Kapitel 1
Die Kutsche polterte über die unebenen Straßen und Mattie wartete nur darauf, dass ein Rad brechen würde, weil der Kutscher die Pferde trotz der vom Regen der letzten Tage aufgeweichten Erde antrieb, als ginge es darum, ein Wett-rennen zu gewinnen.
Eine kleine Hand schob sich unter ihre, auf ihrem Rock ruhende, behandschuhte Hand und verschränkte die Finger mit ihren.
Mattie löste ihren Blick von der mit grauen Wolken verhangenen Landschaft, die an ihnen vorbeiflog, und zwang sich ein flüchtiges Lächeln auf die Lippen, als sie sich an ihre kleine Schwester wandte. Violet sah blass aus, blasser als sonst. Ihre helle Haut ein starker Kontrast zu ihren roten Haaren und den Sommersprossen auf ihrer Nase. Nur ihre Wangen waren gerötet und ihre Augen glänzten fiebrig. Sie war tapfer gewesen, den ganzen Tag über, und hatte sich bemüht, nicht zu weinen, während sie in der Kutsche saßen.
»Wird sie uns wohl mögen? Was meinst du, Mattie?«
Sie.
Lady Eliza Sudgrove.
Ihre Tante mütterlicherseits. Mattie wusste keine Antwort auf die Frage ihrer Schwester. Lady Sudgrove hatte die beiden Mädchen das letzte Mal gesehen, als Violet gerade geboren worden war. Das war nun zehn Jahre her. Mattie selbst war erst sechs gewesen und konnte sich kaum an die Tante erinnern. Streng war sie gewesen und ganz in Schwarz gekleidet, obwohl es keinen Trauerfall gegeben hatte, daran erinnerte sie sich noch.
»Natürlich wird sie euch mögen. Ihr seid die Töchter ihrer jüngeren Schwester, wie könnte sie euch nicht mögen?« Mrs Hanson, ihre Nachbarin aus London, die sich bereiterklärt hatte, die Mädchen nach Dartmoor zu ihrer Tante zu begleiten, um sicherzugehen, dass den beiden jungen Damen unterwegs nichts geschah, tätschelte aufmunternd Violets Knie und lächelte beiden Schwestern zu. Mattie erwiderte das Lächeln der alten Frau dankbar. Natürlich erhielt sie eine Entschädigung dafür, dass sie diese Reise auf sich nahm, doch Mrs Hanson war eine gute Frau und ihrer Mutter stets eine treue Freundin gewesen. Mattie würde sie vermissen, wenn sie in Fynan Hall, dem Familiensitz ihrer Mutter, angekommen waren.
Fynan Hall.
Sie kannte das Anwesen nur aus den wenigen Erzählungen ihrer Mutter. Der verstorbene Lord Sudgrove, Matties Groß-vater, war mit der Wahl eines Ehemannes seiner jüngsten Tochter nicht einverstanden gewesen und hatte daraus nie einen Hehl gemacht. Sophie Cadderly, geborene Sudgrove, Gattin von Ernest Cadderly, war vom Tag ihrer Eheschließung an auf Fynan Hall nicht länger willkommen. Genauso wenig, wie der Rest ihrer Familie. So hatte es ihr Vater bestimmt und so führte seine älteste Tochter, als seine Erbin, es fort.
Erst jetzt, nach dem Tod ihrer geliebten Eltern, sollten Mattie und Violet in das Haus ihrer Ahnen kommen, um bei ihrer Tante zu leben.
Mattie wusste, dass es falsch war, im Angesicht des Verlusts, den sie vor zwei Monaten erlitten hatten, irgendetwas anderes als Dankbarkeit für ihre Tante zu empfinden, die sie bei sich aufnahm und sie nicht trennte, indem sie Violet in ein Waisenhaus und Mattie zum Arbeiten schickte.
