LIEBSTE Mama. Schon falsch. Noch einmal.
Liebe Mama. Hab ich nie zu ihr gesagt, auch nicht als Kind.
Nichts als Heuchelei, so ein Anfang. Vergiß es. Am liebsten würde ich das alte Heft durchs Zimmer pfeffern.
Noch einmal.
Mama. Richtig. Es gab eine Zeit, da wolltest du, daß ich Dich Mutter nannte. Aber daran konnte ich mich nie gewöhnen.
Weil ich dann Vater hätte sagen müssen, und das wäre ein Witz gewesen. Mein eleganter, mürrischer Papa in seinem leicht zerknitterten, naturfarbenen Leinenanzug ein Vater? "Emily, willst du eine Ohrfeige?" Ich rief sofort: "Ja, Papa, ja." Dann sein Schmunzeln. Und Du, Mutter, Du kehrtest wie so oft stirnrunzelnd Deine Würde hervor, Deine Rolle der in einigem Wohlstand lebenden Dame, unglücklich verheiratet mit einem englischen Ingenieur, weil Du mich erwartet und auch zur Welt gebracht hast, eine kleine Prinzessin, ich, Deine Emily.
Vielleicht sollte ich es einfach dabei bewenden lassen. Adieu, Mama, und basta.
Aber ich habe mir diesen elenden Auftrag gegeben. Frag mich nicht, warum. Weil ich etwas hinterlassen will, ein vergiftetes Geschenk. Und da ich weder Freunde noch Verwandte habe, jedenfalls nicht von der Sorte, daß ich ihnen mein Lamento aufhalsen möchte, komme ich nach der ganzen Zeit auf Dich zurück. Nein, ich will Dich nicht in Frieden sterben lassen.
So wie Du mich nicht in Frieden hast leben lassen.
Vor zwei Jahren habe ich Dir zum Geburtstag ein Buch
geschickt. Ich habe es vom Buchhändler verpacken und versenden lassen. Ohne Widmung, ohne Absender, ohne ein Lebenszeichen. Einen Monat später bekamst Du die Gehirnblutung und mußtest ins Krankenhaus. Die Kraft des Wortes.
Das Buch war nicht gerade berauschend, aber durchaus passend. Es handelt von dem schaudererregenden Verhältnis zwischen Joan Crawford und ihrer Tochter. Von Dir und mir.
Mommy dearest lautet der Titel. Auf dem Umschlag ist das Foto aus dem Western Johnny Guitar, dasselbe wie auf dem Plakat, das in meinem Zimmer hing. Mit Klebeband befestigt. Nur keine Reißzwecken. Kein Loch in meiner Ikone. Hast Du das längst vergessen? Ich bildete mir ein, Joan Crawford ein wenig zu ähneln, vor allem jedoch, daß sie meine Freundin wäre. Ich küßte das Plakat, das verschlossene Gesicht mit den markanten Wangenknochen, den dichten Augenbrauen, den scharlachrot geschminkten, vollen Lippen.
"Die hat ja weder Po noch Busen", sagtest Du in jener Zeit höhnisch.
"Ein Brett", sagtest Du in jener Zeit, als Du über mich herrschtest.
Ich wollte ein Brett sein. Es ist mir nicht gelungen, denn ich habe Deinen Körperbau, das Üppige, Wogende.
Das Plakat verschwand, als ich hörte, daß Joan Crawford durch ihre Hochzeit Mrs. Pepsi-Cola geworden war. Über Geld rümpften wir die Nase in diesen orthodoxen Jahren.