Draußen ertönt eine Hupe, gefolgt von Musik, und zwar nicht irgendwelcher, sondern dem Refrain eines Liedes, das wir alle auswendig kennen: My Darlin' Daughters Three - der Song, den Mom für uns - ihre drei geliebten Töchter - geschrieben hat, als sie Mitte der 90er-Jahre gerade ihre Solokarriere begonnen hatte.
Meine Schwester Adele zuckt zusammen und geht zur Haustür. »Was in aller Welt ist das?«
»Klingt nicht wie der Eiswagen«, witzele ich, aber Adele hat keinen Sinn für meinen Humor. Wenn ich darüber nachdenke, weiß ich nicht einmal, wann sie überhaupt das letzte Mal gelacht hat.
Die Stimme unserer Mutter erklingt und ihre Worte hören sich überlaut und verzerrt an, als würde sie durch ein Megafon rufen: »Meine Lieben, könnt ihr drei bitte mal vors Haus kommen? Ich habe eine Überraschung für euch!«
Adele marschiert, ohne zu zögern, nach draußen und lässt mich allein mit Hattie zurück, die so aussieht, als könnte nur die Wiederkunft Christi sie wecken. Ich nähere mich der schlafenden Gestalt meiner zweiten Schwester auf dem Sofa und berühre sanft ihre Schulter. »Hey, Hattie. Mom will, dass wir rauskommen. Sie sagt, sie hat eine Überraschung für uns.«
»Später«, murmelt Hattie. »Zu . müde.«
»Verstehe ich.« Ich unterdrücke selbst ein Gähnen. »Es tut mir so leid, was bei der Sorgerechtsanhörung passiert ist. Aber das wird schon.« Irgendwie.
Der einzige Hinweis darauf, dass sie mich gehört hat, ist eine hochgezogene Augenbraue.
Von der Auffahrt ist ein erneutes kurzes Hupen zu hören, also lasse ich Hattie auf der Couch liegen und trete durch die Haustür nach draußen. Weiter komme ich nicht.
Adele ist zwei Stufen unter mir auf der Verandatreppe stehen geblieben und ich brauche nicht zu fragen, was los ist. Der alte goldene Tourbus mit seinen getönten Scheiben und einer leuchtend roten Schleife auf dem Dach ist nicht gerade unauffällig. Genauso wenig wie unsere Mutter, die in der offenen Wagentür steht und tatsächlich ein Megafon umklammert.
»Jetzt steht da nicht mit offener Kinnlade rum!«, ruft sie. »Wo ist Hattie?«
Adele dreht sich um und funkelt mich an, als wäre sie die befehlshabende Offizierin und ich ihre Rekrutin.
»Die schläft«, sage ich zu dem gigantischen Goldbarren auf Rädern.
Wir treten zögernd ein paar Schritte näher, als auf einmal eine ohrenbetäubende Sirene ertönt, die selbst Schnapsleichen wecken könnte, die nach einer durchzechten Nacht auf dem Broadway ihren Rausch ausschlafen. Obwohl ich mir die Ohren zuhalte, verstehe ich die nächste Megafonansage meiner Mutter klar und deutlich: »Harriet Josephine Farrow, Sie werden um Ihre Anwesenheit in der Auffahrt gebeten.«
»Sie hat einen harten Tag hinter sich, Mom«, versuche ich es noch einmal.
»Und genau deshalb habe ich beschlossen, meine ursprünglichen Pläne für unser Treffen heute Abend zu ändern. Harte Tage bleiben nur hart, wenn man sie lässt. Es hat keinen Sinn, über etwas nachzugrübeln, was man nicht mehr ändern kann. Ihr alle braucht eine ordentliche Portion gute Laune, und das hier ist genau das Richtige.«
Wenige Augenblicke später taumelt Hattie durch die Tür. Ihre schwarze Jogginghose ist verdreht, sodass die Kordel im Bund nicht in der Mitte, sondern auf ihrem rechten Hüftknochen sitzt, der seit ihrer Scheidung vor ein paar Monaten noch prominenter hervortritt. Auf dem Weg über die Veranda bemüht sie sich vergeblich, das blonde Durcheinander auf ihrem Kopf zu bändigen, bevor sie den Versuch aufgibt. Als sie endlich hochguckt und den Bus sieht, bleibt auch sie wie angewurzelt stehen.