Und dennoch, sie konnte das flaue Gefühl in ihrem Magen nicht gänzlich unterdrücken. Ihre Mutter hatte ihr nie viel über ihre ältere Schwester erzählt. Und Mattie hatte sie nicht mit Fragen über ihre Familie quälen wollen. Die feinen Gesichtszüge ihrer Mutter waren beim Gedanken an ihre Familie stets von einer gewissen Traurigkeit geprägt gewesen. Mattie teilte zwar Mrs Hansons Überzeugung nicht, doch sie wollte Violets Ängste nicht weiter schüren. Sollte sich das Verhalten von Lady Sudgrove in den vergangenen zehn Jahren nicht geändert haben, so würden sie sich damit in den kommenden Jahren genug beschäftigen können. Nun jedoch kam es darauf an, Violet zu beruhigen und bei ihrer Ankunft auf Fynan Hall einen guten Eindruck zu machen. Noch drei Stunden hatte der Kutscher bei ihrer letzten Rast gesagt. Eine Stunde was seither bereits vergangen.
Violets Hand schloss sich fester um Matties. Ihre Schwester erwiderte den Druck und lächelte noch einmal aufmunternd, während sie ihren Blick aus dem Fenster lenkte.
»Es ist hier ganz anders als in London, nicht wahr?«, fragte Mattie Violet in einem Versuch, ihre kleine Schwester abzulenken. Violet beugte sich über sie, um ebenfalls aus dem Fenster der Kutsche sehen zu können. Grün. Soweit sie blicken konnten, Wiesen, Felder und Wälder.
»Der gleiche graue Himmel«, entschied Violet und kräuselte ihre Nase, dass es so aussah, als würden die Sommersprossen darauf tanzen. »Aber das Wasser sieht sauberer aus, als die Themse.«
Mrs Hanson schnaubte. »Das ist schwerlich ein Kunststück.« Sie hatten in London nicht in der Nähe des Flusses gelebt und Mattie war sehr froh über diesen Umstand gewesen. Besonders in den kommenden Sommermonaten würde der Fluss wieder entsetzlich stinken und jeden in seiner Nähe in den Wahnsinn treiben. Trotzdem hätte Mattie den Sommer lieber in der Stadt verbracht, wenn es bedeuten würde, dass ihre Eltern noch am Leben wären. Sie unterdrückte ein Seufzen und lehnte sich zurück.
Sie musste stark sein für Violet und durfte sich ihren trüben Gedanken nicht hingeben.
***
»Byhollow. Wir sind da.« Mrs Hanson warf einen Blick aus dem Fenster der Kutsche, als das Gefährt auf dem Dorfplatz anhielt. Sie stieg mit den Mädchen aus, blieb jedoch stehen, als eine in Schwarz gekleidete Dame auf sie zutrat.
»Ihr müsst Matilda und Violet sein.«
Violet zuckte bei der kühlen Stimme ihrer Tante zusammen und Mattie drückte ihre Hand, die sie noch immer hielt, fester. Lady Eliza Sudgrove hatte nichts von der Strenge verloren, an die sich Mattie erinnerte. Noch immer war sie völlig in Schwarz gekleidet. Mattie hätte gern geglaubt, dass dies ein Zeichen der Anteilnahme am Tod ihrer jüngeren Schwester war, doch sie war sich sicher, dass Tante Eliza gar keine farbigen Kleider besaß.
Als sie die Mädchen aus ernsten, blauen Augen musterte, fuhr sich Mattie mit der freien Hand über ihr Trauerkleid, auch wenn sie wusste, dass sie wenig tun konnte, um ihm die lange Reise aus London nicht ansehen zu lassen.
»Ja, Tante Eliza«, antwortete sie schließlich und machte einen Knicks. Violet starrte ihre Tante mit offenem Mund an und erst, als Mattie ihre Hand erneut drückte, konnte sie sich aus ihrer Erstarrung lösen und dem Beispiel ihrer Schwester folgen.
Eliza kniff die Lippen zusammen, als ihr Blick über ihre Nichten glitt, und Mattie fragte sich, womit sie bereits jetzt das Missfallen ihrer Tante erregt hatten.
»Wir sollten uns beeilen, nach Fynan Hall zu kommen. Ihr solltet euch vor dem Abendessen noch frisch machen. Ihr habt es dringend nötig.« Sie seufzte und schüttelte den Kopf. »Nun, gegen diese unvorteilhafte Haarfarbe kann man wohl leider nichts tun, aber man kann sie wenigstens bändigen.«
»In London sind rote Haare gerade sehr gefragt!«, verteidigte Violet sie beide und hob stolz das Kinn. Eliza sah die Zehnjährige missbilligend an. »Und wenn es die Eisenbahn hier schon gäbe, wäre auch die Fahrt hierher angenehmer gewesen.«
Elizas Blick wanderte von Violet zu Mattie und wieder zurück, ehe sie sich umdrehte und auf die Kutsche der Sudgroves zuging, die am Rande des Dorfplatzes auf sie wartete.
