New York, 1901
Adelaide Forsythe hielt ihren Hut im kalten Wind fest, während sie von der Straßenbahnhaltestelle nach Hause eilte. Es gab nicht viel, was sie aus ihrem früheren Leben als reiche Erbin vermisste, aber an einem so stürmischen Abend wie diesem sehnte sie sich nach einer Kutsche und einem Fahrer, der sie bis zur Haustür brachte. Das Treffen, zu dem sie bei diesem kalten Wetter gegangen war, hatte enttäuschende Neuigkeiten gebracht. Ihre Bemühungen, etwas zu erreichen, waren am Ende ins Leere gelaufen.
In der zunehmenden Dunkelheit bog Adelaide um die Ecke auf ihr Haus zu, ihre Schritte gedämpft durch einen Teppich aus rostfarbenem Laub. Die Fenster ihres bescheidenen Zuhauses waren dunkel. Also war ihr Mann Howard noch nicht von der Arbeit zurück. Adelaide eilte den gepflasterten Gehweg entlang zur Haustür, blieb dann aber stehen, als sich in einem Busch neben der Treppe vor dem Eingang etwas regte. Ein Schatten bewegte sich, zu groß für ein Eichhörnchen. Adelaide hielt die Luft an und lauschte. Sollte sie möglichst schnell daran vorbeilaufen und hastig die Tür aufschließen? Oder lieber umkehren und im Schein der Straßenlaterne auf Howard warten? Er müsste eigentlich bald nach Hause kommen.
Wieder raschelte es im Gehölz. Addy straffte die Schultern, entschlossen, eine mutige, moderne Frau des 20. Jahrhunderts zu sein und nicht auf ihren Mann zu warten. Sie hörte ein gedämpftes Niesen und beugte sich vorsichtig vor, um unter den Busch zu blicken.
»Ist da jemand?«
Die kauernde Gestalt bewegte sich erneut und ein kleines Gesicht blickte zu Addy auf. Ein Kind! Es saß zwischen den kahlen Ästen. Ein Junge mit kurzem, zerzausten Haar, vom Wind geröteten Wangen und trotz des kalten Novemberabends ohne Mütze. In den ärmeren Teilen von New York lebten und schliefen Kinder auf der Straße, aber nicht in dem ruhigeren Viertel Manhattans, in dem Howard und sie lebten.
»Ich tue dir nichts«, sagte Addy. »Du kannst herauskommen.« Der Junge musterte sie misstrauisch von seinem Platz im Gebüsch aus. »Du siehst aus, als wäre dir kalt. Möchtest du hereinkommen und dich am Feuer aufwärmen?« Er schniefte und wischte sich die Nase am Ärmel ab. Addy meinte, sie hätte ihn nicken gesehen. »Dann komm raus.« Nach einer kurzen Pause bewegten die dürren Äste sich und knackten, als der Junge aus seinem Versteck gekrochen kam. Dann stand er vor Addy, bibbernd in seinem verschlissenen Mantel, und vor Kälte mit den Zähnen klappernd. Er konnte höchstens acht oder neun Jahre alt sein. »Wie heißt du?«
»J-Jack.«
»Komm, wir gehen rein, Jack. Hier entlang.« Addy ging die Treppe hoch und schloss die Tür auf. Dabei hielt sie den Türknauf fest, den der Wind ihr zu entreißen versuchte. Der Junge folgte ihr durch den Flur, wo sie im Vorbeigehen Licht machte, während sie in die Küche ging, wo im gusseisernen Herd ein Feuer glühte. Addy öffnete einen der runden Herddeckel und stocherte in den Kohlen, um das Feuer zu schüren, dann legte sie mehrere Scheite aus der Holzkiste auf. Sie war stolz darauf, dass sie daran gedacht hatte, den Hebel am Ofenrohr zu drehen, damit Luft hereinströmte. Die Aufgabe des Feuermachens war für sie immer noch ungewohnt. Bis zu ihrer Hochzeit vor einem Monat hatten Scharen von Bediensteten solche Arbeiten für sie erledigt.
