1
Die einzige intakte Erinnerung aus meiner Kindheit ist eine Voraus- deutung dessen, was später auf uns zukommen sollte.
Unser Leben war einfach, es endete dort, wo das Dorf endete; seine Begrenzungen waren der Wald, die Straße, die in die Stadt führte, und die Obstgärten an den Berghängen. Dahinter gab es keine andere Welt, in der wir hätten leben können.
Mirko und ich waren sechs Jahre alt, wir spielten in Freiheit, wo immer wir wollten, und waren unzertrennlich, zwei Flügel derselben Lunge. Eines Tages saßen wir vor unserem Haus. Da sagte Mirko: "Es wird Krieg geben, und wir werden alle weggehen."
Wir wussten nicht, was Krieg war, für uns war er nur ein geflüstertes Wort, das die Macht besaß, die Erwachsenen unsicher und böse werden zu lassen.
Ich stand auf und schrie ihn an: "Es wird keinen Krieg geben, und wir gehen auch nicht weg!"
Auch Mirko stand auf. "Doch, wird es! Wir gehen weg, sonst bringen sie uns um!" Er packte die ganze Enttäuschung darüber, dass er mich nicht schlagen durfte, in seine geschlossenen Fäuste und rannte weg. Er stürzte sich auf die Hühner, die in der Nähe herumpickten, und erschreckte sie so, dass sie in alle Richtungen flüchteten wie Spinnen aus einem Loch.
Zu Hause fragte ich meine Mutter, ob das stimmte, ob es wirklich bald Krieg geben würde, und sie sagte: "Nein. Hier ins Dorf wird er nie kommen."
Ich habe ihr geglaubt.
2
"Bleib wach."
Die Wärme des Ofens erfüllte das ganze Zimmer, und ich war eingenickt. "Nicht schlafen." Diesmal rüttelte meine Mutter mich an der Schulter. "Das schaff ich nicht."
"Lass die Tür nicht aus den Augen. Sie können jeden Moment kommen."
In der Dunkelheit suchte ich nach der hellen Öffnung.
Wir schliefen alle in einem einzigen Zimmer am Boden, auf dünnen
Schaumstoffmatratzen. Mein Vater war dabei, ein größeres Haus ganz für uns alleine zu bauen, aber es war noch nicht fertig, und so wohnten wir bei den Großeltern, während wir auf das Ende der Bauarbeiten warteten. Auch Tante Mejra war da und mein Cousin Samir, zwei Jahre jünger als ich.Wenn meine Portion Milch auf dem Herd stand, ging Samir zu Groß- vater und bettelte so lange, bis der ihm die Hälfte davon gab. Es war nicht so, dass unser Großvater mich nicht geliebt hätte, aber mein Cousin Samir war als Junge auf die Welt gekommen, und im Dorf ist ein Junge einfach mehr wert. Meine Mutter regte sich jedes Mal darüber auf, und dann verlängerte Großmutter meine Portion heimlich mit Wasser. Einmal bekam ich Durchfall und musste ins Krankenhaus. Da nahm meine Mutter sie beiseite und sagte zu ihr: "Du darfst das nicht mehr machen." Dann fasste sie sich ein Herz und ging zu Großvater: "Die Milch ist für das Mädchen." Das war eine heldenhafte Aktion für sie: Sie war damals jünger als ich jetzt und hatte weniger Meinungen und Wünsche, und schon immer hatte sie sich wie zu Besuch in ihrem eigenen Leben gefühlt. Das habe ich erst lange Zeit und viele Zornausbrüche später begriffen, als der Schrecken bereits den Sinn aller Dinge hinweggefegt und uns am Boden zerstört zurückgelassen hatte.
Ich hörte, wie meine Mutter herumlief und versuchte, alles, was nur irgendwie ging, in einen Koffer zu packen. Großmutter half ihr und musste ab und zu weinen, dann umarmten sie sich.
"Wo wollt ihr denn hin? Hier sind doch alle eure Sachen, die Gefriertruhe ist voller Fleisch und Gemüse. Hier geht es uns doch gut."
"Dein Sohn hat gesagt, dass wir wegsollen. Wenn die Wogen sich glätten und ich in einer Woche wieder nach Hause kann, soll ´s mir recht sein, aber jetzt muss ich gehen."
Mein Vater arbeitete im Ausland. Immer wenn er nach Hause kam, brachte er mir neue Puppen mit, die so schön waren, dass man meinen konnte, sie wären lebendig. Im Dorf hatte aber niemand solche Puppen, deshalb vergrub ich sie immer gleich im Garten, an einem geheimen Ort. Sie waren mein vergrabener Schatz, und niemand durfte sie anfassen, Samir nicht, Mirko nicht, und erst recht nicht die anderen Kinder aus dem Dorf.
Babo, so nannte ich meinen Vater, hatte am Telefon zu Mama gesagt: "Geh aufs Grundbuchamt und hol dir die Besitzurkunde für unser Haus und das Grundstück. Und die Papiere von dir und der Kleinen. Und die Fotos. Den ganzen Rest kannst du dalassen."
Er würde direkt hinter der Grenze auf uns warten - er könne uns nicht abholen kommen, weil sie die Grenzen bald schließen würden. Wir müssten uns alleine auf den Weg machen. Meine Mutter war schwanger.