Hirngewebe klebte wie feuchtgraue Flusen an den Ärmeln von Dr. Kay Scarpettas OP-Kittel, dessen Vorderseite mit Blutspritzern übersät war. Stryker-Sägen kreischten, Wasser prasselte auf Metall, Knochenstaub schwebte wie Mehl durch die Luft. Drei Tische waren belegt, weitere Leichen unterwegs. Es war Dienstag, der 1. Januar, Neujahr. Scarpetta brauchte nicht in die Toxikologie zu gehen, um zu wissen, dass ihr Patient betrunken gewesen war, als er den Abzug seines Gewehrs mit dem Zeh betätigt hatte. Bereits bei der Leichenöffnung war ihr der scharfe, faulige Geruch des Alkohols aufgefallen, der sich im Körper zersetzte. Schon vor vielen Jahren, während ihrer Ausbildung zur Ärztin, hatte sie sich gefragt, ob man für Alkoholiker nicht Führungen durch die Pathologie veranstalten sollte, damit sie durch diesen Schock zur Nüchternheit zurückfänden. Vielleicht würden sie ja zu Perrier wechseln, wenn sie ihnen einen aufgesägten Schädel zeigte, der an ein geköpftes Frühstücksei erinnerte und nach Champagner post mortem stank. Wenn es nur so einfach wäre. Scarpetta beobachtete, wie ihr Stellvertreter Jack Fielding die schimmernden Organe aus der Brusthöhle einer Studentin entnahm, die vor einem Geldautomaten überfallen und erschossen worden war, und wartete auf seinen Wutausbruch. Heute Morgen bei der Dienstbesprechung hatte er zorngerötet und mit gepresster Stimme festgestellt, dass das Opfer so alt wie seine Tochter und ebenfalls Star der Leichtathletikmannschaft sowie Studentin der Medizin gewesen war. Wenn Fielding einen Fall zu persönlich nahm, kam meistens nichts Gutes dabei heraus. »Werden denn die Messer hier gar nicht mehr geschliffen?«, bellte er. Die funkelnde Klinge einer Stryker-Säge kreischte auf, als der Sektionshelfer eine Schädeldecke öffnete. »Sehe ich etwa aus, als würde ich mich langweilen?«, brüllte der Mann zurück. Mit einem lauten Klappern schleuderte Fielding das Skalpell auf den Instrumentenwagen. »Wie soll man hier denn arbeiten, verdammt noch mal?« »Mein Gott, gebt ihm doch bitte endlich eine Xanax.« Der Sektionshelfer stemmte den Schädel mit einem Meißel auf. Scarpetta legte eine Lunge auf die Waage und notierte das Gewicht mit einem Smartpen auf einem elektronischen Notizblock. Kugelschreiber, Klemmbretter oder Papierformulare gab es hier nicht mehr. Oben in ihrem Büro würde sie ihre Aufzeichnungen und Skizzen vom Notepad direkt auf den Computer überspielen. Allerdings bot all die Technik noch keine Lösung für die Archivierung ihres Gedankenflusses, den sie weiterhin diktieren musste, nachdem sie mit der Sektion fertig war und die Handschuhe ausgezogen hatte. Ihr Institut war hochmodern ausgestattet und verfügte über alle technischen Neuerungen, die sie in einer ihr immer fremder werdenden Welt für nötig hielt. In einer Welt, bevölkert von Menschen, die jede »forensische« Sendung im Fernsehen für bare Münze nahmen. Einer Welt, in der Gewalt kein gesellschaftliches Problem mehr war, sondern ein Krieg. Sie begann, die Lunge zu sezieren, wobei sie feststellte, dass das Organ eine normale Form hatte und eine glatte, schimmernde viszerale Pleura sowie ein auf Sauerstoffmangel hinweisendes dunkelrotes Gewebe aufwies. RosigerSchaum war nur minimal vorhanden. Auch schwere Verletzungen fehlten. Die Blutgefäße der Lunge waren ohne Befund. Scarpetta hielt inne, als Bryce, ihr Verwaltungsmann, hereinkam. Widerwillen und Abscheu malten sich auf seinem jungenhaften Gesicht. Er war, was die Vorgänge in diesem Raum betraf, zwar nicht zimperlich, fühlte sich wie die meisten Menschen jedoch davon abgestoßen. Nachdem er einige Papierhandtücher aus dem Spender gezogen und sie sich um die Hand gewickelt hatte, hob er den Hörer des schwarzen Wandtelefons ab, dessen Leitung eins blinkte. »Benton, sind Sie noch dran?