Kapitel 1: Das Ziel
Vom Lean-Konzept zur Exzellenz
...beweist, dass es eine "beste Lösung" gibt
Kapitel 2: Der Weg
Maßnahmen, Lösungen und Tipps
...gibt Hilfestellung, wie man die beste Lösung für das eigene Unternehmen erreicht
Kapitel 3: Produkte, Prozesse, Varianten
Exzellenz bei Auftrags- und Kleinserienfertigung
...zeigt, wie "Lean" bei Kleinserien und Anlagen richtig gemacht wird
Kapitel 4: Am Puls der Fabrik
Spitzenleistung in der Serienproduktion
...liefert ein überzeugendes Beispiel aus der Serienproduktion
Kapitel 5: Bevor das Kind im Brunnen liegt
Krisenszenarien und Krisenmanagement
...macht Mut und zeigt, worauf es in Krisenzeiten wirklich ankommt
Schlusswort
. es geht um Konzentration statt "Trend-Hopping"
1.2 Schwächen und Grenzen des Systems
Nachdenken unerwünscht?
Wer sich kritisch oder auch nur nachdenklich mit dem Themenkomplex
Lean auseinandersetzt, bekommt früher oder später ein Problem. Eher früher als später.
Schnell treten nämlich selbsternannte 'Päpste' auf den Plan, die mit Stellungnah-
men und lautstarkem PR-Getöse in eigener Sache abzuwürgen versuchen, was man
früher als konstruktiven Beitrag begrüßt hätte. Ein fachlicher Diskurs ist im Reich
der Dogmen und Alleinvertretungsansprüche sichtlich unerwünscht. Das macht miss-
trauisch.
Dabei gibt es für die mangelnde Diskussionsbereitschaft gar keinen offensicht-
lichen Grund. Die positiven Effekte zahlreicher Lean-Initiativen sind kaum zu leug-
nen. Viele Unternehmen verdanken ihrer Beschäftigung mit Lean Production zunächst
eine deutliche Steigerung der Produktivität und damit eine Verbesserung ihrer Wett-
bewerbsposition. Das ist Fakt. Fakt ist aber auch, dass der Ansatz seine Grenzen hat.
Wer wirklich und nachhaltig unternehmerische Spitzenleistung erbringen will, muss
mehr tun, als seine Abläufe zu verschlanken. Mehr noch: wer die in der Produktion
durchaus angebrachten und bewährten Lean-Prinzipien allzu forsch und ungeprüft
auf andere Unternehmensbereiche überträgt, kann sich schwere Defizite einhandeln.
In diesem Sinne stößt Lean an Grenzen. Es hat aus Sicht der unternehmerischen
Praxis keinen Sinn, diese Grenzen zu leugnen, vielmehr sollte man bestrebt sein, die
Grenzen zu überwinden, um zu einem echten und anhaltenden Optimum zu kommen.
Deshalb erlauben wir uns den Luxus einer eigenen Meinung und gehen zunächst der
Frage nach, wo die Grenzen liegen.
Die DNA und anderes Blabla
Im Zusammenhang mit dem TPS wurde schon recht früh der Begriff der DNA
gebraucht. Wir wollen zwei markante Beispiele herausgreifen, um zu zeigen, wie ein
Begriff generiert und in Umlauf gebracht wird, was eine scheinbar endlose Kette von
Irrtümern auslösen kann. So erschien im Jahr 2001 beispielsweise im Harvard Busi-
ness Manager ein Artikel von Steven Spear, seines Zeichens Professor an der Harvard
Business School, der sich mit dem Management von Qualität, Sicherheit und Produk-
tivität in industriellen Fertigungsstätten beschäftigt. Der Artikel lautete 'Management
à la Toyota'. Er versteigt sich in seinem Beitrag sogar soweit zu sagen: "Wer die DNA
bei Toyota entschlüsselt hat, kann sie nicht zwangsläufig kopieren" (S. 38).
Und im Vorwort des Buches 'Der Toyota-Weg' (Liker 2006) schreibt Gary Convis,
Managing Officer von Toyota und President von Toyota Manufacturing, Kentucky, USA: "Der Toyota-Weg in Kombination mit dem Toyota-Produktionssystem bilden
Toyotas DNA. Dieser genetische Code entstand mit den Gründern unseres Unterneh-
mens und wird von unseren jetzigen und zukünftigen Unternehmensführern gepflegt
und weiterentwickelt".
