Textprobe:
Kapitel 3, Individuell-sozialisatorische Rahmenbedingungen der pflegerisch-ärztlichen Zusammenarbeit im Krankenhaus:
Das aktuelle Berufsgeschehen wird neben den strukturell-rechtlichen Bedingungen zum großen Teil auch von individuell-sozialisatorischen Rahmenbedingungen geprägt. Diese sollen in den nächsten Abschnitten aus der jeweiligen Sicht der Berufsangehörigen dargestellt werden. Dabei ist die Sozialisation in der Ausbildung, die berufsimmanenten Leitbilder sowie der berufstypische Gebrauch der Sprache als Interaktionsmedium von Interesse.
3.1, Berufliche Sozialisation in der Ausbildung:
Der Begriff der "Sozialisation" wird heute allgemein als der "Prozess der Entstehung und Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit in Abhängigkeit von und in Auseinandersetzung mit den sozialen und den dinglich-materiellen Lebensbedingungen verstanden, die zu einem bestimmten Zeitpunkt der historischen Entwicklung einer Gesellschaft existieren" (Hurrelmann 1990:S.14). Die berufliche Sozialisation lässt sich diesem zuordnen und zielt in erster Linie auf die Einführung in Berufspositionen ab bzw. vermittelt den berufstypischen Habitus (vgl. Singel 1994:S.79). Dies betrifft nicht nur berufsbezogene Orientierungen, fachliches Wissen und Können, sondern ebenso Verhaltens- und Handlungsweisen (vgl. Bammé et al. 1983:S.9/17f). Die berufliche Sozialisation lässt sich weiterhin in die Zeit der "Sozialisation in den Beruf" (Ausbildungszeit) und der "Sozialisation im Beruf" unterscheiden (vgl. a.a.O.:S.61ff; Hervorh. i. Orig.). In den folgenden Kapiteln werden die berufsbedingten Auswirkungen auf die Entwicklung der Persönlichkeit betrachtet. Dies geschieht im Hinblick auf die jeweils spezifische Ausbildung, der beruflichen Leitbilder und der Sprache.
Als klassische Formen der Ausbildung lassen sich die Lehre (Einführung in den Beruf vorwiegend durch realistisches Vorleben im praktischen Umfeld) und die schulische Ausbildung (Einführung vorwiegend durch abstrakt-analytische Darstellungen des Lehrers) nennen. Beide Formen üben Fähigkeiten ein, um den Anforderungen der späteren Arbeitstätigkeit gerecht werden zu können (vgl. Bammé et al. 1983:S.61ff).
Grundsätzlich obliegt die Ausbildung der beiden Berufsgruppen der Zuständigkeit des Bundes (Bundesärzteordnung, Approbationsordnung und Krankenpflegegesetz), die sich in Form der akademischen Medizinerausbildung und der Berufsausbildung der besonderen Art für die Pflegenden niederschlägt.
3.1.1, Ausbildung der Pflegekräfte:
Die 3jährige Krankenpflegeausbildung, bestehend aus "theoretischem und praktischem Unterricht und einer praktischen Ausbildung" (§5 KrPflG 1985, zit. n. Stratmeyer 2002:S.92) ist gesetzlich über das Krankenpflegegesetz geregelt und hat die rechtliche Form eines Berufszulassungsgesetzes. Voraussetzung für die Zulassung zur Ausbildung ist neben dem vollendeten 17. Lebensjahr ein allgemein bildender Schulabschluss (Realschulabschluss). Der Unterricht findet üblicherweise im Klassenverband statt.
1998 existierten 1411 Kranken- und Kinderkrankenpflegeschulen in Deutschland mit insgesamt 89.385 Ausbildungsplätzen (vgl. Statistisches Bundesamt 2000:S.47f). Die Schulen müssen staatlich anerkannt sein, gehören aber dennoch nicht zum öffentlich-rechtlichen Bildungssystem, vielmehr ist ihr organisatorischer Verbund mit den Krankenhäusern gesetzlich vorgeschrieben (vgl. §5 KrPflG 1985, zit. n. Stratmeyer 2002:S.92), was sich auch in der Finanzierung der Schulen durch die Krankenhauspflegesätze niederschlägt (vgl. Bals 1997:S.103). Somit hängt die Zahl der Ausbildungsplätze einer Schule direkt mit der Größe des Krankenhauses (Bettenzahl) zusammen (vgl. Statistisches Bundesamt 2000:S.74f). Trotz Bundeszuständigkeit besteht eine weitere Besonderheit in der ausbildungsbedingten Sonderstellung, da die Pflegeausbildung weder eindeutig dem dualem System noch der monalen Form (sog. Schulberufe) der Berufsausbildung zugerechnet werden kann, die den Regelfall der beruflichen Ausbildung in der BRD bilden. Daraus ergibt sich größtenteils eine ausbildungsrelevante Zuständigkeit der Gesundheits- oder Sozialministerien anstatt der Kultusministerien der Länder (Robert Bosch Stiftung 2000:S.14), was sich u.a. darin äußert, dass für die Aufsicht über die pflegerische Ausbildung in erster Linie leitende Medizinalbeamte ohne pflegerische und pädagogische Vorbildung verantwortlich sind (vgl. Stratmeyer 2002:S.93).
