Schkeuditz
Der Ort mit dem seltsamen Namen "Schkeuditz" liegt nordwestlich von Leipzig. Damals wusste ich nicht, ob es sich um einen Vorort von Leipzig handelte oder um ein selbstständiges Gemeinwesen. Es war mir auch nicht wichtig das herausfinden, denn das spielte in dem für mich relevanten Zusammenhang auch gar keine Rolle. Wichtig bleibt nur festzuhalten, dass ich damals wusste, dass Schkeuditz direkt neben dem Flughafen Halle-Leipzig (oder Leipzig-Halle) liegt und dass sich dieses Wissen als völlig nutzloses - um nicht zu sagen hinderliches - Wissen herausstellte. Ja, es wäre mir sogar beinahe zum Verhängnis geworden.
Wenn mein Mann und ich eine Flugreise machen wollten, so kam am ehesten der Flughafen Dresden oder der Flughafen Leipzig-Halle infrage, denn unser Wohnsitz lag etwa gleich weit von diesen beiden "Sprungbrettern in die weite Welt" entfernt. Da wir sowieso öfter in Dresden waren, um die Verwandtschaft meines Mannes zu besuchen, schlug ich vor, diesmal doch lieber von Leipzig aus zu starten. So könnten wir eventuell vorher noch einen Stadtbummel machen, vielleicht auch Martina und Hans-Peter kurz besuchen oder uns mit ihnen in der Stadt treffen. Danach würden wir entspannt mit dem Zug zum Flughafen fahren. So oder so ähnlich hatte ich mir das vorgestellt.
Es kam aber dann doch so, wie es meistens kam, wenn wir zu einer Reise aufbrachen: wir gerieten in Zeitnot. Wir starteten schließlich so, dass wir den für unser Vorhaben wirklich letzten Zug nach Leipzig gerade noch rechtzeitig bekamen. Dort hatten wir eine halbe Stunde fürs Umsteigen in den Zug zum Flughafen. Da der Hauptbahnhof Leipzig einiges zu bieten hat, wäre die Überbrückung einer halben Stunde an und für sich überhaupt kein Problem gewesen.
Leider gehöre ich jedoch zu den Menschen, die es hassen, auf den letzten Drücker irgendwo hinzugehen, und ich bin - je älter ich werde - insbesondere bei allem, was mit Reisen zu tun hat, immer lieber eine Viertelstunde vor der Zeit an Ort und Stelle. Außerdem bin ich immer bemüht, noch mögliche Abkürzungen zu entdecken oder im letzten Moment noch Alternativen zu den gegebenen und ausgedruckten Verbindungen zu finden. Ich bin also in solchen Situationen eher innerlich angespannt und äußerst unruhig. Kaum vorstellbar, dass ich - einige Jahrzehnte früher - jahrelang ganz spontan und gänzlich unbefangen per Anhalter unterwegs war.
Mein Mann hingegen war - wie meistens - die Ruhe selbst. Er sah es in aller Regel noch als rechtzeitig und vollkommen zufriedenstellend an, wenn man den Zug erst kurz vor dem definitiven Schließen der Türen betrat. Er gab aber - als bester und geduldigster Ehemann der westlichen Hemisphäre - ganz selbstverständlich meinem Drängen nach, schon vorzeitig zu den Gleisen zu gehen.
Unsere Flugreise sollte nach Gran Canaria gehen, ich hatte dort auch dienstlich bei einer unserer Partnerunis zu tun und anschließend wollten wir noch ein paar Tage Urlaub "dranhängen". Auf der Rückreise hatte ich noch einen Stopp in Spanien geplant. Denn auch dort, in Sevilla, wollte ich unsere Partneruni und einige Studierende, die sich im Auslandssemester befanden, besuchen.
Flugreisen flößten mir schon immer besonderen Respekt ein. Mit steigendem Alter werden sie mir immer unangenehmer und wenn möglich, vermeide ich sie gerne. Aber in diesem Falle war es wohl unausweichlich in einen Flieger zu steigen. Dies verstärkte meine allgemeine Nervosität, die mich mittlerweile manchmal schon bei Bahnreisen plagt. Außerdem hatte ich alles organisiert und fühlte mich für den reibungslosen Verlauf der Reise verantwortlich.