Die Verwendung des Begriffs DNA ist insofern irreführend, als der ursprünglich
aus der Biochemie stammende Begriff der 'Desoxyribonukleinsäure' ein in organi-
schen Substanzen vorkommendes Kettenmolekül bezeichnet, das aus der Verbindung
unterschiedlicher Einzelstücke (Nukleotiden) besteht. Gemeint ist vermutlich, dass
dieses Molekül in allen Zellen eines Organismus in völlig identischer Form auftritt
und dass es Träger der Erbinformation ist. Daraus ließe sich dann, mehr oder weniger
elegant, die Forderung nach einer Unternehmens-DNA als gemeinsame informato-
rische Basis ableiten. Nun sind Unternehmen keine Organismen, sondern soziale
Systeme, in denen verschiedene Individuen (= Organismen) interagieren. Identische
Erbinformation hätten diese Individuen nur, wenn sie geklont, also künstlich erschaf-
fen wären. Ein solches Unternehmen aber gehört in düstere Zukunftsvisionen und
nicht in die unternehmerische Praxis.
Ergo: Die DNA von Toyota zu entschlüsseln ist nicht nur irreführend, sondern
vollkommen sinnfrei. Warum sich dennoch eine ganze Community dieser Aufgabe
zu widmen scheint, hat eher mit gezielter Desinformation zu tun als mit Erkenntnis-
interesse. Motto: 'If you cannot convince them - confuse them!'
Variantenvielfalt und Komplexität
"Ein System wie bei Toyota würde bei uns nicht funktionieren", wird der bekannte
deutsche Industrieforscher Prof. Dr. Dieter Spath vom Fraunhofer IAO in der Wirtschaftszeitung Produktion zitiert (vgl. Produktion Nr. 23, 5. Juni 2008, S. 14). Tatsächlich hat der weltweite Vorreiter in Sachen schlanker Produktion selbst zunehmend mit Qualitätsmängeln und Imageproblemen zu kämpfen, seit auch beim japanischen Variantenspartaner die Komplexität steigt. Obwohl die Japaner bekannt dafür sind, sich auf Standardmodelle zukonzentrieren, bringt die von den Märkten erzwungene Typenvielfalt die bewährten Produktionsmethoden zunehmend unter Druck. Um wie viel mehr muss das dann für deutsche bzw. europäische Hersteller gelten, die strategisch auf Variantenvielfalt setzen. Wiederum Spath: "Wenn man ein änderungsarmes Produkt stabil aus der Entwicklung herausbringt, wie die Japaner das tun, ist es verhältnismäßig einfach, eine schlanke Produktion anzuschließen. In unserem Fall geht es darum, eine hohe Komplexität zu beherrschen - deshalb heißt bei uns ein entsprechendes System nicht nur Lean Production, sondern ganzheitliches Produktionssystem" (vgl. ebd.). Es kann also nicht verwundern, dass Professor Spath ein mittlerweile zum modernen Klassiker gewordenes Buch zu diesem Ganzheitlichen Produktionssystemen vorgelegt hat (Spath 2003). Doch bleiben wir noch bei den Grenzen der schlanken Produktion, bevor wir 'jenseits dieser Grenzen' gehen.
Tatsächlich sind Diskussionen darüber, wie mit hoher Varianz umzugehen ist, mit
den Vertretern der orthodoxen Lean-Lehre seit jeher unerquicklich. Auch in diesem
Punkt zeigen sie sich mit Aussagen wie 'Varianz ist schlecht und muss vermieden
werden' weder kundenfreundlich noch diskussionsbereit. Nur: was hilft das einem
Unternehmen, das die Variantenvielfalt schlichtweg von seinen Kunden aufgezwun-
gen bekommt? Nicht jeder hat das Marketing-Budget, um ganze Käuferschichten
zum Verzicht auf Varianz zu bewegen.
Der richtige Umgang mit Varianz beschäftigt uns im Rahmen dieses Buches immer
wieder. Kein Wunder, gehören Varianz bzw. Vielfalt doch zu den Themen, bei denen
sich europäisches und fernöstliches Denken am stärksten unterscheiden. Während
Japan über Jahrhunderte von der Außenwelt abgeschottet war und eine sehr spezi-
fische, monolithische Kultur ausbildete, stellt sich Europa seit jeher als heterogener
Flickenteppich dar, in dem Vielfalt Teil des geistigen, kulturellen und wirtschaftlichen
Lebens war und ist. Und das ist gut so.
Menschenbild und Führungsverständnis
In der frühen Nachkriegszeit wurde Taiichi Ohno zum starken Mann bei Toyota beru-
fen. Dessen Personalführung entsprach allerdings nicht gerade dem Lehrbuch. "Er
verbreitete bei allen Mitarbeitern Angst und Schrecken, trieb sie erbarmungslos an,
kritisierte sie, verspottete sie, bewarf sie mit Gegenständen, versetzte ihnen Tritte"
- so jedenfalls der Bericht des Historikers Ed Rheingold (Quelle; www.faz.net/s/
RubEC1...).
