Mein Name ist Steffen Schröder. Ich bin sechsundvierzig Jahre alt.
Mein Geld verdiene ich als Privatdetektiv. Die Geschichte, die ich erzählen möchte, beginnt an einem Tag im September in Meißen. Die Sonne strahlte freundlich auf Meißen nieder. Das Wetter konnte nicht besser sein an diesem Weinfest-Wochenende.
Für alle, die noch nie im Leben in Meißen gewesen waren, sei gesagt, dass Meißen eine herrliche Altstadt hatte, wunderbar sanierte Gebäude aus dem Mittelalter, eine herrschaftliche Burg, die davon zeugte, dass Meißen im 15. Jahrhundert der politische und religiöse Mittelpunkt von Sachsen gewesen war. Nach der Wende befand sich die Stadt in einem erbärmlichen baulichen Zustand. Doch Gott sei Dank gab es im realen Sozialismus nie Geld genug, um die alten Gebäude zu verunstalten. Und so erstrahlte die Altstadt heute, nach fünfundzwanzig Jahren gekonnter Sanierungsarbeiten, in einem feinen Gewand. Über die alten, gepflasterten Gassen und die vielen kleinen Pfade konnten die Touristen durch die Stadt wandern und dabei jede Menge heimliche, romantische Flecken finden. Nur wusste kaum ein Tourist davon. Die Verwaltung der Stadt hatte sich einfallen lassen, neben einem dezentral errichteten Busparkplatz einen Lift zu bauen, der die Touristen auf die Burg schaffte, ohne dass sie die Stadt erwandern mussten. Schön, der Lift war eine komplette Fehlkonstruktion und blieb schon mal gerne auf halbem Wege stecken. Das hielt aber die Busunternehmen keineswegs davon ab, ihn immer wieder anzusteuern. Ein weiterer Schachzug extrem nachhaltiger Stadtplanung war die Errichtung eines Einkaufszentrums im Herzen der Stadt, den so genannten "Neumarktarkaden", die jede Menge Kaufkraft aus der Altstadt abzogen. Das hatte zur Folge, dass es viel Ladenleerstand zu bestaunen gab. So mancher Tourist, der sich trotz Lift durch die Stadt auf den Weg zur Burg machte, schüttelte verwundert den Kopf. Dennoch waren alle Verantwortlichen in Verwaltung und Stadtrat ausgesprochen stolz auf ihre planerischen Leistungen. Irgendwie war Meißen eine hinreißende, mittelalterliche Stadt, die als Verkleidung für einen Kleingartenverein inklusive Karnickelzuchtabteilung herhalten musste. Die Einheimischen störte das keine Bohne. Ihr Blick auf sich selber und die Stadt war seltsam getrübt. Das galt auch für Höhepunkte der Geselligkeit, wie es zum Beispiel das Weinfest war. Zu diesem Anlass wurde die Stadt überflutet von strammen Zechern und Feierlustigen, die sich von Freitagabend bis Sonntagnachmittag durch die Gassen quetschten, den Marktplatz und die vielen anderen kleinen Plätze zum Kochen brachten. Musik an allen Ecken und Enden, Pizzabäcker, Bratwurststände, Crépes, Weinstände und jede Menge Bierbuden. Ja, auch beim Weinfest gab es Absurdes in diesem schönen Städtchen. Ein Großteil der Zecher füllte sich mit billigem Wein ab, gekauft im Supermarkt um die Ecke. Echter Meißner Wein ist richtig teuer. Eines muss man wissen: Wein wird hier seit über 800 Jahren angebaut. Meißner Wein war neben dem Porzellan der Stolz der Einheimischen. Unantastbar. Fast eine Religion. Man musste an ihn glauben. Zugegeben, es gab in Meißen innovative Winzer, die einen wirklich leckeren Tropfen kelterten. Es gab aber auch eine Menge Weine aus Meißen, die mit einem guten, preiswerten Wein von Aldi oder Lidl nicht mithalten konnten. Wie auch immer, ob guter oder mittelguter Wein, auf dem Weinfest waren alle gleich. Denn die Besucher hatten nur eines im Sinn: Saufen bis zur Besinnungslosigkeit. Ob es nun Wein war, oder Bier, oder gar Wodka, den es an einem Russenstand zu kaufen gab, der sich immer großer Beliebtheit erfreute.
Ich war mit meinem Auftraggeber, einem Herrn Wellenbrinck, seiner Frau und seinen besten Freunden auf dem Weinfest unterwegs. Wir hatten in einem griechischen Restaurant mit dem schönen Namen 'Goldener Ring' zu Abend gegessen und nun ließen wir uns mit den Menschenmassen durch die Altstadt treiben, hoch und runter. Hier spielte ein Duo Country-Musik, dort gab es irische Folkmusik, an der nächsten Bühne schüttete ein Mann am Keyboard Schlager über der Menge aus. Auf dem prall gefüllten Marktplatz auf der Hauptbühne parodierte jemand Roland Kaiser. Eben das ganze Programm deutscher Hochkultur. Ich entführte meine Gäste in Bahrmanns Keller, wo die 'Jindrich Staidel Combo' richtig gute Musik darbot. Bei Bahrmanns Keller handelte es sich um die unterirdischen Kühlräume einer Brauerei, die es schon lange nicht mehr gab. Die Stimmung in dem großen Kellergewölbe war echt Spitze. Hier erreichte sie auch für den anspruchsvollen Weinfestbesucher ihren Höhepunkt. Denn die 'Jindrich Staidel Combo' spielte zu bekannten Melodien Blasmusik im Polka-Rhythmus. Das klang dann zum Beispiel so: "Oppladki Oppladka Becherovka, und mir gett es widder gutt!"