Sie wandte sich dem Jungen zu und sah ein kleines Kind mit einem schmutzigen Gesicht und abgewetzten Schuhen. Seine Hosenbeine waren zu kurz, sodass nackte, knochige Fußgelenke zum Vorschein kamen. Jack stand mit hochgezogenen Schultern da, die Hände in den Hosentaschen. Seine Wangen, Nasenspitze und Ohren waren rot von der Kälte. »Also, Jack. Warum hast du dich in meinen Büschen versteckt? Solltest du an einem so kalten Abend nicht zu Hause sein?«
»Ich hab kein Zuhause.«
Sie wollte gerade antworten, dass jeder ein Zuhause hatte, aber dann dachte sie daran, wo sie an diesem Morgen gewesen war. Adelaide und ihre Mutter hatten dem Waisenhaus des Kinderhilfswerks eine Weihnachtsspende gebracht. Sie wagte eine Vermutung. »Bist du aus dem Waisenhaus weggelaufen, Jack?« Der Junge zuckte mit den Schultern, was alles Mögliche bedeuten konnte, aber er leugnete es auch nicht. »Dort machen sie sich bestimmt Sorgen um dich. Warum bist du denn weggelaufen?«
»Ich wollte die Penny-Lady bitten, mir zu helfen. Ich habe mich in ihrer Kutsche versteckt, aber sie ist von hier weggefahren, bevor ich mit ihr reden konnte.«
Die Penny-Lady. »Du meinst bestimmt meine Mutter, Mrs Stanhope.« Mutter hatte die Tradition von Addys Großmutter Julietta Stanhope übernommen, die diese vor Jahren eingeführt hatte, nämlich den Kindern einen Penny zu geben, wann immer sie die Waisenhäuser der Stadt besuchte. Aber wie hatte sich dieses Kind in der Kutsche verstecken können?
Der Junge nieste und riss Addy damit aus ihren Gedanken. Nachdem er sich die Nase an einer glänzenden Stelle seines Ärmels abgewischt hatte, verschränkte er die Arme vor der Brust - ob aus Trotz oder um sich zu wärmen, konnte Addy nicht recht deuten. Sie sah Stärke in dem selbstbewusst vorgereckten Kinn und in seinen wachsamen blauen Augen entdeckte sie eine Lebenserfahrung, die weit über seine Jahre hinausging. Addy verstand nichts von Kindern und war sich nicht sicher, was sie mit diesem hier anfangen sollte. Wenn der Junge einen triftigen Grund gehabt hatte, bei dieser Eiseskälte wegzulaufen, würde er kaum ins Waisenhaus zurückkehren wollen, selbst wenn sie eine Möglichkeit hätte, ihn dorthin zu bringen.
In der Küche wurde es wärmer und es roch etwas nach Rauch. Addy zog ihren Mantel aus und hängte ihn über die Rückenlehne ihres Stuhls. »Du sagst, du brauchst Hilfe. Was kann ich denn für dich tun?«
Er antwortete nicht. Stattdessen zeigte er auf eine Stelle hinter Addy und sagte: »Miss, sehen Sie mal!« Sie drehte sich um und sah Qualm unter den Deckeln des Ofens hervorquellen. Sollte der Rauch nicht durch den Schornstein abziehen?
»Ach, du liebe Güte! Verstehst du etwas von Öfen, Jack?« Er schüttelte den Kopf. Allmählich breitete sich der Qualm in der Küche aus. Bevor Addy entscheiden konnte, was sie tun sollte, hörte sie Schritte und gleich darauf erschien Howard in der Küchentür, gerade rechtzeitig, um sie zu retten, wie der Held in einem Märchen.
»Dachte ich mir doch, dass ich Stimmen gehört habe - oh, hoppla! Ich glaube, du hast vergessen, die Luftzufuhr zu öffnen, Addy.« Er durchquerte den Raum und drehte den Hebel am Ofenrohr, so wie sie es auch getan hatte.
