Kapitel 1
'Ich weiß, du kannst es nicht leiden, aber es ist wichtig.' Stefan Eisner lächelte seinen Nachhilfeschüler aufmunternd an. 'Sag bitte die drei Binomischen Formeln auf!'
'Das behauptet mein Mathe-Lehrer auch immer, dass es wichtig ist, aber ich verstehe den Grund immer noch nicht.' Auf Jans Stirn bildete sich eine Unmutsfalte. 'Für mich klingt es nach blöder Auswendiglernerei, damit kann ich nichts anfangen.'
'Ja, Mathe ist manchmal auch Auswendiglernen, aber zum Glück nur selten, denn ich mag das auch nicht.' Stefans Miene wurde wieder ernst. 'So ein paar Sachen wie die Binomischen Formeln oder eben die Mitternachtsformel gehören einfach dazu. Genaugenommen auch der Satz des Pythagoras, aber bei dem kommt es dir doch schon gar nicht mehr so vor, den hast du nämlich inzwischen intus.'
'Stimmt.' Jetzt grinste Jan und dozierte: 'Die Summe der Kathetenquadrate entspricht dem Quadrat über der Hypotenuse. Wenn wir die üblichen Formelzeichen verwenden, sagen wir oft auch >C-Quadrat gleich A-Quadrat plus B-Quadrat<.'
'Sag ich doch.' Stefan nickte. 'Den hast du intus.'
'Aber die Binome wollen einfach nicht in meinen Schädel. Schon allein dieser blöde Name bereitet mir Kopfschmerzen. Und wozu die Dinger gut sein sollen, ist mir immer noch nicht klar.'
'Ihr macht doch gerade auch die Parabel, oder nicht?'
Jan nickte und setzte mit stolzem Unterton dazu: 'Die hab ich sogar halbwegs kapiert!'
'Dann sag mir mal, wie du die Lage des Scheitelpunkts ermittelst, ohne dass du eine Zeichnung hast, also nur aus der Parabelgleichung heraus.'
'Na, mit der Scheitelpunktform der Gleichung. Aus der kann ich den Scheitelpunkt einfach ablesen.'
'Sehr gut. Und was machst du, wenn die Gleichung nicht in der Scheitelpunktform vorliegt?'
'Umformen, ist doch klar.'
'Richtig.' Stefan nickte zufrieden. 'Aber dazu brauchst du etwas Bestimmtes.'
'Die . die quadratische Ergänzung?'
'Genau! Und damit die nicht in die Hose geht, musst du die Binome können.'
'Ach so.' Jetzt klang Jan ein wenig enttäuscht. 'Also gut, ich versuch's: A plus B in Klammer zum Quadrat ist .'
In diesem Moment läutete es an der Tür der kleinen Wohnung, in der Stefan Eisner lebte, seit er bei seinem Vater ausgezogen war, weil er mit dessen neuer Lebensgefährtin einfach nicht warm wurde.
Stefan öffnete. Vor der Tür stand Julia Markwardt, eine Schülerin aus der 9a der Realschule 'Benedict Thurm', die er während seines FSJ im Jugendwohnheim der Thurmschen Stiftungen kennengelernt hatte. Julia lebte dort seit dem Tod ihrer Eltern.
'Stör ich?', fragte das Mädchen und versuchte dabei, an Stefan vorbei einen Blick auf das Innere seiner Wohnung zu erhaschen.
'Nicht wirklich.' Stefan lächelte. 'Ich habe zwar gerade einen Nachhilfeschüler da, aber die Stunde ist eigentlich schon zu Ende. Komm doch rein.'
'Hi, Julia!', wurde sie von Jan begrüßt, als sie das Wohnzimmer betrat. 'Du hast mich vor den Binomen gerettet.'
'Hi, Jan', antwortete Julia mit einem schiefen Grinsen, das sofort wieder von ihrem Gesicht verschwand, als sei es nie dagewesen. 'Da hast du wohl nochmal Glück gehabt. Aber wie ich Stefan kenne, wird er dich nächstes Mal wieder damit malträtieren, also ist es nur aufgeschoben.'
'So sieht's aus.' Stefan grinste breit. 'Mathe hat nämlich auch etwas mit Nachhaltigkeit zu tun.'
Julia und Jan war deutlich anzusehen, was sie davon hielten, und letzterer beeilte sich, seine Sachen zusammenzupacken und zu verschwinden. Mit einem 'Bis Freitag, Stefan!' flitzte er zur.