»Du bist für deine jüngere Schwester verantwortlich, Matilda. Du bist ebenfalls für ihr Verhalten verantwortlich. Das ist das Los einer älteren Schwester. Verantwortung. Erweise dich ihrer würdig und bring Violet Manieren bei. Ich dulde in meinem Haus kein solch ungebührliches Verhalten.« Als sie an der Kutsche angekommen waren, drehte sie sich noch einmal zu den Schwestern um, die sich hastig von Mrs Hanson verabschiedet und ihre Koffer vom Kutscher in Empfang genommen hatten, ehe sie ihrer Tante nachgeeilt waren.
»Hast du das verstanden?«
Mattie nickte hastig und reichte dem Kutscher ihren Koffer, ehe sie der Aufforderung ihrer Tante folgte und mit Violet in die Kutsche stieg.
»Ich kann mir vorstellen, dass es schwer für euch sein muss, eure Eltern verloren zu haben und nun ein neues Leben zu beginnen. Aber ich erwarte von euch, dass ihr euch an gewisse Regeln haltet.« Sie wartete nicht darauf, dass eine der beiden etwas erwiderte, sondern fuhr direkt damit fort, ihnen die Regeln zu nennen. »Ich dulde keinen Lärm oder wildes Herumgetobe im Haus. Ihr seid junge Damen - wenn auch durch euren Vater von herkömmlicher Geburt. Man kann von euch hoffentlich erwarten, dass ihr euch dementsprechend gesittet benehmt. Ich möchte zu keiner Zeit von euch wegen Trivialitäten gestört werden. Ihr habt eure Zimmer, in denen ihr euch aufhalten könnt und ich wünsche, dass ihr sie in ordentlichem Zustand hinterlasst. Nur, weil ihr von nun an von Dienstboten umgeben sein werdet, heißt das nicht, dass ihr keine Pflichten habt. Die Dienstboten werdet ihr nicht davon abhalten, ihre Arbeit zu erledigen. Am wichtigsten jedoch, und das werde ich nur ein einziges Mal sagen: Ich möchte keine von euch jemals allein in der Bibliothek antreffen, haben wir uns verstanden?« Erst jetzt hielt Eliza inne, um den Mädchen die Gelegenheit zu geben, ihr zu antworten.
Violet öffnete den Mund, um ihr zu widersprechen, doch Mattie kam ihr zuvor.
»Natürlich, Tante Eliza«, versicherte sie ihr und brachte Violet mit einem Blick zum Schweigen. Die Regeln ihrer Tante mochten streng sein, aber sie hatten keine Wahl, als sich daran zu halten.
Sie verließen das Dorf und bogen, nachdem sie auch die letzten Häuser hinter sich zurückgelassen hatten, von der Hauptstraße ab. Nun konnte Mattie beim Blick aus dem Fenster eine Allee erkennen, die sich vor ihnen auftat. Durch die Wipfel der blühenden Bäume hindurch sah sie hin und wieder einen grauen Fleck auftauchen.
»Noch etwas. Der Dart ist kein kleiner Bach, er ist ein gefährlicher Fluss, in dem schon viele ihr Leben lassen mussten. Ich wünsche nicht, dass ihr euch in seine Nähe begebt.«
Mattie löste den Blick von den Eiben, die den Weg säumten, und sah ihre Tante an. Doch dieses Mal erwartete sie offensichtlich keine Antwort.
Als die Kutsche erneut abbog, sah Mattie das herrschaftliche Gebäude vor ihnen auftauchen, das von nun an ihr Zuhause sein würde: Fynan Hall.
Das dreistöckige graue Steingebäude wuchs beängstigend in die Höhe, als sie sich ihm näherten. Die Sonne stand schon so tief am Himmel, dass es dunkle Schatten auf den Vorplatz warf, die wie eine stille Drohung auf Mattie wirkten.
