Der X. und abschließende Tagungsband der Konferenzreihe "Historische Soziolinguistik
des Deutschen" bietet zwölf der dreizehn in Pécs, einer der Weltkulturhauptstädte
des Jahres 2010, Sitz der ältesten Universität Ungarns mit einer
Germanistischen Linguistik, deren Mitglieder sich durch qualifizierte Forschungen
zur deutschen Minderheitssprache ausgewiesen haben, gehaltenen Referate
und einen Überblick über die in den Bänden I-X (1992-2011) publizierten Artikel.
Die meisten Referenten nehmen darin explizite das Generalthema auf.
Eingeleitet wurde die Tagung mit einem Abriss des in Tagungsbeiträgen
bis ins 13. Jahrhundert zurück verfolgbaren fortlaufenden Demokratisierungsprozesses
der deutschen Schrift- bzw. Literatursprache (Gisela Brandt), der nicht
nur von männlichen Berufsschreibern getragen wird, sondern auch von Männern
und Frauen, die berufsbegleitend oder nur gelegentlich schreiben. Besonders
betont wurde, dass ihr Ausbau zu einem polyfunktionalen Kommunikationsmittel
durch den sukzessiven Eintritt weiterer und schließlich aller sozialen Gruppen
des deutschen Volkes in z. T. schriftlich geführte Diskurse erfolgte. Hervorgehoben
wurden Forschungsberichte, die zeigen, wie durch Erschließung neuer
Quellen spezielle Ausbaubeiträge erschlossen werden können und ein adäquateres
Bild der Geschichte der heute übernationalen Sprachform möglich wird.
Mehrere Referenten verwiesen auf Erfolg versprechende diskursive Ansätze
der linguistischen Erschließung und Bewertung von Texten. Rainer Hünecke
geht den Weg über virtuelle Diskursskizzen, die institutionsgebundenes
Sprechen und Schreiben in situativer Einbettung erfassen. Sie führen u. a. zu den
beteiligten Personen und zu diskursmarkierten funktionalen Schrift-Textsorten,
deren strukturelle Eigenarten Auskunft über Sprach- und Textsortenwissen sowie
über Qualitäten des Sprachgebrauchs der Diskurspartner geben.
Krystina Waligóra zeigt am Beispiel von Krakauer Zunftordnungen, wie
in diesen Texten deutlich sichtbar Sprachformen der am institutionellen Diskurs
darüber beteiligten Personen zusammenfließen, Berufsschreiber, Zünfte und
Stadträte ihr Sprach- und Textwissen über Textbausteine einbringen.
Nikolai Bondarko verfolgt anhand der deutschsprachigen Überlieferung
des Augsburg-Regensburger Franziskanerkreises im 14. Jahrhundert den durch
die päpstliche "Regula Bullata" initiierten Gehorsamsdiskurs durch die Ordensinstanzen
und mehrere Textsorten. Er zeigt, wie die Bedeutung des komplexen
lexikalischen Stereotyps Gehorsam/Gehorsam tun/gehorsam sein mit der Ein4
führung in neue funktionale Kontexte durch Ordensmitglieder unterschiedlichen
Ranges kontinuierlich entfaltet wird.
Ineta Balode beobachtet, wie die Einbindung in christliche Religionsgemeinschaften
und Kirchgemeinden Inhalt und Form von Geburts-, Heirats- und
Todesanzeigen in privaten Aufzeichnungen von deutsch-baltischen Kaufleuten,
Gelehrten und adligen Grundbesitzern des 16. bis 18. Jahrhunderts beeinflusst
und die Stereotypie dieser Textsorten begründet.
Und Zsuzsanna Gerner diskutiert die diskursive Entstehung sprachlicher
Identitäten bzw. Patchwork-Identitäten von Angehörigen der deutschen Minderheit
im heutigen Ungarn im Zusammenhang mit deren Integriertsein in sehr unterschiedliche
Institutionen (Familie, Schule, Freundeskreis, Kirchgemeinde,
Klub, Fangemeinschaft u. a.).
Oliver Pfefferkorn verweist auf die Notwendigkeit, gängige Textsortenzuweisungen
durch strukturelle Textanalysen zu hinterfragen, Britt-Marie
Schuster darauf, dass es an der Zeit ist zu überprüfen, wie weit die seit Ende des
19. Jahrhunderts angestrengten Orthographiereformen im privaten Schriftverkehr
greifen. Edyta Grotek informiert über den Wandel von Berufsbezeichnungen.