«, sprach er ins Telefon. »Sie steht hier neben mir und hat ein ziemlich großes Messer in der Hand. Hat sie Ihnen schon von den Ereignissen des Tages erzählt? Der tragischste Fall ist die Studentin von der Tufts University. Ihr Leben war gerade mal zweihundert Dollar wert. Irgendein Arschloch von einer Gang, den Bloods oder den Crips. Der müsste eigentlich auf dem Überwachungsvideo sein. Die Nachrichten haben es gemeldet. Jack sollte den Fall nicht übernehmen, bei dem platzt nämlich gleich ein Aneurysma. Aber mich fragt ja keiner. Und dann noch dieser Selbstmord. Kommt ohne einen Kratzer aus dem Irak zurück. Also alles okay für die Army. Frohes Fest und alles Gute auf Ihrem künftigen Lebensweg.« Scarpetta schob den Gesichtsschutz zurück, zog die Handschuhe aus und warf sie in die grellrote, für infektiöse Abfälle bestimmte Mülltonne. Dann wusch sie sich in einem großen Waschbecken aus Edelstahl gründlich die Hände. »Das Wetter ist mies, draußen genauso wie hier drin«, redete Bryce weiter auf Benton ein, der diese Art von Gesprächen verabscheute. »Volles Haus, und Jack ist gereizt und schlecht gelaunt. Wir sollten etwas für ihn tun. Ein Wochenende in Ihrer Klinik in Harvard vielleicht. Ob man da einen Familienrabatt bekommt?« Scarpetta nahm ihm den Hörer ab. »Hacken Sie nicht immer auf Jack rum«, sagte sie zu Bryce. »Ich glaube, er ist wieder auf Steroiden und deshalb ständig so gereizt.« Scarpetta drehte Bryce und den anderen den Rücken zu. »Was gibt's?«, fragte sie Benton. Sie hatten schon bei Tagesanbruch miteinander gesprochen. Dass er sie wenige Stunden später noch einmal im Autopsiesaal anrief, verhieß nichts Gutes. »Ich fürchte, wir haben hier ein Problem«, erwiderte er. Das hatte er bereits letzte Nacht gesagt, als sie ihn traf, nachdem sie vom Tatort, an dem die Tufts-Studentin umgebracht wurde, zurückgekehrt war. Benton war auf dem Weg zum Logan Airport, um die letzte Maschine noch zu erwischen. Die New Yorker Polizei hatte einen schwierigen Fall zu lösen und benötigte seine Hilfe. »Jaime Berger bittet dich ebenfalls herzukommen«, fügte er hinzu. Wie immer, wenn Scarpetta diesen Namen hörte, fühlte sie sich beklommen, denn die New Yorker Staatsanwältin erinnerte sie an ein vergangenes Ereignis, das sie lieber vergessen hätte. »Je schneller, desto besser. Schaffst du den Flug um eins?«, fragte Benton. Laut Wanduhr war es kurz vor zehn. Scarpetta musste noch die Autopsie abschließen, duschen und sich umziehen. Außerdem wollte sie noch rasch nach Hause. Essen, dachte sie. Hausgemachter Mozzarella, Kichererbsensuppe, Fleischklößchen, Brot. Was sonst noch? Den Ricotta mit frischem Basilikum, den Benton so gern auf der selbstgemachten Pizza aß. All das hatte sie gestern vorbereitet, nicht ahnend, dass sie den Silvesterabend allein verbringen würde. In ihrer New Yorker Wohnung war der Kühlschrank bestimmt leer. Wenn Benton allein war, ließ er sich meist etwas vom Pizzaservice liefern. »Komm direkt ins Bellevue«, sagte er. »Dein Gepäck kannst du in meinem Büro lassen. Den Tatortkoffer habe ich schon vorbereitet.« Ein Messer wurde geschärft; durch das zornig klingende Kratzen konnte Scarpetta Benton kaum verstehen. An der Tür begann die Sirene zu heulen, und die Überwachungskamera zeigte einen Arm in einem dunklen Ärmel, der aus dem Fahrerfenster eines weißen Lieferwagens ragte, während der Mitarbeiter des Transportdienstes auf die Klingel drückte. »Könnte bitte mal jemand aufmachen?