Als die Droschke zum Stehen kam, und der Kutscher die Tür geöffnet hatte, um Lady Sudgrove aus dem Gefährt zu helfen, verabschiedete sich diese von ihren Nichten und ermahnte sie, sich pünktlich in einer Stunde im Esszimmer ein-zufinden, da sie großen Wert darauf lege, ihr Abendessen jeden Tag pünktlich einzunehmen.
Als Mattie und Violet mit Hilfe des Kutschers, der sich ihnen bei dieser Gelegenheit als Rufus Marsh, seines Zeichens Stallmeister auf Fynan Hall, vorstellte, ausstiegen, war ihre Tante bereits im Inneren des Hauses verschwunden. Die Eingangstür stand offen und ein hochgewachsener Mann mit grauem Haar verharrte regungslos davor, als warte er auf sie.
»Sie lassen Weldon besser nicht warten, junge Damen. Nate wird Ihre Koffer ins Haus tragen.«
»Weldon? Nate?« Mattie sah Mr Marsh verwirrt an.
Der Stallmeister nickte. »Weldon, der Butler. Und das hier ist Nate.« Er nickte mit dem Kopf in Richtung eines großgewachsenen jungen Mannes, den Mattie bisher nicht bemerkt hatte. Er hob gerade den zweiten Koffer von der Kutsche herab, ehe er sich die Mütze von den dunklen Haaren zog und sich vor den Neuankömmlingen verbeugte. »Nate Sale, Mylady«, stellte er sich mit einem kurzen Lächeln vor. Sobald sein Blick Matties traf, ließ er ihn auch schon wieder sinken.
»Miss . Cadderly«, korrigierte sie hastig und warf einen Blick über die Schulter, als fürchte sie, ihre Tante könne hinter ihr auftauchen und sie an ihre unadlige Herkunft erinnern. Für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke erneut und Mattie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, als Nates Lächeln breiter wurde.
»Miss Cadderly also«, stimmte er zu und bückte sich nach den beiden Koffern.
»Ist dir nicht gut?«, fragte Violet ihre Schwester leise und Mattie schüttelte rasch den Kopf.
»Komm.« Sie nahm Violet bei der Hand und zog sie zur Eingangstür, wo Weldon sie begrüßte. Mattie verstand sofort, weshalb der alte Mann als Butler auf Fynan Hall war. Sein ernstes Auftreten stand dem ihrer Tante in nichts nach. Immerhin vermied er es, die beiden vielsagend zu mustern, als er sich ihnen als Jonathan Weldon vorstellte und ihnen ein Dienstmädchen rief, das ihnen ihre Zimmer sowie den Weg ins Esszimmer zeigen sollte, nachdem sie sich frisch gemacht hatten.
»Ich glaube, er ist ein Geist«, flüsterte Violet und warf dem Butler einen letzten Blick über ihre Schulter zu, als sie dem Dienstmädchen die Treppe hinauf zu ihren Zimmern folgten.
»Unsinn«, schalt Mattie ihre Schwester ebenso leise und zog sie hinter sich her. Sie vermied es dabei tunlichst, selbst noch einmal einen Blick auf den alten Butler zu werfen. Auch wenn sie nicht an Geister glaubte, so konnte sie nicht das Gefühl abschütteln, dass Jonathan Weldon ihr und ihrer Schwester nicht gewogen war.
Würde ihr Großvater noch leben, hätte er sie überhaupt hier aufgenommen, nachdem er seine jüngste Tochter des Hauses verwiesen hatte? Mattie wagte es nicht, darüber nachzudenken. Die Angst, mit Violet in einem Armenhaus zu landen, hatte sie die ersten Tage nach dem Tod ihrer Eltern stets be-gleitet, ehe der Brief ihrer Tante eingetroffen war, in dem diese anbot, die beiden Schwestern aufzunehmen.
»Hier ist Ihr Zimmer, Miss Cadderly.« Die Stimme des Dienstmädchens riss Mattie aus ihren Gedanken und erst jetzt bemerkte sie, dass sie angehalten hatte. Das Mädchen stand in der offenen Tür und wartete darauf, dass Mattie ihr neues Zimmer betrat. Violet hielt noch immer ihre Hand fest umklammert und folgte Mattie.
