Es geschieht nicht alle Tage, dass ein junger Mann, der nur mit Boxershorts mit roten Herzen darauf bekleidet ist, in einem winzigen Zimmer im zweiten Stock einer der letzten noch übrig gebliebenen Pensionen New Yorks das Zeitliche unter einem geöffneten Fallschirm segnet. Noch seltener kommt es allerdings vor, dass die Polizei einen bildenden Künstler und Besitzer eines mit einem üppigen Wanst, einem hellen Köpfchen und einem bewundernswerten Temperament ausgestatteten Labradors an den Tatort ruft, noch bevor der Leichnam erkaltet ist. Doch genau das hat sich unlängst um kurz nach zehn an einem milden Märzabend ereignet.
Ich saß gerade in unserem gemütlichen Apartment an der Upper West Side Manhattans auf meinem Hinterteil, starrte ins Leere und ließ genüsslich eine Riesenportion China-Rippchen sacken. Ein Verdauungsschläfchen drohte mich zu übermannen, und ich hatte nicht vor, mich dagegen zu wehren (in unserer hektischen Welt habe ich oft Mühe, auf meine zwölf Stunden Schlaf pro Tag zu kommen). Harry, Mitte zwanzig und mein Herrchen, sah sich schon seit zwei Stunden eine Dokumentation über das Leben Vincent van Goghs an. Der Sprecher war offenbar Narkoleptiker, denn er hob die Stimme ständig an den falschen Stellen, so als würde man ihn immer wieder anstoßen, damit er in der Aufnahmekabine nicht einschläft.
Dann klingelte das Telefon. Harry war schon mit mir draußen gewesen, damit ich mein abendliches Geschäft verrichten konnte (wodurch er die beiden Monate der turbulenten Wohngemeinschaft van Goghs und Gauguins in Arles verpasst hatte), und höchstens eine Evakuierung Manhattans wegen der drohenden Apokalypse hätte ihn jetzt noch dazu bringen können, sich wieder aus Großvater Oswalds Fernsehsessel zu erheben. Er ließ den Anrufbeantworter anspringen, und Imogens Stimme erfüllte unser Wohnzimmer.
"Hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Piepton", sagte sie, gefolgt von einem verunsicherten Flüstern. "Kommt da überhaupt ein Piepton, Harry?"
Als Nächstes ertönte, ebenso sympathisch wie bestimmt, die Stimme des Anrufers.
"Harry, hier ist Detective Davis. Wenn Sie zu Hause sind, gehen Sie bitte ran. Es ist wichtig. Es geht um. sie."
Harry sprang aus seinem Sessel auf und griff nach dem Hörer. Deutlich nahm ich den intensiven Duft von Hoffnung und freudiger Erregung wahr, den mein Herrchen plötzlich verströmte. Ich fragte mich, ob Detective Peter Davis, der Chefermittler im Fall Imogen, wohl einen Erfolg zu vermelden hatte. Unsere wunderbare Imogen, die mich einst vor den herzlosen Trotteln im Zoogeschäft gerettet und dann Harry in unsere kleine Familie aufgenommen hatte, war vor über einem Jahr ohne ein Wort spurlos verschwunden - mein Herrchen befürchtete inzwischen, dass sie Opfer eines Verbrechens geworden war. Allerdings hatte ich Harry eins bislang noch nicht mitteilen können: Nach der erfolgreichen - wenn auch recht unschönen - Aufklärung unseres letzten Kriminalfalls hatte ich sie eines Tages in einer U-Bahn-Station verschwinden sehen. Besagter Fall hatte sowohl Harry als auch mir eine Menge Ausdauer und Einfallsreichtum abverlangt, und am Ende standen wir vor einem noch größeren Rätsel, dessen Netz aus Verschwörungen und Intrigen um den ganzen Erdball reichen sollte, ohne dass es uns gelungen wäre, das Geheimnis um Imogens Verschwinden auch nur ein Stück weit zu lüften. Wie sich bald herausstellen sollte, läutete Detective Davis' Anruf nun den zweiten Akt ein.