Für mich war die ganze Angelegenheit eine irgendwie schräge Show. Wellenbrinck hatte mich angeheuert, seine besten Freunde auszuspionieren. Ich hatte diesen Auftrag von Beginn an für absurd gehalten. Das Schicksal sollte mir auf schmerzhafte Weise Recht geben. Wie auch immer, Wellenbrinck hatte darauf bestanden, diese Schnapsidee von Auftrag mit seiner Geburtstagsfeier auf dem Weinfest in Meißen zu beschließen. Wieso nun gerade in Meißen, blieb sein Geheimnis.
Wir taumelten also über das Weinfest und irgendwann gegen Mitternacht verabschiedete sich Wellenbrinck von mir und marschierte mit seinen Freunden in Richtung seines Wohnmobils, das er am Elbufer geparkt hatte. Ich war heilfroh, die Bande losgeworden zu sein und begab mich in mein Hotelzimmer im "Hotel zum Schlossberg", wo ich mir mit dem Betreiber noch ein paar schöne böhmische Biere genehmigte, ehe ich in einen friedlichen Schlaf fiel.
Mein Telefon klingelte um vier Uhr in der Nacht. Reichlich verschlafen nahm ich das Gespräch entgegen.
"Hier Gläser", schnauzte die Stimme am anderen Ende der Leitung,
"Na, Schröder, schön ausgeschlafen?"
"Woher weißt du denn, dass ich in Meißen bin?"
"Hellseherische Fähigkeiten, hahaha."
"Ja, hahaha, was willst du, Gläser?"
Horst Gläser war Polizist. Genau gesagt arbeitete er bei der Mordkommission in Dresden. Ich kannte ihn aus unserer gemeinsamen Zeit in Frankfurt. Wenn der mitten in der Nacht anrief, bedeutete es nichts Gutes.
"Ist ein Mandant von mir: Warum fragst du?"
"Der ist mausetot. Liegt in seinem Wohnmobil im Bett und hat ein rundes Loch in seinem Schädel. Ist wohl besser, dass du deinen Arsch hierher bewegst."
Da konnte ich nur zustimmen. Ich sprang also in meine Klamotten und lief zu Fuß die paar hundert Meter vom Hotel zum Elbufer.
Hier fand ich das gesamte Programm vor: Mehrere Polizeifahrzeuge, Krankenwagen, Leichenwagen, Absperrbänder, Scheinwerfer, die das Wohnmobil und die Elbe in helles Licht tauchten. Gläser kam mir entgegen. Er sah aus wie immer und ich fragte mich, ob er außer dem alten, schlabberigen Mantel noch über ein anderes Kleidungsstück verfügte. "Komm mal mit.", empfing er mich, hob das Absperrband in die Höhe und ich marschierte hinter ihm her zum Wohnmobil. Auf dem großen Doppelbett lag Wellenbrinck, komplett angekleidet, und hatte das ganze schöne seidene Bettzeug mit seinem Blut und jeder Menge seiner intelligenten Gehirnmasse versaut. In seiner rechten Hand hielt er einen alten Armeerevolver. Auf seinem toten Gesicht war von dem mir bekannten überheblichen Grinsen nichts mehr zu sehen. So wie ich ihn kennen gelernt hatte, hatte er sich wahrscheinlich in einem Anflug von Sarkasmus selbst um die Ecke gebracht. Der Gerichtsmediziner hantierte an ihm herum und zwei Jungs von der Spurensicherung waren dabei, Fingerabdrücke zu suchen, und was man noch so finden konnte.
"Wo stecken denn seine Frau und die Freunde, mit denen er heute auf dem Weinfest unterwegs war?", fragte ich Gläser. Der zuckte mit den Schultern. "Keinen Schimmer. Ein Anwohner hat einen Schuss gehört und den Notruf angerufen. Die örtlichen Kollegen haben nur die Leiche gefunden. Weißt du, wo diese Freunde von Wellenbrinck in Meißen übernachten?"
Wusste ich und sagte es Gläser. Der schickte daraufhin einen Streifenwagen los. Die Polizisten fanden die Freunde samt Frau Wellenbrinck in der Hotelbar des "Welcome Hotels" beim fröhlichen Zechen. Gläser und ich setzten uns in sein Auto und wir fuhren ebenfalls zu dem Hotel, wo wir eine heulende Ehefrau und die durch den Schock fast wieder nüchternen Freunde in der Lobby antrafen. Gläser bestellte eine Kanne mit starkem Kaffee.
Dann begann das übliche Frage- und Antwortspiel.