und sie war müde und unterdrückte ein Gähnen, während sie versuchte dahinterzukommen, was sie als Nächstes mit ihrem Leben anfangen sollte. Sea Haven, ein kleiner Küstenort im Norden Kaliforniens, war für sie immer ihr Zuhause gewesen - ein Zufluchtsort. Dort stand das Haus ihrer Familie, ein großes Anwesen mit Blick auf das stürmische Meer. Das Meer war so anders hier. Eine wunderschöne Verlockung, die ein sonnendurchflutetes Luxusleben versprach, aber sie wusste, dass es zwecklos war zu glauben, ihr sei ein solches Leben bestimmt. Im Grunde ihres Herzens war sie ein Heimchen am Herd, eine Frau, die dazu geboren war, Ehefrau und Mutter zu sein. Sie liebte das Abenteuer, aber mit der Zeit würde ihr Verlangen, das Vermächtnis der Drakes weiterzureichen, so stark werden, dass sie nicht mehr fähig sein würde, dieses Bedürfnis zu ignorieren. Hatte sie überhaupt das Recht, der Welt jemanden wie ihre Schwester Libby vorzuenthalten, die durch bloßes Handauflegen heilen konnte? Oder Joley mit ihrer wunderbaren Stimme? Kate, deren Bücher so vielen Menschen Trost und Zerstreuung boten? Jede ihrer Schwestern besaß unglaubliche Gaben, die von einer Generation an die nächste weitergereicht wurden. Wenn sie ihre Bestimmung nicht erfüllte, würde dieses Geschlecht mit ihr ein Ende nehmen. Aus den Augenwinkeln sah sie eine Bewegung, und als sie sich umschaute, sah sie, wie der Kapitän auf Stavros zuging und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Sie stellte sich sehr geschickt darin an, Lippen zu lesen, doch sie konnte seinen Mund nicht deutlich sehen. Stavros runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, warf einen Blick auf seine Armbanduhr und dann auf Elle. Sie hielt ihr Gesicht still und wandte ihren Blick wieder dem Meer zu. Sid, Stavros' Leibwächter, sagte ebenfalls etwas. Er war ihr zugewandt und daher konnte sie seine Worte eindeutig aufschnappen. »Es wird gefährlich sein, sie auf der Insel zu haben, Sir. Denken Sie nochmal darüber nach. Entfernen Sie sie jetzt von dem Boot, und wir werden dem Fahrer Anweisungen erteilen, sie zu Ihrer Villa zu bringen. Sie können sie dort festhalten, bis das Treffen vorbei ist.« Elles Magen zog sich zusammen. Der Leibwächter sprach von ihr. Stavros schüttelte den Kopf und sagte etwas, das sie nicht mitkriegte, doch der Leibwächter und der Kapitän sahen beide wieder in ihre Richtung, und keiner von beiden schien froh darüber zu sein. Ihr inneres Warnsystem, das sie bei zahllosen Aufträgen schon viele Male gerettet hatte, schrillte lautstark, und sie zögerte nicht. Sie bewegte sich rasch durch die sich lichtendeMenschenmenge an den Rand der Yacht, wo die Boote ankamen, um die Gäste abzuholen und sie zum Ufer zurückzubringen. Ihre Handtasche und ihr kleiner Koffer waren noch in der Kajüte unter Deck, aber Elle achtete sorgsam darauf, nie etwas in ihrer Handtasche oder ihrem Gepäck zu haben, das sie verraten könnte. Sie würde die Yacht verlassen, und wenn Dane wollte, dass sie zurückging, konnte sie das Abholen ihrer Sachen als einen Vorwand benutzen, um Stavros erneut zu kontaktieren. Sie machte sich klein und versuchte zwischen den anderen Gästen unterzutauchen. Als Elle konnte sie mühelos in den Schatten verschwinden, aber Sheena fiel auf. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und ein Gefühl von Dringlichkeit packte sie, als sie sich einen Weg zu den abfahrenden Booten bahnte. Ihr würde nicht damit gedient sein, sich umzudrehen, um zu überprüfen, ob sie gejagt wurde; sie wusste bereits, dass es so war. Sie hatte eine einzige Chance, nämlich die, in dem Moment in das Boot zu steigen, wenn es ablegte. Das Timing musste perfekt sein. Elle schlüpfte zwischen den letzten Gästen durch, die auf das nächste Boot warteten, trat auf den Anlegesteg und hielt ihre Hand dem jungen Mann hin, der das abfahrende Boot vom Steg abstieß. Er