Unsere Mutter posiert dort - ganz die berühmte Countrymusiklegende, die sie ist - mit ihrer bewundernswert schmalen Taille in den hoch geschnittenen Jeans, mit Strassgürtel und schwarzem Glitzertop, das den Schriftzug Drama Mom trägt. »Möchte eine von euch vielleicht raten, wer dieses Schmuckstück hinter mir ist und was er hier macht?«
»Auf jeden Fall ist es nicht der Tourbus, den Raegan für deine Reise nach Washington nächsten Monat mieten sollte.« Adele sieht mich an. »Ich habe explizit um ein neues Modell gebeten, schwarz und mindestens einen Meter länger.«
»Das habe ich auch bestellt! Gib mir eine Sekunde, dann rufe ich die Bestätigungsmail auf.« Während ich in meinem Smartphone nach der entsprechenden Nachricht suche, meint Mom fröhlich: »Mach dir keine Umstände, Liebes. Den Auftrag habe ich storniert.«
»Du hast . was?« Adele erstickt fast an den Worten. »Warum in aller Welt solltest du das tun?«
»Weil ich nicht in einem Bus zu einem Festival fahren werde, wo mein musikalisches Vermächtnis gefeiert wird, der nichts mit meiner Geschichte zu tun hat.« Moms Lächeln wird breiter. »Und deshalb habe ich Eddie angeheuert, damit er Old Goldie aus seinem langen Schlaf erweckt und ihm ein längst überfälliges Facelifting verpasst. Ich liebe, wie das Gold in der Sonne glänzt - ihr nicht auch? Eddie hat gesagt, es ist eine Metal-Flake-Lackierung. Es sieht noch besser aus als die ursprüngliche Version.«
»Du meinst 'Old Goldie' wie . wie der alte Tourbus, den du noch aus den 90er-Jahren hast?«, fragt Hattie, die allmählich zu sich zu kommen scheint.
»Genau der. Innen ist er auch komplett renoviert. Alles ist hell und einladend und es wurden bequemere Möbel eingebaut. Aber das Beste ist die ganze nostalgische Dekoration - Eddie und sein Team haben die ganzen Fotos für uns neu gerahmt. Ich kann es kaum erwarten, euch alles zu zeigen.« Sie strahlt uns an. »Das wird der beste Sommer, den wir jemals zusammen verbracht haben!«
Kurz frage ich mich, ob ich als Einzige außen vor gelassen wurde, aber den offenen Mündern der anderen nach zu urteilen, hatten sie auch keine Ahnung.
Wie immer übernimmt Adele die Führung, bevor jemand anders es tun kann. »Wovon redest du, Mom? Ich bin die Einzige, die mit dir zum Watershed fährt. Nur wir beide in einem gemieteten Bus mit viel Platz und einem Büro, von dem aus ich arbeiten kann. Und deine Band treffen wir dann vor Ort, weißt du noch?«
Unsere Mutter sieht aus, als hätte sie ihr ganzes Leben auf diesen Augenblick gewartet. Als wäre die Tatsache, dass sie unzählige Male im Grand Ole Opry oder an Hunderten anderer Locations auf der ganzen Welt hinter den Kulissen darauf gewartet hat, dass ihr Auftritt angekündigt wird, nichts gegen das hier.
»Ich habe einen neuen Plan gemacht.« Mom lässt den Blick über unsere Gesichter schweifen und erklärt uns nach einer Pause, in der ich einen imaginären Trommelwirbel höre: »Vor dem Festival will ich mit meinen drei Töchtern einen Roadtrip machen, der an einem meiner liebsten Orte endet. Nur wir vier plus ein Fahrer. In einer Woche geht es los!«
Niemand wagt zu atmen, geschweige denn zu sprechen. Wir stehen nur da und starren sie an, sie, den Bus und dann einander.
»Mom«, sagt Adele, als wollte sie einen von tausend Gründen anführen, warum eine solche Reise niemals funktionieren kann, und ausnahmsweise bin ich dankbar für ihre Bestimmtheit. Wir vier in einem Bus - egal, wie lange - klingt eher nach dem Auftakt für einen True-Crime-Podcast als nach einer schönen Reise. »Du hast noch mehrere Proben mit der Band und mit der Choreografie, außerdem einen Termin beim Stylisten -«
»Ich kann diese Lieder im Schlaf, genau wie die Band. Und Choreografie? Ich bin doch nicht Beyoncé. Meine Bühnenshow besteht noch aus denselben drei Schritten wie vor deiner Geburt. Es spricht nichts dagegen, dass wir vier uns zwei Wochen Zeit nehmen, um vor dem Festival zusammen durchs Land zu fahren. Für die Proben brauche ich nur vierundzwanzig Stunden. Höchstens.«
Adele schüttelt den Kopf. »Es gibt einfach zu viele Unwägbarkeiten und wir dürfen nicht riskieren, dass vor der Show irgendwas schiefgeht. Für das Label steht einfach zu viel auf dem Spiel.« Sie sieht uns der Reihe nach an. »Vielleicht können wir für August was planen? Ein langes Wochenende irgendwo?«
»Nein, lieber vorher, im August kommen meine Kinder nach Hause; auf keinen Fall werde ich auch nur eine einzige Stunde mit ihnen opfern«, erwidert Hattie mit einer Direktheit, die mich überrascht.