Als wir nun zu den Gleisen kamen, studierte ich die Übersichtstafel über die zu erwartenden Abfahrten und suchte den Zug zum Flughafen, den ich auch schnell ausmachen konnte. Da wir ja noch Zeit hatten, studierte ich auch die anderen Züge und mein Auge fiel auf den Zug nach Schkeuditz, der sage und schreibe 15 Minuten früher startete als derjenige, den ich mir vorgenommen hatte. Ich erklärte meinem Mann - stolz auf dieses Zusatzwissen über die lokalen Gegebenheiten -, dass Schkeuditz direkt neben dem Flughafen liege und schlug ihm vor, diesen Zug zu nehmen.
Mein Mann lächelte und sagte, dass wir doch gut in der Zeit lägen und ruhig auf den Flughafenzug warten könnten. Er spürte aber wohl meine Nervosität und meinte, wenn mir so viel daran liege, könnten wir auch in den früheren Zug einsteigen. Er folge mir in jedem Falle, wohin es auch sei, meinte er schmunzelnd. Gesagt, getan!
Der allerbeste Ehemann folgte mir in den Zug nach Schkeuditz und dieser setzte sich unverzüglich in Bewegung. Ich war sehr stolz auf meine Findigkeit, meine lokale Ortskenntnis und auf die Flexibilität des allerliebsten Gemahls. Der Zug hielt an jeder Ecke. Das kam mir komisch vor und ich wurde allmählich unruhig. Ich war schon einmal mit der Flughafenbahn gefahren und in meiner Erinnerung hatte der Zug unterwegs so gut wie gar nicht gehalten. Das war doch merkwürdig. Ich äußerte mein Befremden, aber mein Mann lächelte nur und meinte, dass ich mich nicht unnötig aufregen solle, es werde alles gut. Dieser Kommentar war nicht dazu geeignet mich zu beruhigen, ganz im Gegenteil.
Meine Unruhe wurde immer stärker und ich begann, mich bei den Mitreisenden zu erkundigen, ob dieser Zug tatsächlich zum Flughafen führe. Nein, war die Antwort. Schkeuditz liege zwar in unmittelbarer Nähe des Flughafens, aber es gebe da keine direkte Verbindung. Was? Ich konnte es nicht fassen! Ich erkundigte mich, was jetzt zu tun sei, während Peter weiterhin entspannt lächelte. Ein Mitreisender sagte, wir könnten am nächsten Bahnhof aussteigen und dann mit dem nächstmöglichen Zug zurück nach Leipzig fahren. Er hatte sogar die Fahrzeiten im Kopf. Allerdings befürchtete er, dass wir den Flughafenzug dann nicht mehr erreichen würden. Die andere Möglichkeit sei, bis Schkeuditz zu fahren und dann dort zu versuchen ein Taxi zu bekommen. Ich bedankte mich und stellte mir - vollkommen niedergeschlagen - gleich das Schlimmste vor: wir würden den Flieger nicht pünktlich erreichen. Die ganze Reise würde womöglich platzen.oder wir müssten vielleicht für teures Geld neue Flüge kaufen.
Ach du liebe Güte, in welch unmögliche Situation hatte ich uns durch meine blöde Unruhe und Nervosität denn nur gebracht. Diese Abkürzung erwies sich als eine Sackgasse. Ich machte mir Sorgen und Vorwürfe, mein Blutdruck stieg zweifellos an. "Mensch, was sollen wir denn machen? Sag du doch auch mal was zu dieser ganzen Situation!" Mein Mann lächelte, er wiederholte, dass ich mich nicht unnötig aufregen solle, denn ob mit oder ohne Aufregung, das Ergebnis sei das gleiche und wir könnten es ohnehin nicht beeinflussen. Aber ich würde schon sehen, es würde alles gut und wenn nicht, wäre es doch eine tolle Geschichte.
Was??? Ich konnte es nicht fassen. Während ich völlig verzweifelt mit der Lösung unserer misslichen Lage befasst war, stellte er sich jetzt schon vor, wie er seinen Verwandten demnächst diese "tolle" Geschichte würde erzählen können. Er sah keinen Grund sich Sorgen zu machen und lächelte still vor sich hin. Oh nein, das war mir keine Hilfe. Das konnte doch wohl nicht wahr sein: Ich saß wie auf heißen Kohlen und mein lieber Mann fand, dass er gerade eine erzählenswerte Geschichte erlebte.