«, überschrie Scarpetta den allgemeinen Lärm.Im Gefängnistrakt des Bellevue Hospital Center verband ein Headset Benton mit seiner etwa zweihundertzwanzig Kilometer entfernten Frau. Er erklärte ihr, dass letzte Nacht ein Mann in die forensische Psychiatrie eingeliefert worden sei. »Berger möchte, dass du dir seine Verletzungen ansiehst«, fügte er hinzu. »Was wirft man ihm vor?«, erkundigte sich Scarpetta. Im Hintergrund konnte Benton Stimmengewirr und die Geräusche aus dem Autopsiesaal vernehmen. »Bis jetzt noch nichts«, antwortete er. »Letzte Nacht gab es einen Mord. Einen sehr ungewöhnlichen.« Er scrollte durch die flimmernden Zeilen auf seinem Computermonitor. »Heißt das etwa, die Untersuchung wurde nicht gerichtlich angeordnet?« »Noch nicht. Aber jemand muss ihn sich sofort ansehen.« »Das hätte längst geschehen sollen. Und zwar gleich bei der Einlieferung. Falls es anhaftende Spuren gab, sind die inzwischen vermutlich zerstört oder verloren gegangen.« Benton starrte auf den Monitor und fragte sich, wie er es ihr am besten beibringen sollte. An ihrem Tonfall erkannte er, dass sie noch ahnungslos war, und er hoffte inständig, sie würde es nicht von jemand anderem erfahren. Wehe, wenn ihre Nichte Lucy Farinelli sich nicht an seine Anweisung hielt, die Sache ihm zu überlassen. Was nicht bedeutete, dass er sich bisher sehr geschickt angestellt hatte. Bei ihrem Telefonat vor wenigen Minuten hatte Jaime Berger sehr professionell geklungen, woraus er schloss, dass sie diese üble Website im Internet ebenfalls nicht kannte. Er war nicht sicher, warum er die Gelegenheit nicht genutzt hatte, es ihr endlich zu sagen. Inzwischen bereute er es, so lange geschwiegen zu haben. Er hätte Berger längst reinen Wein einschenken müssen, und zwar schon vor einem knappen halben Jahr. »Seine Verletzungen sind nur oberflächlich«, meinte Benton zu Scarpetta. »Er sitzt in einer Einzelzelle, spricht nicht und will mit niemandem reden, außer mit dir. Berger möchte verhindern, dass jemand Druck auf ihn ausübt, und hat deshalb beschlossen, mit der Untersuchung zu warten, bis du hier bist. Und da er so darauf besteht »Seit wann tanzen wir nach der Pfeife von Gefangenen?« »PR, politische Gründe. Außerdem ist er kein Gefangener. Niemand in dieser Abteilung gilt nach seiner Aufnahme als Gefangener. Es sind Patienten.« Benton bemerkte selbst, wie angespannt er klang, anders als sonst. »Wie ich bereits sagte, wird ihm bisher kein Verbrechen zur Last gelegt. Es gibt keinen Haftbefehl. Es handelt sich eher um eine freiwillige Einweisung. Wir können ihn also nicht die vorgeschriebenen zweiundsiebzig Stunden hierbehalten, weil er keine Einverständniserklärung unterschrieben hat. Er wird keiner Straftat beschuldigt, zumindest noch nicht. Vielleicht ändert sich das ja, nachdem du ihn untersucht hast. Aber im Moment steht es ihm jederzeit frei zu gehen.«»Du erwartest also, dass ich etwas finde, das der Polizei einen plausiblen Grund gibt, ihn des Mordes anzuklagen? Und was bedeutet es, dass er nicht unterschrieben hat? Noch mal von vorn. Der Patient hat sich selbst in den Gefängnistrakt eingewiesen, und zwar unter der Bedingung, dass er verschwinden kann, wann er will?«»Ich erkläre dir alles, wenn wir uns sehen. Außerdem verlange ich nicht von dir, dass du etwas findest. Du weißt doch, keine Erwartungen, Kay. Ich bitte dich nur zu kommen, weil die Situation ausgesprochen heikel ist und weil Berger sehr viel daran liegt.