»Hattie, ich wollte wirklich nicht vorschlagen, dass du .« Adele verstummt und räuspert sich, bevor sie in einem für sie völlig untypischen tröstenden Tonfall fortfährt: »Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwierig die nächsten Wochen für dich werden. Als Cheyenne ausgezogen ist, um aufs College zu gehen, waren Michael und ich -«
»Cheyenne ist neunzehn. Aiden und Annabelle sind acht und neun und verlassen gerade zum ersten Mal im Leben das Land, und zwar in der Obhut meines betrügerischen Ex-Mannes und seiner Geliebten. Versuch nicht, unsere Umstände miteinander zu vergleichen. Sie sind nicht vergleichbar. Du und ich sind nicht gleich.«
»Da hast du recht«, erwidert Adele kalt. »Das sind wir nicht. Ich hätte es zum Beispiel niemals gewagt, ohne juristischen Beistand oder wenigstens jemanden aus der Familie zu einer Sorgerechtsanhörung zu gehen und -«
»Du denkst also, es ist meine Schuld, dass ich verloren habe?« Hattie lacht freudlos. »Natürlich denkst du das. Dann setz es doch auf die Liste meiner Verfehlungen, Adele. Du führst ja mit Sicherheit eine.«
»Das reicht, Mädchen!«, schaltet Mom sich ein. »Ihr versteht gar nicht, worum es mir bei dieser Reise geht.« (.)
»Ein so langer Trip hätte viel früher geplant werden müssen«, sagt Adele, »und das Timing ist einfach schlecht.«
Mom verschränkt die Arme vor der Brust. Breitbeinig steht sie vor der untersten Stufe zum Bus, während die Klimaanlage ihr die Haare ums Gesicht weht. »Ich werde euch Dreien mal etwas über schlechtes Timing sagen. Schlechtes Timing ist es, wenn bei deinem Auftritt in einer Weihnachtsfernsehshow mitten im Refrain von 'Stille Nacht' auf einmal die Wehen einsetzen. Schlechtes Timing war es, als Hattie sich zwei Minuten vor Beginn der Hochzeit unseres Drummers, bei der sie Blumenmädchen war, den Pony abgeschnitten hat. Schlechtes Timing war es, als Raegan sich im Bad meines unvergleichlichen Musikerkollegen George Strait eingeschlossen hat und wir die ganze Nacht panisch nach ihr gesucht haben, während sie seelenruhig über ihrem Bilderbuch eingeschlafen war. Schlechtes Timing ist die Hauptzutat beim Elternsein; dieser Roadtrip ist eine Entscheidung. Und deshalb ist meine Bitte, dass ihr euch dafür entscheidet, diese gemeinsame Zeit möglich zu machen. Mir zuliebe.«
Hattie geht auf Mom zu. »Ich komme mit.«
Adele und ich sind nicht annähernd so impulsiv, obwohl unser Zögern unterschiedliche Gründe hat. Adele hat einen Terminkalender, den sie nicht ohne Weiteres über den Haufen werfen kann, und muss außerdem ihren Mann und ihre studierende Tochter in ihre Pläne miteinbeziehen. Der Großteil meiner gesamten Welt steht hier in der Auffahrt - solange man nicht die Charaktere mitzählt, die in einer separaten, fiktiven Welt leben, über die ich schreibe. Aber die haben in dieser Runde noch nie viel Beachtung bekommen. Und vielleicht ist das der Grund, warum ich einen Schritt auf den goldenen Tourbus zugehe. »Ich bin auch dabei.« Über die Schulter lächele ich meine älteste Schwester zuckersüß an. »Keine Angst, Adele. Ich werde dafür sorgen, dass unser Roadtrip so schnell wie möglich in den Familienkalender eingetragen wird.«