Die Wahrheit über Führung im Betrieb kam allmählich im Zuge der 'zweiten
Lean-Welle' an den Tag. Dass diese Wahrheit meist von denselben Leuten verkündet
wurde, die bereits die Irrtümer der 'ersten Welle' verkündet hatten, gehört zu den Irri-
tationen, die untrennbar mit der Geschichte der schlanken Produktion in Deutschland
verknüpft sind.
Die Wahrheit über Führung im Betrieb hat einen Namen. Der lautet
hancho. Dieser hancho ,ursprünglich als 'Team-Leader' verklärt, trägt im Baugewerbe den schönen
Namen 'Kapo'. Ein Kapo befiehlt und sorgt dafür, dass gemacht wird, was er sagt.
Samthandschuhe trägt er dabei ebenso wenig wie der hancho. Es ist das unstrittige
Verdienst der 'zweiten Lean-Welle', dieser vorläufigen Wahrheit zum Durchbruch
verholfen zu haben. Tatsächlich haben Team-Meetings ihre Berechtigung, ihren Ort
und ihre Zeit. Aber: Sie können eine klare, stringente Führung im täglichen Geschäft
nicht ersetzen. Da muss eine Führungskraft bei Störungen kurzerhand einspringen
können, ohne den großen Kriegsrat zu konsultieren, da müssen Störungen sofort
beseitigt, Verbesserungen direkt umgesetzt werden. Seit Jürgen Klinsmann und dem
'Sommermärchen' wissen auch wir wieder: ein leistungsfähiges, siegeshungriges
Team braucht einen 'Capitano', sonst ist es eine x-beliebige Gurkentruppe.
Weil aber die meisten Unternehmen keinen hancho mehr haben und den Weg
zurück als Eingeständnis begangener Fehler scheuen, müssen die höheren Chargen
in die Bresche springen und buchstäblich die Führung im Betrieb übernehmen. Dass
sie das können und auch erfolgreich tun, zeigen aktuelle Beispiele. Mitarbeiter von
Unternehmen, die auch Werke in Japan unterhalten, berichten glaubhaft, dass japa-
nische Mitarbeiter, die in einem deutschen Werk gearbeitet haben, wenig bis über-
haupt keine Lust verspüren, an ihren heimischen Arbeitsplatz zurückzukehren. Etwas
drastisch ausgedrückt hatte dies der Konstrukteur eines mittelständischen Unter-
nehmens: "Denen muss man die Arme brechen, damit sie wieder in den Flieger ein-
steigen!"
U-Shapes im Office? Der Gültigkeitsbereich
Wertschöpfung findet nicht nur in der Produktion statt. Lean Management ist im Pro-
duktionsumfeld hinlänglich bekannt, in den Nicht-Produktionsprozessen wurden die
Lean-Prinzipien bis vor kurzem allerdings nur selten angewendet. Dies hat sich geän-
dert. Denn eine wachsende Anzahl von Unternehmen hat erkannt, dass der Erfolg nur
dann nachhaltig ist, wenn die Lean-Prinzipien auf alle Prozesse angewendet werden.
Denn die Eliminierung von Verschwendung wirkt erfolgreich auf alle Geschäftsbe-
reiche, von der Entwicklung und Konstruktion über die Beschaffung bis hin zum
Vertrieb und Service. Unter dem Label Lean Office bzw. Lean Administration trat
das Lean Management-Konzept seinen Eroberungsfeldzug in die indirekten Bereiche
an. Allerdings ist die unreflektierte, nicht modifizierte Übertragung auf indirekte
Bereiche ausgesprochen kritisch. Und es gibt genügend Beispiele in der Praxis, in
der diese Übertragung auf alle indirekten Bereiche teilweise lachhaft, bisweilen sogar
gefährlich ist. Groteske Formen nimmt die Übertragung an, wenn Schreibtische in
Büros als U-Shapes angeordnet werden, wenn für die Beschaffung von Bleistiften
oder Kaffee ein Kanbansystem eingerichtet wird oder wenn in administrativen Pro-
zessen mit aller Gewalt ein kontinuierlicher Fluss erzeugt werden soll. Ob das nun
Sinn macht oder nicht.
Im Zusammenhang mit administrativen, informatorischen Prozessen von einer
'Verbrauchssteuerung nach dem Pull-Prinzip' zu sprechen, wie dies bei populären
Ansätzen zur Lean Administration gerne geschieht, ist mehr als rätselhaft: Was wird
in solchen Prozessen verbraucht? Information? Leider nicht. Zeit, Geduld und Geld? Schon eher.