Die Ebene der praktischen und theoretischen Ausbildungsinhalte wird in der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung gestaltet. Stratmeyer (2002:S.93ff) stellt hierzu fest, dass es diesbezüglich immense Regelungsdefizite gibt. Die Grobbestimmung der Ausbildungsinhalte sind zu allgemein gehalten (vgl. auch Singel 1994:S.83), existierende Lehrpläne und Curricula weisen zudem eine heterogene Vielfalt auf. Die hauptamtlich Lehrenden der Kranken- und Kinderkrankenpflegeschulen in den alten Bundesländern sind in der Regel ausgebildete Pflegepersonen mit einer Weiterbildung, die von Schwesternschaften, Berufsverbänden und Gewerkschaften durchgeführt wird. Dauer, Inhalt und Prüfungsanforderungen sind somit nicht verbindlich festgelegt und ist mit der Qualifikation, Status und Rolle von Gewerbelehren nicht gleichzusetzen. (vgl. Robert Bosch Stiftung 2000:S.15).
Inhaltlich ist weiterhin eine Dominanz der Vermittlung der allgemeinen und speziellen Krankheitslehre einschließlich medizinischer Diagnostik zu verzeichnen, die neben den Grundlagenfächern (Biologie, Anatomie, Physiologie) in der Regel von Ärzten unterrichtet werden (vgl. Bals 1997:S.102; Gaus/Huber/Stöcker 1997:S.83). Diese verfügen weder über eine didaktische Vorbildung noch über genaue Kenntnisse der beruflichen Tätigkeit des Auszubildenden mit entsprechenden Auswirkungen auf Inhalt und Gestaltung des Unterrichtes (Frontalunterricht ohne Diskussion, Informationshäufung ohne Erklärung, Theorie ohne konkrete Beispiele, allgemein schlechte Vorbereitung). Des Weiteren schätzen viele Ärzte die Bedeutung der Krankenpflegeausbildung für ihre Arbeit eher peripher ein (vgl. Robert Bosch Stiftung 2000a:S.59; Bischoff 1994:S.250; Kühn 1982, zit. n. Singel 1994:S.90). Fächer, die nicht dem medizinischen Defizitmodell folgen, nehmen nur etwa 22% der Lerninhalte ein (vgl. Wanner 1993:S. 206). Sozialwissenschaftliche Fächer, die beispielsweise "kommunikative Kompetenzen als berufliches Element" (Steppe 1994, zit. n. Höhmann 1998:S.53) vermitteln sogar nur ca. 6.3% (vgl. a.a.O.:S.52) bzw. 5% (vgl. Sciborski 2001:S.239). Darin spiegeln sich abermals die Anbindung der Schulen an die Akutkliniken und deren akutmedizinischen Orientierung wieder.
Niedrigere Qualifikation und geringerer Status der ausbildenden PflegelehrerInnen (im Vergleich zu anderen Gewerbelehrern) muss für KrankenpflegeschülerInnen folglich den "Wert" ihrer genuin pflegerischen Ausbildung schmälern und sich im beruflichen Selbstverständnis und -bewusstsein niederschlagen. Demgegenüber steht die akademische Dominanz ärztlichen Unterrichts und dessen Inhalte, die somit "wertvoller" und "professioneller" erscheinen müssen. Dieser Umstand fördert die Ausrichtung der angehenden Pflegekräfte an die medizinischen Denk- und Handlungslogiken und somit deren Fremdbestimmung. Weiterhin werden unterrichtende Ärzte aufgrund der mangelnden pädagogischen Qualifikationen und ihrer eigenen berufsausbildungsbedingten Sozialisation die Auszubildenden kaum zu Reflexion und autoprofessionellem Verhalten animieren (vgl. Böhme 1990a, zit. n. Singel 1994:S.85), was den genannten Punkt der Fremdbestimmung zusätzlich unterstützt.