grinste und zog das Boot wieder an den Steg, damit sie einsteigen konnte. Als seine Finger gerade um ihre Hand glitten, fühlte sie, wie eine andere Hand ihren Oberarm mit festem Griff umklammerte und sie zurückzog. »Mr. Gratsos käme gern noch etwas länger in den Genuss von Ms. MacKenzies Gesellschaft«, sagte Sid gewandt und zog ihre wesentlich kleinere Gestalt an sich. Elle holte tief Luft und fühlte, wie sich die Woge der Emotionen von Stavros' Leibwächter über sie ergoss. Er wünschte fast, er hätte sie nicht erwischt - tatsächlich hatte er sogar in Betracht gezogen, sie haarscharf zu verpassen, aber er wusste auch, dass Stavros das ablegende Boot dann angehalten hätte.Elle ließ sich von ihm zurückziehen, ohne sich zu wehren. Der Leibwächter war größer und viel kräftiger als sie, und selbst wenn es ihr gelungen wäre, ihn zu überrumpeln, wozu wäre das gut gewesen? Keiner von Stavros' Männern würde gegen seine Befehle zulassen, dass sie die Yacht verließ. Sie lächelte den Fahrer anmutig an und blickte zu dem Leibwächter auf. Er war kein Grieche. Sie war nicht ganz sicher, woher er kam. Er sprach mit einem griechischen Akzent, aber irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Und er kam ihr schrecklich bekannt vor. Sie wusste jedoch nicht, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte. »Sie tun mir weh.« Sie sprach mit gesenkter Stimme, sehr leise, und sah ihm dabei fest ins Gesicht. Er ließ sie augenblicklich los, so schnell, als hätte er sich an ihrer Haut verbrannt. »Es tut mir leid, Ms. MacKenzie. Mr. Gratsos hat mich gebeten, Sie zu ihm zurückzubringen, und ich habe befürchtet, Sie könnten ins Meer fallen, wenn ich Sie nicht weiterhin festhalte. Ich habe nicht gemerkt, wie fest ich zugepackt habe.« Er hatte gefürchtet, sie würde eine Szene machen, aber seltsamerweise war das auch schon alles, was sie durch den Körperkontakt in Erfahrung brachte. Woran lag das? Wie kam es, dass der Leibwächter, ebenso wie Stavros, vor ihren übersinnlichen Fähigkeiten sicher war? Es konnte kein Zufall sein, dass zwei Personen, die zusammenarbeiteten, von Natur aus starke Barrieren hatten. Sids Schutzschild war so stark wie die seines Chefs, wenn nicht sogar noch stärker, wenn es sich auch ganz anders anfühlte. Elle verzieh ihm mit einem versöhnlichen Lächeln, das rundum im Einklang mit Sheenas bezauberndem Naturell war. »In diesem Kleid würde ich bestimmt nicht ins Meer fallen wollen.« Er trat einen Schritt zurück, um sie durch die kleine Gästeschar, die sich dicht zusammendrängte, vorausgehen zu lassen.Elle zögerte. »Sid, das ist das letzte Boot zur Küste, und die Leute gehen bereits an Bord. Ich muss mich auf den Weg machen.« Sie warf betont einen Blick auf ihre schmale Armbanduhr mit den Diamanten. »Ich habe heute Nachmittag einen Termin.« »Mr. Gratsos wird Sie rechtzeitig zu Ihrem Termin bringen«, beteuerte ihr Sid. Das war eine Lüge. Und es passte ihm nicht, sie anzulügen. Die Schutzschirme, die er errichtet hatte oder die für ihn bereitgestellt wurden, ließen seine stärkeren Gefühle durch die Lücken schlüpfen - es sei denn, er ließ es bewusst zu, was durchaus möglich war. Sie konnte das auch. Sid machte sich Sorgen um sie, und wenn er besorgt um sie war, hatte auch sie Grund zur Sorge. Sie stand vollkommen still und maß die Entfernung zum Boot. Sie war schnell, aber sie bezweifelte, dass das Boot sie gegen die Befehle, die Stavros erteilt hatte, mitnehmen würde. Sid schüttelte den Kopf. »Versuchen Sie es gar nicht erst, Ms. MacKenzie. Wenn Mr. Gratsos will, dass Sie hierbleiben, dann bleiben Sie hier.« Das war eine Warnung - eine unmissverständliche Warnung. Hatte er ihre Gedanken gelesen? Sie glaubte nicht, dass ihr Gesicht ihre Überlegungen verraten hatte. Er sah sie direkt an, und seine dunklen Augen bohrten sich in ihre. Die Warnung, die sie dort sah, ließ ihr Herz schneller schlagen und ihren Mund trocken werden. »Lassen Sie mich jetzt gehen.