Der hagere Mann auf der Eckbank sitzt hemdsärmelig und zwirbelt gedankenverloren seinen dunklen Schnurrbart. Vor ihm auf der Tischplatte Federhalter und ein dickes, in schwarzen Karton gebundenes Heft, daneben Tintenfaß und Kaffeetasse. Die Wärme des Kachelofens kommt nur mühsam gegen die Kälte an, die durch Mauerwerk und Fensterritzen zu kriechen droht. Kein Baum, kein Strauch, keine Hecke schützen im Winter 1877 das funkelnagelneue weiße Bahnwärterhaus vor dem böigen Wind, der um alle Ecken pfeift. Die Königliche Generaldirektion der Sächsischen Staatseisenbahnen hat zwar entlang der kürzlich eröffneten Bahnstrecke Bautzen-Schandau die notwendigen Bauten für ihr Personal errichtet, aber um alles, was dem Schutz vor Witterungsunbilden oder gar der Verschönerung dient, müssen sich die Leute selbst kümmern. So ist zwar manches schon gepflanzt - wachsen wird es dann, so Gott will, im Frühjahr.
Aus der Röhre wabert der Duft von Gerstenkaffee. Vermischt sich mit dem herben Kräuteraroma eines Kränzchens über dem Türstock. Ein dunkelblauer Uniformrock hängt am Kleiderrechen neben der Tür. Sinnend betrachtet der Mann seine Hände. Breit und schwielig liegen sie jetzt beide auf dem rötlichen Kirschbaumholz. Zeugen von harter Arbeit.
Als Kühjunge, Lämmerknecht, Schäfer und Landarbeiter hat er mit diesen Händen jahrelang gerackert. Ein Gewehr haben sie auch tragen müssen - und schießen: Soldat Seiner Majestät, des Königs Johann von Sachsen, ist er gewesen. Hat drei Feldzüge mitgemacht, überlebt, geheiratet und bis dato mit seiner Frau Anna zwei Söhne gezeugt. Daß er als Kriegsveteran in den Eisenbahndienst übernommen worden ist, erscheint ihm auch jetzt noch manchmal wie ein Wunder: ein Sorbe als sächsischer Staatsbeamter! An die Schwierigkeiten, die er deshalb schon zu bewältigen gehabt hat, will er lieber nicht denken .
Nun steht er bald in seinem vierzigsten Jahr. Fühlt sich als Bahnwärter endlich beruflich gefestigt und mit der Familie hier in Lehn bei Großpostwitz wieder verankert in seiner sorbischen Oberlausitzer Heimat. Zeit also, findet er, für eine Zwischenbilanz in des Lebens Mitte - vorausgesetzt, der Herrgott wolle ihm noch etliche weitere Jahre vergönnen. Als einer, der viel herumgekommen ist, hat er auch manches zu erzählen .
Des Schreibens ist der Mann kundig, auch wenn er sich nur unsicher durch die Orthographie bewegt und deshalb sein Können selten angewendet hat. Seit er aber als Bahnwärter arbeitet, wird ihm in dieser Hinsicht manches abverlangt: Der Bahnmeister fordert regelmäßigen schriftlichen Bericht.
Muße zum Schreiben hat er - zumindest in den Wintermonaten. Nur eben diese klobigen Hände . Die Feder, ins Tintenfaß getaucht und sorgfältig abgestrichen, sträubt sich zwischen seinen Fingern und will noch nicht flüssig über das linierte Blatt gleiten.
So fällt ihm der Anfang schwer. Auch was den Fluß seiner Gedanken angeht.
Fürs erste rettet er sich in Formulierungen, die er vor langer Zeit eingeübt hat und mit denen ungezählte Lebensläufe beginnen:
"Ich Johann Zaute geboren zu Puschwitz bei Neschwitz am 22. Februar 1839, mein Vater Michael Zaute war dort Nahrungsbesitzer auch daselbst geboren. Meine Mutter Anna Zaute geborene Beker aus Lubachau bei Bautzen von diesen Christlichen Eltern wurde ich mit Liebe zu allen guten aufgezogen vorzüglich war es meine liebe gute Mutter die mich von jugend auf in Gotteswort unterichtete und mir schöne Liederverse und Sprüche lernte von denen ich heute noch die meisten weiß, meine Eltern haben 7 Kinder gehabt, von denen ich der jüngste war, 5 starben klein, unter einen Jahr, nur eine Schwester die 2.geborene Maria wurde groß. Was meinen Lebenslauf weiter betrift, so wurde ich in meinen 7ten Jahre 1845 in die Schule geschikt zu Puschwitz meine Lehrer waren Herr Kanig nach dessen versetzung kam Herr Müller der starb aber bald, nach diesem kam Herr Bär, der heute noch dort als Lehrer in Amte ist. Die Schule besuchte ich 8 Jahre lang, aus welcher ich im Jahre 1853 entlaßen und in der Kirche zu Neschwitz Palmsonntag convermirt wurde durch den Herrn Diaconus Taffel."
Aufseufzend legt er die Feder beiseite. Während er seine Rechte knetet, um die beginnende Verkrampfung zu lösen, überliest er das Geschriebene. Hat er auch wirklich alles Wichtige erwähnt? Er findet, er habe es .
Draußen fängt das Streckenläutewerk an zu bimmeln. Er erhebt sich, greift den Uniformrock vom Haken und läuft eilig aus dem Haus, um den nächsten Zug durchzuwinken.