Der Geweihaufbau des Rothirschs (Cervus elaphus L.) folgt einem allgemeinen Bauplan, wobei es beim selben Individuum zu erheblichen phänotypischen Unterschieden der Geweihmerkmale von Jahr zu Jahr kommen kann. Die Variabilität unterschiedlicher Geweihmerkmale in Abhängigkeit vom Alter, der Seite, der Herkunft und der bestehenden Umweltbedingungen wurde bereits in einer Vielzahl an Arbeiten untersucht. Bisher wurden allerdings nur Vergleiche einer begrenzten Anzahl an Geweihparametern, vor allem der CIC-Merkmale, durchgeführt. Darüber hinaus stammten die Geweihe und Abwurfstangen bisheriger Studien von unterschiedlichen Hirschen. Ziel der vorliegenden Arbeit war es, Abwurfstangen-Reihen zu vergleichen und die Variabilität der Stangenmerkmale in Abhängigkeit von Tier, Alter, Seite und Herkunft zu untersuchen, um die Konstanz der verschiedenen Geweihmerkmale und deren Beeinflussbarkeit durch Umweltbedingungen quantifizierbar zu machen.
Ausgangspunkt der hier vorgelegten Studie waren insgesamt 377 Abwurfstangen und 10 Geweihe von insgesamt 35 verschiedenen Rothirschen. Zur Validierung der Zugehörigkeit zum selben Hirsch wurden Bohrproben aller Stangen und Geweihe untersucht. Die DNA-Isolierung aus den Knochenspänen erfolgte hierbei mittels Isolations-Kit. Aus den DNA-Proben konnten mit 16 Mikrosatelliten in 4 Multiplex-Ansätzen PCR-Amplifikate gewonnen werden. Im Anschluss erfolgten eine Kapillarsequenzierung und Elektrophorese der fluoreszenzmarkierten PCR-Produkte. Die Genauigkeit der phänotypischen Zuordnung der Stangen zum selben Hirsch lag bei 95 %. Mittels handgeführtem Scanner wurden von Geweihen und Abwurfstangen 3D-Modelle erstellt, die anschließend mittels CAD-Programm vermessen wurden. So flossen insgesamt pro Stange 93 gemessene oder errechnete Parameter in die statistische Auswertung mit ein. Diese erfolgte mit Hilfe eines verallgemeinerten linearen Modells unter Berücksichtigung der Effekte Hirsch, Herkunft, Alter und Seite. Die Verteilung der Werte wurde dabei berücksichtigt.
Von allen untersuchten Merkmalen zeigten sich die Abstände zwischen den Spitzenpunkten von Aug- und Eissprosse, von Aug- und Mittelsprosse sowie von Eis- und Mittelsprosse, die Abgangswinkel der Hauptsprossen, die direkten Abstände zwischen den Knotenpunkten von Aug- und Eissprosse, von Aug- und Mittelsprosse sowie von Eis- und Mittelsprosse, der Knick der Hauptstange am Abgang der Mittelsprosse, der Winkel der Augsprosse zur Ebene aus den Knotenpunkten von Mittel- und Augsprosse sowie dem Punkt auf der Mittelsprosse bevor die Biegung beginnt, die relativen Längen der Hauptsprossen zur Stangenlänge, das spezifische Gewicht, der Anteil der Stangen mit Eissprosse, der Quotient aus dem genauen und dem groben Rosenumfang, die Biegung der Eissprosse von der Seite und von oben und die Krümmung der Hauptstange als die konstantesten Merkmale. Diese zuvor genannten Merkmale zeichnen sich durch eine hohe durch den Hirscheffekt und niedrige durch den Alterseffekt erklärte Varianz aus und sind demnach besonders gut geeignet, um Hirsche voneinander zu unterscheiden. Dagegen stellten sich die Augsprossenlänge nach CIC, die direkte Länge vom Knotenpunkt zum Spitzenpunkt der Augsprosse, der Umfang der Mittelsprosse, der obere Stangenumfang nach CIC, der geringste Umfang zwischen Mittelsprosse und Kronenbasis, das Gewicht, die Farbe sowie Perlung und Spitzen nach CIC als die variabelsten Merkmale dar. Diese Merkmale sind gekennzeichnet durch eine hohe Altersabhängigkeit und einen marginalen Effekt des Hirsches. Die Kronenmerkmale wurden insgesamt sehr wenig durch die untersuchten Effekte erklärt, was auf eine hohe Variabilität der Krone schließen lässt, deren Ursache weiterhin ungeklärt bleibt.