«»Obwohl er bei meiner Ankunft schon fort sein könnte.«Benton konnte sich denken, welche Frage ihr auf der Zunge lag. Er verhielt sich nämlich ganz und gar nicht wie der gelassene, durch nichts aus der Ruhe zu bringende forensische Psychologe, den sie nun schon seit zwanzig Jahren kannte.»Er wird warten, bis du hier bist«, erwiderte Benton.»Ich verstehe nicht, was er überhaupt dort will.« Scarpetta ließ nicht locker.»Das wissen wir auch nicht so genau. Kurz zusammengefasst, hat er darauf bestanden, ins Bellevue gebracht zu werden, als die Polizei am Tatort eintraf.«»Wie heißt er eigentlich?«»Oscar Bane. Außerdem hat er gefordert, dass nur ich allein die psychologische Untersuchung durchführen darf. Also riefen sie mich an, und ich bin, wie du ja weißt, sofort nach New York geflogen. Er hat Angst vor Ärzten. Bekommt Panikattacken.«»Woher weiß er, wer du bist?«»Weil er weiß, wer du bist.«»Er weiß, wer ich bin?« »Die Polizei hat seine Kleidung sichergestellt. Aber er beharrt darauf, dass nur du die Spuren an seinem Körper - und ich betone noch einmal, dass kein Haftbefehl vorliegt - abnehmen darfst. Wir haben gehofft, er würde sich beruhigen und sich von einem Arzt vor Ort untersuchen lassen. Doch da ist nichts zu wollen. Er wird nur immer sturer. Angeblich hat er eine Todesangst vor Ärzten und außerdem Odynephobie und Dishabiliophobie.« »Er hat Angst vor Schmerzen und davor, seine Kleider auszuziehen?« »Und Caligynephobie, Angst vor schönen Frauen.« »Aha. Deshalb fühlt er sich in meiner Gegenwart so sicher.« »Das sollte ein Scherz sein. Er findet dich sehr attraktiv und fürchtet sich eindeutig nicht vor dir. Allerdings ist mir gar nicht wohl bei der Sache.« Das traf den Kern des Problems. Benton steckte in einem Dilemma und hätte am liebsten verhindert, dass Scarpetta auch nur einen Fuß nach New York setzte. »Ich verstehe es immer noch nicht ganz. Jaime Berger möchte also, dass ich in einem Schneesturm nach New York fliege und einen Patienten im Gefängnistrakt des Bellevue untersuche, der nicht unter Anklage steht »Falls du in Boston starten kannst. Hier ist das Wetter schön. Nur kalt.« Benton blickte aus dem Fenster und sah nichts als Grau. »Dann lass mich jetzt mit dem Sergeant weitermachen, der im Irak getötet wurde, es aber erst gemerkt hat, als er wieder zu Hause war. Wir sehen uns am Nachmittag«, erwiderte sie. »Guten Flug. Ich liebe dich.« Benton legte auf und scrollte erneut durch die Website vor seinen Augen. Er las den Text ein ums andere Mal, so als würden diese anonym ins Internet gesetzten Verleumdungen durch die Wiederholung weniger widerwärtig, bösartig und abstoßend. »Was können Worte mir schon anhaben?«, lautete Scarpettas Motto. Das mochte vielleicht auf so manchen Zeitungsartikel über Scarpetta zutreffen. Doch dies hier war etwas anderes. Was für ein Ungeheuer schrieb nur so etwas? Woher hatte dieser Mensch die Informationen? Benton griff zum Telefon.Auf der Fahrt zum Logan International Airport hörte Scar- petta Bryce nur mit halbem Ohr zu. Seit er sie zu Hause abgeholt hatte, redete er wie ein Wasserfall. Vor allem beklagte er sich über Jack Fielding und erinnerte sie zum wiederholten Mal daran, ein Mensch, der in die Vergangenheit zurückkehre, sei wie ein Hund, der an seinem eigenen Erbrochenen schnuppere. Oder wie Lots Weib, das sich umgedreht habe und deshalb zur Salzsäule erstarrt sei. Bryce' Vorrat an Gleichnissen aus der Bibel war