Schließlich, nach einer gefühlten Unendlichkeit, kamen wir in Schkeuditz an. Genauer gesagt: wir kamen auf einem Bahnsteig an, der irgendwo im Nirgendwo lag. Die Leute verschwanden in einer Unterführung. Ich fragte verschiedene Passanten, ob es hier in der Nähe einen Taxistand gäbe. Nee, wohl eher nicht, aber so genau wusste das niemand. Das war doch hoffentlich nicht wahr! Ich schaute mich hilflos und suchend um, mein lieber Mann trabte entspannt lächelnd hinter mir her. Es ist keineswegs immer schön, sein Leben als Führungskraft zu bestreiten. Er hätte doch auch mal fragen oder irgendetwas unternehmen können, aber er gab sich vertrauensvoll und völlig entspannt in meine Hände. Er ließ mich einfach machen. Mein Puls raste.
Am Ende des Bahnsteigs sah ich plötzlich einen Kleinbus mit der Aufschrift DHL. Ich rannte - so schnell mir das mit meinem Rucksack möglich war - zu diesem Wagen hin und steuerte direkt auf die Fahrertür zu und klopfte ans Fenster. Der junge Fahrer ließ das Fenster herunter und ich sprudelte förmlich über, überschüttete ihn mit unserem Missgeschick. Ja, sagte er, dass komme leider häufiger vor, dass hier Leute strandeten, die zum Flughafen wollten. Von einem Taxistand wisse er auch nichts. Er transportiere nur die Mitarbeiter von DHL, aber wenn noch 2 Plätze frei blieben, dann nähme er uns mit. Wir müssten unser Gepäck aber auf den Schoß nehmen, dafür habe er keinen Platz mehr frei.
Das wäre ja die geringste Übung, versicherte ich ihm, denn unser Gepäck war auf allen unseren gemeinsamen Flugreisen sehr überschaubar. Es war quasi mein Hobby immer auf Minimalgepäck zu achten, am liebsten reiste ich nur mit Handgepäck. Ich wäre wahrscheinlich auch einverstanden gewesen im Kofferraum Platz zu nehmen oder auf dem Dach. Ich war einfach fix und fertig. Noch einige Minuten musste ich zittern, dann blieben tatsächlich genau 2 Plätze frei und wir durften einsteigen. Ich hätte den Fahrer, alle Mitfahrer und die ganze Welt umarmen können. Dies war unsere Chance doch noch rechtzeitig zum Flughafen zu kommen! Mein Herz klopfte wie wahnsinnig.
Wir fuhren zunächst zum DHL-HUB, wo alle anderen Leute ausstiegen. Dann brachte uns der junge Mann zum Abflug an den Flughafen. Er stieg sogar noch kurz aus und begleitete uns in das Gebäude und zeigte mir, wohin wir nun gehen müssten. Ich griff in mein Portemonnaie und drückte ihm ein paar Scheine in die Hand, die mir gerade entgegen kamen, bedankte mich überschwänglich und dann hasteten wir dem Abflug entgegen.
Dann noch der Sicherheitscheck und das Einchecken, endlich! Wir hatten es tatsächlich geschafft, ich konnte mein Glück nicht fassen. Schließlich saßen wir in einer dieser Flughafenkneipen, tranken noch einen Kaffee (Peter vielleicht ein Bier) und aßen noch ein Sandwich bevor unser Flug dann aufgerufen wurde. Ich war immer noch total kribbelig, nervös und irgendwie erschöpft, von dem soeben überstandenen Abenteuer. Mehrfach hatte ich mir vorgestellt, dass wir den Flug verpassen, einen neuen buchen oder die ganze Reise abblasen müssten. Ich war total platt und wünschte mir von meinem lieben, völlig entspannten Gemahl mehr Empathie für meine geschundene Seele.
Mein Mann war eigentlich eine richtige "Plaudertasche", er konnte abendfüllend Leute mit seinen Geschichten unterhalten, aber in diesem Moment genoss er einfach still sein Bier. "Mensch Peter, jetzt sag doch mal was." Er lächelte und sprach: "Siehst du, es ist doch alles gut gegangen. Du musst dich nicht immer so unnötig aufregen mein Schatz!"
Unnötig??? Gnade!!!
Ich glaube, dass ich dann im Flieger sofort eingeschlafen bin. Da hatte selbst die Flugangst keine Chance mehr, sich zu entfalten.
Übrigens: nach diesem abenteuerlichen Start verlief der Urlaub - samt der darin enthaltenen Dienstreiseanteile - völlig problemlos und ausgesprochen erfolgreich.
Ach ja, zum Schluss noch etwas unnützes Wissen: Die "Große Kreisstadt Schkeuditz" hat annähernd 20.000 Einwohner und der Name klingt so ungewöhnlich und für manche Ohren etwas gewöhnungsbedürftig, weil er einen slawischen Ursprung hat.