« Für einen Moment zeigte sich Bedauern in seinen Augen, aber sie wusste, dass er seinen Boss nicht hintergehen würde. »Darüber werden Sie sich mit ihm einigen müssen.« Elle nickte und machte sich auf den Rückweg zu dem Schiffsmagnaten; ihr war sehr deutlich bewusst, dass Sid dicht hinter ihr war. Stavros hielt ihr seine Hand entgegen, umschloss ihre Finger mit seinen und zog sie an seine Seite. »Ich hatte den Eindruck, du wolltest versuchen, mich hier alleinzulassen.« »Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht bleiben kann«, rief ihm Elle ins Gedächtnis zurück. »Ich bliebe gern, Stavros, aber ich war schon so lange hier.« Sie achtete sorgsam darauf, die Worte leichthin zu sagen und ihren Tonfall sogar bedauernd klingen zu lassen, während sie gezielt ihre Wahrnehmungen einsetzte und sich weit öffnete, um zu versuchen, ihn mit ihren übersinnlichen Gaben zu durchschauen. Stavros war es gewohnt, seinen Willen zu bekommen, und daher könnte es durchaus passieren, dass er versuchen würde, sie gewaltsam seinem Willen zu unterwerfen, ohne sich etwas Böses dabei zu denken oder es für Unrecht zu halten. Es war ihre erste echte Ermahnung, so behutsam wie möglich formuliert, obwohl sie am liebsten Feuer gespuckt hätte. Seine Augen verfinsterten sich. »Ich habe dich gebeten, bei mir zu bleiben. Und mit mir nach Hause zu gehen. Sheena, ich habe noch nie eine Frau dorthin mitgenommen.« Sie holte tief Atem. Er würde sie auf seine Insel bringen und sie würde von jeder Hilfe abgeschnitten sein. Hatte er sie in Verdacht? Und wenn ja, hieß das dann, dass er doch etwas zu verbergen hatte? Die Motoren begannen bereits zu stampfen, und sie konnte fühlen, wie das Deck unter ihren Füßen vibrierte. »Stavros, vielleicht sollte ich dich später dort treffen, morgen oder übermorgen.« Stavros tätschelte ihre Hand und führte sie über das Deck zu einem bequemen Stuhl. »Wir brauchen Zeit miteinander, Sheena. Ich will, dass wir eine Woche gemeinsam verbringen, nur wir beide, und vielleicht überlegst du es dir dann anders, was mich angeht.« »Ich habe nicht genug Kleidung für eine Woche dabei«, sagte Elle, die versuchte, es von der praktischen Seite zu sehen. »Ich lasse deine Sachen holen.« »Ich schlafe nicht mit dir, Stavros. Ich sagte dir doch, dass ich im Moment keine Beziehung eingehen kann. Ich bin noch nicht so weit.« »Du hast mir erzählt, dieser Mann hätte dir das Herz gebrochen, Sheena. Wer ist es?« Sie zuckte die Achseln, denn plötzlich machte ihr der Stahl in seinen Augen Sorge. Sie hatte das unbehagliche Gefühl, wenn sie jetzt einen Namen nannte, könnte derjenige demnächst tot aufgefunden werden. Und das war nun wieder Blödsinn, denn sie war sich doch ganz sicher gewesen, dass Stavros kein Verbrecher war. Aber andererseits musste sie sich, wenn er es nicht war, fragen, warum all ihre inneren Warnsysteme lautstark schrillten. »Er ist absolut bedeutungslos.« »Das kann er nicht sein, wenn du eine andere Beziehung nicht einmal ins Auge fasst.« Stavros trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Das hatte sie ihn schon öfter tun sehen, wenn er entweder tief in Gedanken versunken oder sehr aufgewühlt war. »Hast du mit ihm zusammengelebt? Wie lange warst du mit ihm zusammen?« »Das geht dich nichts an«, sagte Elle nachdrücklich. Seine Augen wurden schmaler. »Ich kann jemanden engagieren, der diese Antworten für mich herausfindet.« Ihr Herzschlag setzte aus. Er hatte bereits Nachforschungen über sie anstellen lassen. Dane hatte ihr gesagt, sie müsse darauf vorbereitet sein. Sie hatten ihr mit akribischer Genauigkeit ein Leben gebastelt und sie mit allem Drum und Dran versorgt, bis hin zu College-Fotos und Studienbescheinigungen, sowie einer detaillierten Vergangenheit. Aber würden diese Dinge einer Untersuchung von der Sorte standhalten, die ein Mann wie Stavros Gratsos verlangen würde? War das der Grund, weshalb er sie auf seine Insel mitnahm? Hatte er herausgefunden, dass sie Geheimagentin war? »Warum drängst du mich?