ärgerlicherweise unerschöpflich. Was allerdings weniger daran lag, dass er religiös gewesen wäre - vorausgesetzt, dass er überhaupt an etwas glaubte. Es handelte sich um Perlen der Weisheit aus einer Seminararbeit mit dem Thema »Die Bibel als Literaturform«, die er vor Jahren auf dem College verfasst hatte. Ihr Verwaltungsmann wollte darauf hinaus, dass man keine Personen aus der eigenen Vergangenheit als Angestellte beschäftigen sollte. Und Fielding war ein Mensch aus Scarpettas Vergangenheit. Er hatte seine Probleme, aber wer hatte die nicht? Als Scarpetta ihren neuen Posten antrat und einen Stellvertreter suchte, hatte sie sich gefragt, was Fielding wohl inzwischen so trieb. Schließlich spürte sie ihn auf und fand heraus, dass es nicht besonders viel war. Bentons Reaktion auf diese Personalentscheidung war damals ungewöhnlich neutral, ja, sogar gönnerhaft ausgefallen, was Scarpetta inzwischen einleuchtete. Seiner Meinung nach war sie auf der Suche nach Beständigkeit. Viele Menschen blickten zurück anstatt nach vorn, wenn sie sich von einer Veränderung überfordert fühlten. Also sei es seiner Ansicht nach nur folgerichtig, dass sie jemanden einstellte, den sie schon seit den Anfangstagen ihrer beruflichen Laufbahn kannte. Allerdings hatte er hinzugefügt, man müsse darauf achten, die Vergangenheit nicht aus einem Sicherheitsbedürfnis heraus zu verklären. Es war Bentons ausweichende Haltung, die sie verunsicherte. Er vermied es partout, ihr die längst überfällige Frage, wie sie das Zusammenleben mit ihm empfand, zu stellen, obwohl es immer noch genauso chaotisch und widersprüchlich verlief wie früher. Seit ihre Beziehung vor fünfzehn Jahren mit einem Seitensprung begonnen hatte, hatten sie erst im vergangenen Sommer die Erfahrung gemacht, was es hieß, den Alltag gemeinsam zu meistern. Es war eine schlichte Trauung hinter Scarpettas Kutschhaus in Charleston, South Carolina, gewesen, wo sie sich eine Privatpraxis eingerichtet hatte, die sie kurze Zeit darauf wieder schließen musste. Danach waren sie nach Belmont, Massachusetts, gezogen, um in der Nähe des McLean Hospital, der psychiatrischen Klinik, in der Benton arbeitete, zu wohnen. Scarpetta hatte unterdessen eine Stelle als Chief Medical Examiner des Commonwealth Northern District mit Sitz in Watertown angenommen. Weil es nicht weit nach New York war, hatten sie die Gelegenheit genutzt, hin und wieder als Gastdozenten am John Jay College of Criminal Justice zu lehren, eine Aufgabe, die auch die kostenlose Beratung der New Yorker Polizei, des dortigen Gerichtsmedizinischen Instituts und der forensischen Psychiatrie des Bellevue Hospital einschloss. »^ Ich weiß, dass Sie sich nicht für solche Sachen interessieren, und vielleicht ist es ja auch nicht so wichtig, aber ich sage es Ihnen trotzdem, auch auf die Gefahr hin, dass Sie dann sauer auf mich sind.« Bryce' Stimme riss Scarpetta aus ihren Grübeleien. »Wofür soll ich mich nicht interessieren?«, fragte sie. »Ach, schon gut. Ich führe gern Selbstgespräche.« »Tut mir leid. Könnten Sie noch mal zurückspulen?« »Ich habe nach der Dienstbesprechung den Mund gehalten, weil ich Sie in dem Durcheinander heute Morgen nicht ablenken wollte. Ich dachte, ich warte, bis wir fertig sind, und rede dann unter vier Augen in aller Ruhe mit Ihnen. Vermutlich hat es ohnehin noch keiner gelesen. Als ob Jack heute nicht schon schlecht genug drauf gewesen wäre. Natürlich ist er immer schlecht drauf, wahrscheinlich auch der Grund, warum er an Ekzemen und Schuppenflechte leidet. Haben Sie übrigens die verkrustete Stelle hinter seinem Ohr gesehen? Weihnachten im Familienkreis. Wirkt Wunder für die Nerven.