Im Falle bekannt werdender Tierschutzmissstände in Tierhaltungen werfen sich Fragen über die Kenntnisse und Verantwortlichkeiten der örtlich zuständigen amtlichen TÄ sowie der jeweiligen praktizierenden TÄ auf, die sowohl fachlich als auch praktisch einen besseren Einblick in Tierhaltungen haben als die Allgemeinheit.
Die nationale Tierschutzgesetzgebung wurde durch die Staatszieleinführung Tierschutz im Juli 2002 gestärkt. Obwohl der Verfassungsanspruch des Tierschutzes ein Unterlaufen tierschutzrechtlicher Vorgaben verbietet (Schröter, 2010, S. 141), wird von Vollzugsdefiziten im Bereich der Judikative (Benner, 2022, S. 197; Bülte, 2019a, Rn. 19; Bülte & Dihlmann, 2022, S. 28 Rn. 14; Felde, 2019a, S. 43, S. 103, S. 121 m. w. N., S. 237, S. 391; Hahn & Hoven, 2022, S. 198-199) und Exekutive (Brandhuber, 1988, S. 1952; Bülte & Dihlmann, 2022, S. 27-28 Rn. 13; Kemper, 2007, S. 790 m. w. N; Kloepfer, 2020, Rn. 144-146; Leondarakis & Kohlstedt, 2011, S. 74; Sambraus, 2003, VI; Thilo, 2020, S. 234-235, 292-293) gesprochen.
In der Literatur werden die rechtlichen Grundbedingungen der aktuellen Tierschutzgesetzgebung insbesondere vor dem Staatszielcharakter immer wieder angezweifelt (Benner, 2022; Felde, 2019a, z.?B. S. 195-196, 197; Heesen, 2023; Maisack, 2013, S. 131; Schürmeier, 2020, S. 29-32). Der BbT beanstandet Rechtsunsicherheit beim Vollzug tierschutzrechtlicher Bestimmungen (Vogel, 2018; Vogel, 2019). Die Tierärzteschaft sieht im Zusammenhang mit dem Abbau eines möglichen Vollzugsdefizits der Exekutive die Notwendigkeit der Verbesserung der Vollziehbarkeit der Normen (Anhörung zur Änderung des Strafgesetzbuchs und des Tierschutzgesetzes, 2021, S. 788).
Bislang fehlten aktuelle wissenschaftliche Daten, mithilfe derer sich die Wahrnehmung der Exekutive hinsichtlich der Eignung tierschutzrechtlicher Normen für den amtstierärztlichen Tierschutzvollzug in Bezug auf die Haltung von Haustieren in Zahlen abbilden lässt.
Mit dieser Arbeit sollen Daten zu den in Kreisen der Amtstierärzteschaft zu vernehmenden Äußerungen bezüglich der Herausforderungen des amtstierärztlichen Tierschutzvollzugs generiert und Möglichkeiten, Probleme und Lösungsansätze bei der Durchsetzung tierschutzrechtlicher Bestimmungen in Bezug auf die Haltung von Haustieren untersucht werden. Dafür wird erstens die Frage nach der Eignung der nationalen Tierschutzgesetzgebung für den amtstierärztlichen Tierschutzvollzug in Bezug auf die Haltung von Haustieren aus Sicht der Exekutive gestellt. Zweitens soll beantwortet werden, ob in einer gesteigerten Zusammenarbeit zwischen praktizierenden TÄ und amtlichen TÄ Potenzial für einen effektiveren Tierschutzvollzug liegt.
Die Ergebnisse der Untersuchung bilden die Kritik der amtlichen TÄ über Rechtsunsicherheit beim Vollzug der deutschen Tierschutzgesetzgebung in Zahlen ab. In der Gesamtbetrachtung der Ergebnisse kann durch diese Arbeit gezeigt werden, dass die akademisch beschriebene Chance offener Normen in der Praxis des amtstierärztlichen Tierschutzvollzugs überwiegend nicht ausgeschöpft, sondern von der Mehrheit der amtlichen TÄ sogar als nachteilig empfunden wird. Mit den aus dieser Studie gewonnenen Erkenntnissen können die theoretischen Chancen offener Normen nicht länger als Argument gegen den Erlass untergesetzlicher Mindestanforderungen hervorgebracht werden. Gesetzgeber und Verordnungsgeber sind aufgefordert, den unteren VBs gangbare Werkzeuge für einen erfolgreichen amtstierärztlichen Tierschutzvollzug an die Hand zu geben.