« Stavros beugte sich zu ihr vor und sah ihr fest in die Augen.»Ich will dich. Ich habe noch nie eine Frau so sehr gewollt, wie ich dich will.« War das die schlichte Wahrheit? Sie bezweifelte es. Sheena war eine Schönheit, geheimnisvoll und intelligent, der Typ Frau, den Stavros attraktiv und faszinierend finden würde, aber er war nicht dafür bekannt, dass er auf Frauen reinfiel. Man sah ihn als ihren Begleiter, er verbrachte einige Zeit mit ihnen, aber es endete unvermeidlich damit, dass er weiterzog. Warum war er so wild entschlossen, Sheena für sich allein zu wollen? Elle seufzte. »Du wirst dich damit abfinden müssen, dass du mich nicht haben kannst, Stavros. Ich werde dir gegenüber so ehrlich wie möglich sein. Verhütungsmethoden sind bei mir zum Beispiel wirkungslos. Keine Form der Verhütung bewährt sich. Das heißt, wenn du ein Kondom benutzen würdest, bestünde immer noch ein sehr großes Risiko, dass ich schwanger würde. Das tue ich mir nicht an. Und dir, nebenbei bemerkt, auch nicht.« Seine Augen wurden noch dunkler, als er in ihrem Gesicht nach der Wahrheit forschte. Sie fühlte tatsächlich, wie sein Geist mit ihrem Bewusstsein in Verbindung zu treten versuchte, und sie zog sich eilig zurück, da sie zum ersten Mal befürchtete, er könnte fähig sein, in ihr zu lesen, wie sie in anderen las. Dort, wo er ihre Gedanken aufschnappen könnte, ließ sie nur Raum für die Wahrheit ihrer Behauptung. Er wirkte nicht nur fasziniert, sondern sogar erfreut. »Du sagst die Wahrheit.« Sie nickte. »Ich habe keinen Grund zu lügen. Ich kann das Risiko wirklich nicht eingehen, und da ich eines Tages Kinder haben möchte, kann ich keine dauerhafte Lösung für das Problem ins Auge fassen.« »Dann hast du nicht mit dem Mann geschlafen, der dir das Herz gebrochen hat?« Sie schüttelte den Kopf und sah auf das Meer hinaus. DieKüste verblasste, als die Yacht Tempo zulegte und seine private Insel ansteuerte. Stavros stieß seinen angehaltenen Atem aus und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Dann werde ich dein Erster sein. Dein Einziger.« In seiner schnurrenden Stimme drückte sich tiefe Zufriedenheit aus. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich schwanger werde. Nicht schwanger werden könnte, Stavros. Ich werde schwanger sein.« »Ich will Kinder«, sagte er. »Ich habe kein Problem damit, dass du schwanger wirst.« Ihr Herz machte einen Satz. So war das also. Stavros sah gut aus, er war charmant und reich, und er wollte Kinder. Sie war sicher, dass er übersinnliche Fähigkeiten besaß. Warum konnte das Drake-Haus ihn nicht auswählen? Vielleicht gab es mehr als einen Mann, der zu ihr passen würde, und das Schicksal war eingeschritten, um ihr eine Alternative zu geben. Stavros Gratsos, der sie zwang, sie auf seine Insel zu begleiten. »Stavros«, sagte sie sanft, »du bist ganz reizend, aber du bist ein paar Nummern zu groß für mich. Die Hälfte deiner Gäste fragt sich bestimmt, was du mit mir willst.« »Das sollen sie sich ruhig fragen.« Sid näherte sich auf seine lautlose Art und beugte sich herunter, um Stavros etwas ins Ohr zu flüstern. Stavros tätschelte sofort ihre Hand. »Wir sind bald zu Hause. Ich muss diesen Anruf entgegennehmen.