« »Wie viel Kaffee haben Sie heute getrunken?« »Warum bin immer ich der Sündenbock? Der Überbringer der schlechten Nachricht wird hingerichtet. Sie blenden mich aus, bis das, was ich Ihnen mitteilen möchte, die kritische Masse überschreitet. Und dann, kawumm, bin ich der Bösewicht mit der Hiobsbotschaft. Geben Sie mir bitte Bescheid, falls Sie länger als eine Nacht in New York bleiben, damit ich den Dienstplan ändern kann. Soll ich ein paar Termine mit dem Trainer verabreden, den Sie so mögen? Wie heißt er noch mal?« Bryce legte nachdenklich den Finger an die Lippen. »Kit«, beantwortete er seine eigene Frage. »Wenn Sie mich eines Tages als Ihren Diener Freitag nach New York beordern, kann er sich auch einmal mit meinen Fettpölsterchen beschäftigen.« Er kniff sich in die Taille. »Allerdings habe ich gehört, dass nur noch Fettabsaugen hilft, wenn man die dreißig erst mal überschritten hat«, fügte er hinzu. »Zeit für das Wahrheitsserum?« Er warf ihr einen Seitenblick zu. Seine Hände fuchtelten in der Luft herum, als wären sie eigenständige Lebewesen. »Ich habe mich im Internet über ihn schlaugemacht«, gab er zu. »Und es wundert mich, dass Benton ihn überhaupt in Ihre Nähe lässt. Er erinnert mich an diesen Typen in Queer as Folk. Den Football-Star. Fuhr einen Hummer und gebär- dete sich als Schwulenhasser, bis er sich mit Emmett zusammengetan hat, von dem alle sagen, dass er genauso aussieht wie ich. Vielleicht war es auch umgekehrt, denn schließlich ist er ja der Promi. Aber Sie schauen sich die Sendung wahrscheinlich sowieso nicht an.« »Weswegen sollte ich den Überbringer der Botschaft denn hinrichten?«, fragte Scarpetta. »Außerdem wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie wenigstens eine Hand am Steuer hätten. Immerhin fahren wir durch einen Schneesturm. Wie viele Becher haben Sie sich heute Morgen bei Starbucks geholt? Ich habe zwei große auf Ihrem Schreibtisch gesehen. Erinnern Sie sich an unser Gespräch über Koffein? Es ist eine suchterzeugende Droge.« »Es geht in dem ganzen verdammten Artikel nur um Sie«, beklagte sich Bryce weiter. »Und das ist wirklich sonderbar. Normalerweise werden in der Kolumne nämlich mehrere Promis auf einmal abgewatscht. Dieser Schmierfink, wer immer er auch sein mag, schleicht undercover durch die Stadt und versucht so viele Berühmtheiten abzuschießen, wie er erwischen kann. Letzte Woche war es Bürgermeister Bloomberg und, äh, wie heißt sie noch mal? Das Model, das immer wieder verhaftet wird, weil es seine Mitmenschen mit Gegenständen bewirft. Tja, diesmal ist sie selbst rausgeflogen, und zwar aus dem Elaine's, weil sie Charlie Rose gegenüber eine unanständige Bemerkung gemacht hat. Nein, Moment mal, war das vielleicht Barbara Walters?« Der Schnee erinnerte an einen weißen Mückenschwarm, der gegen die Windschutzscheibe prasselte. Die sich hypnotisierend hin- und herbewegenden Scheibenwischer waren machtlos dagegen. Es herrschte zwar zähfließender Verkehr, aber sie kamen voran. Nur noch wenige Minuten bis zum Flughafen. »Bryce?«, sagte Scarpetta in dem drohenden Tonfall, den sie immer anschlug, wenn er endlich den Mund halten und ihre Frage beantworten sollte. »Worum geht es?« »Diese widerliche Klatschkolumne im Internet. Gotham Gotcha.