Ausgehend von den Erhebungen zu den Geweihmerkmalen konnten verschiedene Hypothesen getestet werden, die zum Teil selbst aufgestellt wurden und zum Teil aus der Literatur stammten. Dass die Sprossenanzahl kein guter Altersindikator ist und Winkelsprossen nicht als Wiedererkennungsmerkmal für Hirsche dienen können, konnte bestätigt werden. Die Behauptung, dass die Konvexität/Konkavität des Petschafts als Wiedererkennungsmerkmal für Hirsche dienen kann, konnte nur bedingt bestätigt werden, da sich dieses Merkmal als stark altersabhängig herausstellte. Dass das Vorhandensein einer Eissprosse variabel ist, konnte bestätigt werden, die Ausprägung der Eissprosse allerdings bleibt bis auf den Umfang, der mit dem Alter zunimmt, relativ konstant. Entgegen der Hypothese gab es keinen Zusammenhang zwischen dem Vorhandensein einer Eissprosse und dem unteren Stangenumfang. Die Behauptung, dass jagdliche Selektion die Geweihmerkmale der Population beeinflusst, konnte nur bedingt bestätigt werden, da sich nur wenige Merkmale (siehe oben) als besonders konstant herausstellten und diese damit grundsätzlich durch Selektion beeinflusst werden könnten. Die Abstände zwischen den Hauptsprossen und die Sprossenwinkel können entgegen der aufgestellten Hypothesen als Wiedererkennungsmerkmal für Hirsche dienen. Die Behauptung, dass die Krümmung der Hauptstange und der Hauptsprossen sehr variabel ist, konnte für die Hauptstange abgelehnt werden, da sich deren Krümmung als konstantes Merkmal darstellte. Für die Krümmung der Hauptsprossen dagegen konnte die Hypothese bestätigt werden. Das Vorhandensein einer geteilten Augsprosse und Mittelsprosse stellte sich entgegen der Vermutung als unabhängig vom Alter dar. Eine andere Vermutung geht davon aus, dass die Kronenform hochvariabel ist und es keine Grundform gibt. Die große Variabilität konnte hier bestätigt werden, allerdings stellte sich die Krone mit einfachem Vorderende und mehrfach gegabeltem Hinterende als eine Art Universalform dar, aus der alle anderen Kronenformen hervorgehen können. Die Sprossen unterschieden sich entgegen der angenommenen Hypothese in ihrer Abhängigkeit von der Herkunft. Dabei zeigten sich deren Längen, Umfänge, relative Längen zur Stangenlänge und Krümmungen umso stärker durch den Effekt der Herkunft beeinflusst, je weiter distal die Sprosse liegt. Ähnlich verhielten sich auch die Stangenumfänge. Entgegen der angenommenen Hypothese war der obere Stangenumfang stärker abhängig von der Herkunft als der untere Stangenumfang. Die bislang nur angenommene, mit dem Alter zunehmende Komplexität der Kronen bei ausgeprägter Variabilität, konnte erstmals wissenschaftlich belegt und quantifiziert werden.
Die Ergebnisse bringen Licht in die Eignung der vielfältigen untersuchten Merkmale zur individuellen Identifikation und zur Altersabschätzung von Individuen unter Praxisbedingungen. Die Geweihmerkmale zeigen erhebliche Unterschiede im Grad der Variation innerhalb und zwischen Individuen. Die Ergebnisse wurden erst dadurch möglich, dass von individuellen Hirschen mehrere Abwurfstangen aus mehreren Jahren zur Verfügung standen, die mittels DNA-Analyse korrekt zugeordnet werden konnten. Zusammenfassend zeigt sich, dass der genetische Bauplan der Geweihstange für bestimmte Merkmale über die Jahre überraschend stabil beibehalten wird (siehe oben - konstante Merkmale), während ein solcher Plan für andere Merkmale kaum erkennbar ist (siehe oben - variable Merkmale). Mit der in dieser Arbeit vorgenommenen Identifizierung weitgehend konstanter Merkmale bei der Entwicklung des Geweihs eröffnen sich Ansätze und Möglichkeiten für Folgearbeiten, neue Einblicke in die genetische Architektur des Geweihaufbaus zu gewinnen.