Wesentliche Möglichkeiten für einen effektiveren amtstierärztlichen Tierschutzvollzug sind bereits im TierSchG vorhanden: Aus den Ergebnissen der Umfrage lässt sich die Forderung an den Verordnungsgeber ableiten, die Ermächtigungsgrundlage des § 2a TierSchG zu nutzen und konkretisierende Rechtsverordnungen für die Haltung weiterer Tierarten zu erlassen. Weil Mindestanforderungen, die der Konkretisierung von § 2 TierSchG dienen, keinesfalls unterschritten werden dürfen und tierartspezifisch für jedes Individuum gelten sollten, muss die Einschränkung des Anwendungsbereichs der TierSchNutztV überdacht werden. Bestehende Vorschriften müssen aktualisiert und an wissenschaftliche Erkenntnisse angepasst werden. Dies betrifft in besonderem Maße die AVV TierSchG, aber auch konkretisierende Bestimmungen außerhalb der Normenhierarchie, wo eine Aktualisierung gleichzeitig eine Vereinheitlichung derzeit divergierender Empfehlungen bewirken und zu (Rechts-)Sicherheit bei amtlichen TÄ und Tierhaltenden führen würde.
Die Untersuchung zeigt, dass praktizierende TÄ regelmäßig Kenntnis von tierschutzwidrigen Tierhaltungen bekommen. Diese führt jedoch nicht nur in den Fällen, in denen die Aufklärung der Tierhaltenden als erste Maßnahme verhältnismäßiger erscheint, nicht konsequent zur Meldung bei der Vollzugsbehörde. Die Minderheit aller befragten praktizierenden TÄ fühlt sich sicher im Umgang mit der tierärztlichen Schweigepflicht. Diese ist jedoch kein relevanter Grund für die Befragten sich gegen eine Meldung bei der unteren VB zu entscheiden. Die Hauptsorge praktizierender TÄ bezüglich der Anzeige eines tierschutzrelevanten Sachverhalts ist der Verlust der Einflussnahme auf betroffene Patienten als Folge der Anzeige. Zweifel von praktizierenden TÄ an der Wirksamkeit einer Meldung könnten durch die von ihnen gewünschte Rückmeldung der unteren VB über den gemeldeten Sachverhalt abgebaut werden.
Hierfür scheint ein interdisziplinärer Informationsfluss zu der tierärztlichen Schweigepflicht sowie Auskunftsrechten und -pflichten der Vollzugsbehörde hilfreich. Eine niederschwellige Darstellung dieser Informationen sollte aus der Profession der Rechtswissenschaften heraus erarbeitet und verbreitet werden. Praktizierende TÄ sehen sich vornehmlich als aufklärerische Instanz und beschreiben fehlende Sachkunde als Hauptursache für in Tierarztpraxen auffallende Tierschutzverstöße. Letzteres stärkt die bestehende Forderung nach der Einführung eines verpflichtenden Sachkundenachweises für Tierhaltende (Wöhr et al., 2022, S. 47), in dem von der Mehrheit der amtlichen TÄ auch Verbesserungspotenzial für den Tierschutzvollzug gesehen wird.
Die Selbstwahrnehmung praktizierender TÄ als Aufklärende sollte Anlass zu einer Erweiterung des Adressatenkreises der aufklärerischen Arbeit geben und der Tierärzteschaft zu einer lauteren Stimme in gesellschaftlichen und politischen Debatten um Tierschutz verhelfen (vgl. Sundrum, 2022, S. 1).
Betreffend der Forschungsfragen kann anhand der Ergebnisse dieser Untersuchung ausgesagt werden, dass die nationale Tierschutzgesetzgebung für die Arbeit im amtstierärztlichen Tierschutzvollzug nicht geeignet ist, den Tierschutz in Bezug auf die Haltung von Haustieren sicherzustellen. Nach Einschätzung der Exekutive bedarf es für eine Verbesserung Konkretisierungen des § 2 TierSchG in Form gesetzlicher Mindestanforderungen. In einer gesteigerten Zusammenarbeit zwischen praktizierenden TÄ und amtlichen TÄ liegt ein eingeschränktes Potenzial für einen effektiveren Tierschutzvollzug.