« Scarpetta hatte in New York Werbung dafür auf Bussen und Taxis gesehen. Der anonyme Verfasser war als böswillig verschrien. Die ganze Stadt rätselte, wer wohl dahinterstecken mochte. Ein Niemand oder ein Journalist mit Pulitzer- Preis, der einen Heidenspaß daran hatte, sich als Giftspritze etwas dazuzuverdienen? »Wirklich gemein«, fuhr Bryce fort. »Klar, ich weiß, dass das Sinn und Zweck der Übung ist, aber diesmal geht es unter die Gürtellinie. Nicht, dass ich mir sonst solchen Schund anschauen würde. Doch ich gebe Ihren Namen immer mal wieder bei Google ein, und das springt jetzt als Erstes raus. Das Foto ist das Schlimmste daran. Es ist wirklich nicht sehr schmeichelhaft.«Benton lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und betrachtete im fahlen Winterlicht die hässliche Backsteinmauer. »Du hörst dich an, als wärst du erkältet«, sagte er ins Telefon. »Ich bin heute nicht ganz auf dem Damm. Deshalb habe ich mich auch nicht schon früher bei dir gemeldet. Frag mich nicht, was wir gestern getan haben, um das zu verdienen. Gerald will gar nicht mehr raus aus dem Bett. Und das meine ich nicht im positiven Sinne«, antwortete Dr. Thomas. Dr. Thomas war eine Kollegin aus dem McLean und Bentons Psychiaterin. Daran war nichts Ungewöhnliches. Wie Dr. Thomas, die in einem Bergwerksstädtchen im westlichen Virginia aufgewachsen war, zu sagen pflegte, gab es in Krankenhäusern nicht weniger Inzucht als unter den Hinterwäldlern in der Provinz. Die Ärzte behandelten sich gegenseitig und ihre Familien und Freunde. Sie verordneten einander und ihren Familien und Freunden Medikamente. Sie gingen miteinander ins Bett - wenn auch hoffentlich nicht mit ihren Familien und Freunden. Hin und wieder heirateten sie sogar. Dr. Thomas hatte den Radiologen aus dem McLean Hospital geehelicht, der Scarpettas Nichte Lucy in dem Labor für Magnetresonanz-Computertomographie untersucht hatte, in dessen Flügel sich auch Bentons Büro befand. Dr. Thomas wusste deshalb ziemlich genau, was Benton so trieb. Sie war die Erste, die ihm eingefallen war, als er vor einigen Monaten erkannt hatte, dass er mit jemandem sprechen musste. »Hast du die Links schon geöffnet, die ich dir gemailt habe?«, erkundigte sich Benton. »Ja, und meine Frage lautet, um wen du dir größere Sorgen machst. Ich glaube, die Antwort ist: um dich selbst. Was meinst du?« »Ich fürchte, das wäre ausgesprochen egoistisch von mir«, erwiderte Benton. »Es ist ganz normal, dass du dich wie ein Hahnrei fühlst«, entgegnete sie. »Ich hatte ganz vergessen, dass du im früheren Leben Shakespeare-Darstellerin warst«, gab Benton zurück. »Den Begriff Hahnrei habe ich schon lange nicht mehr gehört. Aber damit liegst du falsch. Kay ist nicht einem anderen Mann in die Arme gesunken, sondern es war Gewalt im Spiel. Wenn ich mich betrogen hätte fühlen sollen, dann damals, als es passiert ist. Aber ich habe mir viel zu große Sorgen um sie gemacht.« »Ich möchte nur anmerken, dass es damals ohne Zeugen geschehen ist«, wandte Dr. Thomas ein. »Vielleicht wird es realer, bedrohlicher, wenn alle davon erfahren? Hast du ihr erzählt, was im Internet im Umlauf ist? Oder hat sie es schon selbst gesehen?« »Ich habe nichts gesagt, und gesehen hat sie es sicher nicht. Dann hätte sie mich bestimmt angerufen, um mich zu warnen. So ist sie nämlich.« »Warum hast du es ihr verschwiegen?« »Es war der falsche Zeitpunkt«, entgegnete Benton. »Für dich oder für sie?« »Sie war gerade im Autopsiesaal«, erklärte Benton. »Ich wollte es ihr unter vier Augen mitteilen.« »Lass uns alles noch einmal durchgehen, Benton. Du hast, wie ich annehme, bei Tagesanbruch mit ihr telefoniert. Das tut ihr doch immer, wenn ihr getrennt seid.«