« Er drückte ihr einen Kuss aufs Haar, als hätten sie bereits alles miteinander geregelt, und ging. Elle holte Luft und stieß den Atem wieder aus. Sie musste versuchen, nicht aus der Rolle zu fallen, nur für den Fall, dass ihre Tarnung doch noch nicht aufgeflogen war. Aber sie musste auch dringend jemandem mitteilen, wo sie war. Sie durfte sich nichts vormachen. Sie könnte ohne weiteres für immer verschwinden, und Stavros würde hundert Leute an der Hand haben, die beschworen, sie hätten gesehen, dass er sie abgesetzt hatte. Sie schloss die Augen. Sie musste ihre Schwestern erreichen und ihnen Bescheid geben, wo sie war, doch die Entfernung war zu groß. Sie waren in den Vereinigten Staaten, und sie würden sie nicht fühlen, es sei denn, die Verbindung zwischen ihnen würde endgültig abgebrochen - aber Es gab auch noch den Wurm. Jackson Deveau. Seine innere Verbindung zu ihr war stark, und wenn sie von sich aus den Kontakt zu ihm suchte, könnte es ihr gelingen, die Verbindung herzustellen und ihn zu benachrichtigen, wohin sie gerade gebracht wurde. Spielte Stolz eine Rolle, wenn man in Lebensgefahr schweben könnte? War sie tatsächlich so dumm? Das Boot hatte die kurze Strecke zu seiner privaten Insel schon fast zurückgelegt. Sie war nicht allzu weit vom Festland entfernt. Als die Yacht sich der Insel näherte, konnte sie ein schwaches Surren in ihrem Kopf fühlen. Anfangs war es lästig, doch schon bald begann es an Lautstärke zuzunehmen, bis die Schmerzgrenze fast erreicht war. Als sie ihre Finger an ihre Schläfen presste, um den Schmerz zu lindern, ertappte sie Stavros dabei, dass er sie beobachtete. In seinen Augen funkelte Genugtuung, als wüsste er von dem Druck in ihrem Kopf. Sie warf einen Blick auf Sid. Was auch immer sie fühlte, fühlte auch er, doch er verbarg es besser. Er lief neben Stavros her und hatte sein Gesicht von seinem Boss abgewandt, doch sie wusste, dass er denselben Druck in seinem Kopf wahrnahm. Elle amtete noch einmal tief ein und aus. Die Insel kam näher, und der Druck in ihrem Kopf nahm zu. Jetzt oder nie. Sie schloss die Augen und blockte alles außer Jackson ab. Sie stellte sich sein Außeres vor. Unnahbar. Breite Schultern. Narben. Muskulöse Brust. Stechende Augen, in denen Schatten lauerten. Jackson. Sie flüsterte innerlich seinen Namen. Sandte ihn ins All hinaus. Einen Moment lang herrschte Stille, als hielte die Welt um sie herum den Atem an. Ein Delfin sprang aus dem Meer, überschlug sich und verschwand wieder unter der glitzerndenWasseroberfläche. Elle hätte beinah aufgeschrien, als Stavros sie von ihrem Stuhl riss. Sie hatte nicht einmal wahrgenommen, dass er von hinten auf sie zugekommen war. »Was tust du da?«, fuhr er sie an, und seine weißen Zähne schlugen aufeinander. Wut war in seine Gesichtszüge gemeißelt. Er wusste es. Elle warf einen Blick auf seinen Leibwächter. Sid wusste es auch. Sie hatten nicht nur natürliche Barrieren, sondern sie waren auch für Telepathie empfänglich. Stavros und Sid. Sie steckte bis über beide Ohren in Schwierigkeiten. »Sheena! Antworte mir.« »Lass mich los.« Elle riss sich von ihm los. »Ich verstehe nicht, was in dich gefahren ist.« Selbst Sheena, so ruhig und gefasst sie auch war, würde es sich nicht bieten lassen, grob behandelt zu werden. Elle sah ihn finster an. »Mir reicht es, Stavros. Ich will nach Hause.« Sie würde nie wieder nach Hause gehen. Der Gedanke stellte sich ungebeten ein, doch er ließ sich in ihrem aufgewühlten Magen nieder. Wenn sie erst einmal einen Fuß auf diese Insel setzte, würde ihr bisheriges Leben zu Ende sein. Elle? Wo bist du? Bleib am Leben, Kleines, tu alles, was dafür erforderlich ist. Bleib für mich am Leben. Ich werde zu dir kommen. Ich werde dich finden. Tu, was du tun musst, ganz egal, was. Jacksons Stimme war wohltuend und schlich sich zart und intim in ihr Bewusstsein ein - und in ihren Körper. Er fühlte sich wie ihr Zuhause an. Ihr Trost. Sie wollte sich in sein Inneres schleudern und dort Schutz suchen. Er musste ihr die Verzweiflung angehört haben, die Furcht - oder sie gefühlt haben. Stavros packte sie an beiden Armen und riss sie grob an sich. Er schüttelte sie, während er sie auf die Zehenspitzen zog. »Du wirst sofort damit aufhören, wenn du nicht willst, dass Sid dich betäubt. Ich weiß, was du tust.« Elle. Antworte mir.