"Hier bin ich", rief Harry in den Hörer und hörte seinem Gesprächspartner dann ohne ein weiteres Wort zu. Zwischen den Pinseln auf dem Beistelltisch fand er einen Stift und notierte eine Straße und eine Hausnummer.
"Okay, Peter. Ich bin in zwanzig Minuten da."
Mein Herrchen legte auf, schnappte sich seine leichte Jacke und hastete, ohne auch nur ein Wort an die Adresse seines Hundes zu verlieren, zur Tür hinaus und die Treppe hinunter. Vorbei mit dem Frieden - aber was taugt ein Frieden denn schon, wenn er so leicht zu zerstören ist? -, und die Aussicht auf ein Verdauungsschläfchen drohte sich angesichts dieses Vorfalls in Luft aufzulösen. Glücklicherweise verfüge ich jedoch über ein sprichwörtlich dickes Fell, und wenig später tat der Einschlafzauber der China-Rippchen seine Wirkung und ich schloss die Augen zu einem traumlosen Nickerchen.
Aber lassen Sie mich erst einmal erklären, wer und was ich eigentlich bin. Ich bin ein Labrador und ich lebe in Manhattan, dem Eiland, auf dem ich auch zur Welt gekommen bin und wo ich mich zu Hause fühle. Außerdem habe ich eine Seele und einen Verstand. Das mag vielleicht - mehr oder weniger - auch auf andere Hunde zutreffen, aber nur wenige andere Hunde finden Gefallen daran, die bedeutenden literarischen Werke der Menschen zu lesen oder sich immer wieder so weitreichenden Gedankenspielen hinzugeben wie ich. Das Lesen habe ich mir selbst beigebracht, und zwar mithilfe der führenden Klatschblätter New Yorks, die in meinen frühen Jahren für mich auf dem Fußboden ausgelegt wurden, um mich zur Stubenreinheit zu erziehen. Die Autoren dieser Zeitungen, besonders die, die für die Schlagzeilen zuständig sind, sind die wahren Dichter unserer Zeit (nehmen Sie etwa die geniale Headline der Post: NEUER LEICHENFUND: KOPFLOS IN DER OBEN-OHNE-BAR). Doch will ich hier kein Loblied auf die Blutrünstigkeit der Boulevardpresse singen. Das Hauptproblem meines Daseins ist nämlich das, dass mein brillantes Gehirn - ein Kilo reibungslos funktionierender, gallertartiger grauer Masse - in einem Körper steckt, der so wenig auf die Vibrationen des Denkens reagiert wie ein Stück Schokolade (eine Delikatesse übrigens, die ich mir leider verkneifen muss, da meine Leber nicht mitspielt). Aufgrund dieser körperlichen Einschränkung bleibt mir jede Mimik versagt, mit der ich meinen Gedanken Ausdruck verleihen könnte. Mimische Ausdruckslosigkeit ist also sozusagen mein Markenzeichen, auch wenn viele Menschen meine Augen immer wieder als "melancholisch" bezeichnen. Mein Schwanz hingegen führt ein Eigenleben und wedelt allerdings blödsinnigerweise auch dann, wenn ich deprimiert bin; und dann wäre da noch dieses unwillkürliche Zittern, das mein Herrchen häufig als Harndrang missdeutet, weil es die Marken an meinem Halsband klimpern lässt (wobei ich für regelmäßiges Gassigehen und Ausflüge zu den Hundespielplätzen und in die Parks von New York durchaus höchst dankbar bin). Liebe Hundebesitzer, bitte unterschätzen Sie nie, wie wichtig es für einen Hund ist, rechtzeitig sein großes oder kleines Geschäft verrichten zu können - Sie müssen unsere Stubenreinheit wirklich nicht ohne Not auf die Probe stellen!