Der Raum war größer, als das Schlafzimmer, das sich die beiden Schwestern zu Hause geteilt hatten, und auch das dunkle Mobiliar und die schweren, dunkelgrünen Vorhänge an den Fenstern bildeten einen starken Kontrast zu dem hellen Zimmer, welches sie nun nie wieder sehen würde. Sie spürte, wie sich Violet enger an sie drängte. Auch ihr musste die Düsternis unangenehm sein.
Als das Dienstmädchen fragte, ob Mattie Hilfe beim Aus- und Ankleiden benötigte, verneinte diese hastig. Das Mädchen machte einen Knicks und verließ das Zimmer, um im Flur zu warten. »Dann zeige ich Miss Violet ihr Zimmer und komme in einer halben Stunde, um Ihnen beiden den Weg zum Esszimmer zu zeigen.«
»Wie ist dein Name?«, fragte Mattie, während sie Violets Hand beruhigend drückte, ehe sie sie losließ.
»Sarah, Miss Cadderly.«
»Vielen Dank, Sarah.«
»Ich will nicht in ein anderes Zimmer.« Violet sah Mattie mit großen Augen an.
»Es ist direkt nebenan«, erklärte Sarah und deutete den Flur entlang.
Mattie lächelte ihre Schwester aufmunternd an. »Siehst du, ich bin gleich nebenan, wenn du etwas brauchst. Sobald ich mich umgezogen habe, komme ich zu dir«, versprach sie und schob Violet sanft in Sarahs Richtung. Auch wenn sie selbst es lieber gehabt hätte, ihre Schwester bei sich im Zimmer zu wissen, sie durfte vor Violet ihre eigene Unsicherheit nicht zeigen. Das würde es für ihre Schwester nur noch schwieriger machen, sich hier einzuleben. Mattie war gerade sechzehn geworden. Es war nur eine Frage der Zeit, bevor ihre Tante eine Anstellung für sie finden würde, oder, sollte sie dies vorhaben, einen Ehemann für sie suchen. Violet könnte in wenigen Monaten auf sich selbst gestellt sein. Der Gedanke ängstigte Mattie weit mehr, als es die Furcht vor der eigenen Zukunft tat. Sie lächelte Violet noch einmal zu und schloss die Tür hinter ihr.
Als sie allein war, ließ sie ihren Blick erneut durch das Zimmer streifen. Ob es einst ihrer Mutter gehört hatte? Mattie stellte sich vor, wie sie am Fenster gesessen hatte, ein Buch in den Händen, den Kopf gegen die Scheibe gelehnt, so, wie sie es immer getan hatte, wenn sie ihr als kleines Kind vorgelesen hatte. Mattie schritt zum Fenster und sah hinaus. Von hier aus hatte sie einen guten Blick in den Garten und da, am Rande ihres Blickfeldes, sah sie Pferde grasen. Zum ersten Mal fand ein echtes Lächeln seinen Weg auf ihre Lippen. Sie liebte es, zu reiten. Es war die einzige Ver-bindung ihrer Mutter zu ihrem Leben hier auf Fynan Hall gewesen, von der sich diese nicht hatte trennen können. Auch in London war sie geritten und hatte es ebenfalls ihren Töchtern beibringen lassen. Während Violet nur mit Mühe ihre Angst vor den großen Tieren hatte ablegen können, hatte Mattie die Leidenschaft ihrer Mutter stets geteilt.
Ein Klopfen an der Tür ließ sie ihren Blick von den grasenden Pferden mit einem Seufzen abwenden. Noch während sie zur Tür schritt, schüttelte sie den Kopf.
»Violet, ich habe dir doch gesagt . oh.« Nate stand vor ihr, ihren Koffer in der Hand und zog hastig seine Mütze vom Kopf.
»Verzeihung, Miss Cadderly, ich musste noch beim Ausspannen der Pferde helfen, ehe ich Ihr Gepäck hereinbringen konnte.«
Hastig machte Mattie ihm Platz, damit er eintreten und ihren Koffer abstellen konnte.
»Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.«
Mattie nickte nur stumm, als Nate mit Violets Koffer aus ihrem Zimmer ging. Nicht einmal ein Danke war ihr über die Lippen gekommen und sie schalt sich eine Närrin, dass sie sich so benahm. Beim nächsten Mal würde sie es wiedergutmachen, schwor sie sich, während sie ihren Koffer öffnete, um sich umzuziehen.