Birgit Christensen, Anna Just und Kirsten Sobotta treiben die Erschließung,
Beschreibung und Bewertung des weiblichen Sprachgebrauchs voran.
Mit Spannung wurde der Beitrag von Elisabeth Berner über die Reflexion
historisch-soziolinguistischer Forschungen, die ja seit der zweiten Hälfte des
vorigen Jahrhunderts nicht nur mit Bezug auf geschriebenes Deutsch, sondern
auch mit Blick auf die diastratische Struktur des Deutschen intensiv betrieben
wurden, in Sprachgeschichtslehrbüchern. Bedauerlicherweise zu wenig und weit
hinter dem Forschungsstand - so ihr Bescheid nach Durchsicht von sechs seit
2005 erschienenen Überblicksdarstellungen. Dieses Fazit ist ernüchternd, aber
nicht entmutigend, jedoch Grund genug, nach effektiveren Wegen des wissenschaftlichen
Gedankenaustausches Ausschau zu halten.
Reihe
Sprache
Zielgruppe
Maße
Höhe: 21 cm
Breite: 14.8 cm
Gewicht
ISBN-13
978-3-88099-459-1 (9783880994591)
Schweitzer Klassifikation
Vorwort
Gisela Brandt, Berlin
Soziale Gruppe, Mann und Frau als Subjekte deutscher Sprachgeschichte im Spiegel der Beiträge zur Konferenzreihe "Historische Soziolinguistik"
Elisabeth Berner, Potsdam
Die historisch-soziolinguistische Forschung im Spiegel aktueller Sprachgeschichts-Lehrbücher
Rainer Hünecke, Dresden
Möglichkeiten und Grenzen historischer Soziolinguistik, dargestellt am Beispiel sprachlichen Handelns im Diskurs der freiwilligen Gerichtsbarkeit im 15. Jahrhundert
Nikolai A. Bondarko, St. Petersburg
Geistliche Erbauung und institutionelle Normgebung: zur funktionalen Differenzierung der Sprache des Regensburg-Augsburger Franziskanerkreises
Oliver Pfefferkorn, Mannheim/Trier
Die Arithmetica Hi?torica von Sigismund Suevus. Rechenbuch oder Erbauungsbuch?
Krystyna Waligóra, Kraków
Soziofunktionale Zielstellungen der deutschen Sprachgeschichtsschreibung erörtert mit Bezug auf juristische Textsorten und Kleinpolen an Quellen des 14., 15. und 16. Jahrhunderts
Ineta Balode, Riga
Mit soziolinguistischen Studien zu einem differenzierteren Bild der deutschen Sprachgeschichte im Baltikum. Aufarbeitung von privaten Nachlässen aus dem 16. bis 18. Jahrhundert
Anna Just, Warszawa
Linguistische Aspekte der brieflichen Kommunikation von Männern und Frauen des deutschen Adels (1546-1600) - ein Beitrag zur regionalen Sprachgeschichtsschreibung Niederschlesiens
Birgit Christensen, Vanløse
Ein neuer Blick auf die Sprachverhältnisse in Tønder und Umgebung: Die Schreib- und Sprachkenntnisse von Frauen im 17. Jahrhundert
Britt-Marie Schuster, Paderborn
Orientierung an der sich durchsetzenden Norm oder Beibehaltung des individuellen Schreibusus? Beobachtungen zu grafischen Varianten in Tagebüchern um 1900
Edyta Grotek, Torun
Sozialgeschichte als Bezugsrahmen für die Redefinition und Entstehung landwirtschaftlicher Berufsbezeichnungen aus dem 19., 20. und 21. Jahrhundert
Kirsten Sobotta, Magdeburg
Sprache als Medium der Identitätskonstruktion oder: Wie sprechen bzw. schreiben Frauen über sich selbst?
Zsuzsanna Gerner, Pécs
Zum Verhältnis von Sprache, Sprechen und Identität (mit Blick auf die deutsche Minderheit in Ungarn)
Historische Soziolinguistik des Deutschen [I] - X
Überblick über die 1994 - 2011 erschienenen Konferenzbände und Beiträge