***
Wie sie es versprochen hatte, holte Sarah sie eine halbe Stun-de später in Violets Zimmer ab und zeigte ihnen den Weg in den Salon.
»Ich dachte, wir sollten ins Esszimmer gehen?«, fragte Mattie, bevor Sarah anklopfen konnte.
»Lady Sudgrove hat Besuch bekommen, der Sie beide begrüßen möchte. Lord und Lady Darline. Sie sind entfernte Bekannte Ihrer Familie und leben am anderen Ende Byhol-lows auf Glassford Manor.« Als Sarah anklopfte, drang La-dy Sudgroves Stimme zu ihnen heraus, die sie bat, einzutreten. Sarah öffnete die Tür und knickste. Als Mattie und Violet den Salon betreten hatten, hörten sie, wie die Tür hinter ihnen geschlossen wurde.
Sofort ergriff Violet wieder Matties Hand. Lady Sudgrove musterte ihre Nichten, als habe sie sie nicht erst vor weniger als einer Stunde gesehen und ihre Lippen bildeten diese dün-ne Linie, von der Mattie glaubte, dass sie ihrer Tante im Lau-fe ihres Lebens in Leib und Seele übergegangen war.
»Matilda, Violet, ich möchte euch Lord und Lady Darline vorstellen.«
Die Schwestern knicksten vor dem älteren Ehepaar, das sie freundlich anlächelte. Mattie hörte, wie Violet leise ausatmete.
»Sie sehen Sophie so ähnlich, nicht wahr, Charles?«
»In der Tat, Maria, in der Tat.« Lord Darline, ein großgewachsener Mann mit schütterem Haar, tätschelte seiner Frau die Hand, die diese beim Anblick der beiden Mädchen auf seinen Arm gelegt hatte.
»Sie kannten unsere Mama?«, platzte es aus Violet heraus. Sie bemerkte nicht einmal Lady Sudgroves tadelnden Blick.
»Oh, aber natürlich«, versicherte Lady Darline, die sich an den beiden scheinbar nicht sattsehen konnte. »Wirklich, wie aus dem Gesicht geschnitten. Das Haar ist ein wenig roter, aber die Augen . der gleiche Blauton. Ganz genau wie Sophie. Nicht wahr, Eliza?«
Lady Sudgrove presste ihre Lippen noch stärker aufeinander und Mattie senkte hastig den Blick, um die Stimmung ihrer Tante nicht noch mehr zu verschlechtern.
»Mag schon sein.«
»Oh, aber Eliza, sieh sie dir doch an.« Lady Darline erhob sich, für eine Dame ihres Alters erstaunlich schnell, wie Mattie fand, und kam auf die beiden zu. Sie ergriff Matties Kinn und sah ihr in die Augen. Die alte Dame lächelte über das ganze Gesicht und die grünen Augen funkelten voller Freu-de.
»Du bist Matilda, nicht wahr? Ja, ganz deine Mutter. Reitest du auch? Sophie war ein solcher Pferdenarr. Weißt du noch Charles? Sie kam jeden Tag zu uns nach Glassford Manor geritten, um uns zu besuchen.«
Aus den Augenwinkeln sah Mattie, dass Lord Darline nick-te, während er seine Frau amüsiert beobachtete.
»Und du, Violet, richtig, ich wage fast zu sagen, sie hat auch große Ähnlichkeit mit Fanny, denkt ihr nicht? Das hel-lere Haar und dieser Ausdruck, als habe man Fanny wieder vor Augen.«
»Ich denke, wir sollten die beiden nicht mit alten Geschichten langweilen«, unterbrach Lady Sudgrove Lady Darline. Mattie hatte das Gefühl, dass die Stimme ihrer Tante die Temperatur im Zimmer deutlich abgekühlt hatte, doch Lady Darline schien davon nichts zu bemerken.
»Ihr beiden müsst uns unbedingt besuchen kommen, nicht wahr, Charles?« Sie warf ihrem Mann einen kurzen Blick zu und strahlte, als dieser ihr zustimmte.
»Eliza, was sagst du, wirst du uns deine beiden Engel ab und zu vorbeischicken, um uns alte Leute aufzuheitern.«
»Ich denke, das lässt sich einrichten.«
»Sie könnten morgen zum Tee kommen.«
»Wir werden sehen.« Lady Sudgroves Gesicht zeigte keinerlei Regung.