»Aber ich habe sie geöffnet. Ich habe mich daran erinnert, dass ich das tun muss. Ehrlich!«
»Ich glaube, du hast den Hebel versehentlich in die falsche Richtung gedreht und die Zufuhr ganz geschlossen. Aber keine Sorge, gleich wird es wieder besser.« Er öffnete die Küchentür und nahm die Zeitung, die er unter den Arm geklemmt trug, um den Qualm in Richtung Tür zu wedeln. Addy sank auf einen Stuhl. Sie war erleichtert, ärgerte sich aber auch über sich selbst. Es gab noch so viele Dinge, die sie lernen musste, nachdem sie freiwillig das Leben der untätigen Reichen aufgegeben hatte, deren Bedienstete sich um all die alltäglichen Dinge des Lebens kümmerten. Howard schlug noch einmal mit der Zeitung nach dem Rauch, bevor er die Tür wieder schloss. Zum Glück hatte sich der Qualm verzogen.
»Wer ist denn dein kleiner Freund hier?«, fragte Howard und musterte den Jungen.
»Das ist Jack. Ich habe ihn gefunden, als er unter unseren Büschen versteckt war.«
Howard ging vor Jack in die Hocke und lächelte so wunderbar warmherzig, wie es seine Art war. »Freut mich, dich kennenzulernen, Jack. Ich bin Adelaides Mann, Howard Forsythe.«
Ihr Mann. Sie waren gerade einmal vierunddreißig Tage verheiratet und ihr gemeinsames Leben war noch immer ganz neu. »Bevor ich beinahe die Küche abgebrannt hätte, hat Jack mir erklärt, dass er sich in Mutters Kutsche versteckt hat, als wir heute Morgen im Waisenhaus waren. Er sagt, er braucht ihre Hilfe.«
»Hmm. Heute Abend ist es ein bisschen zu spät, um Mrs Stanhope zu stören. Wie wäre es, wenn wir etwas Essbares finden und uns erst einmal aufwärmen? Dann kannst du uns vielleicht ein bisschen mehr erzählen.«
Es war typisch für ihren klugen Mann, an etwas so Praktisches wie Essen zu denken. Addy hörte ihn in der Speisekammer kramen und kurz darauf kam er mit einem Teller Schinken, eingelegter Rote Bete, einem Laib Brot, dem Buttertopf und einem Glas Milch für Jack zurück.
»Es tut mir leid, dass ich keine Zeit hatte, etwas zu kochen«, sagte Addy. »Die Sitzung hat länger gedauert, als ich dachte, und dann musste ich eine Ewigkeit auf die Straßenbahn warten.« Obwohl . Eigentlich wäre jede Mahlzeit, die Addy hätte zubereiten können, kaum der Rede wert gewesen, denn sie hatte noch nie im Leben irgendetwas gekocht.
»Das macht nichts. Ich habe mit einem Mandanten gut zu Mittag gegessen.« Howard zog sich den Mantel aus und legte ihn über einen Stuhl. Dann strich er sein dunkles Haar glatt, das vom Wind zerzaust war.
Addy deckte den Küchentisch mit Tellern und Besteck, und als sie alle drei saßen, fingen sie an zu essen. Jack schlang sein Essen hinunter, als wäre er kurz vor dem Verhungern. Addy sah Howard an und zuckte mit den Schultern. Und jetzt?, war ihre stumme Frage.
»Magst du uns erzählen, warum du weggelaufen bist?«, fragte Howard. Jack musterte ihn misstrauisch, während er einen großen Bissen Brot hinunterschluckte.
»Versprechen Sie mir, dass Sie mich nicht zurückschicken? Und dass Sie mir helfen?«
»Ich will nichts versprechen, was ich nicht halten kann.«
»Na gut, aber ich gehe nicht zurück! Sie wollen mich in den Zug stecken und mich ganz weit weg schicken. Sie denken, ich wäre ein Waisenkind, aber das bin ich nicht!«
»Er muss die Waisenzüge meinen«, sagte Addy, als Howard sie fragend ansah. »Das Kinderhilfswerk findet Familien im mittleren Westen, die verwaiste Kinder adoptieren.«
»Ich brauche keine andere Familie, weil ich schon eine habe!«
Howard legte Jack eine Hand auf die Schulter. »Erzähl uns von deiner Familie, mein Junge. Zuerst kannst du uns sagen, wie du mit Nachnamen heißt.«
»Thomas. Jack Thomas«, antwortete der Junge. »Und meine Familie sind ich, meine Schwester Polly und unser Papa. Und es ist fast Weihnachten, richtig?«
Addy warf einen Blick auf den Küchenkalender. »Ja, in etwa vier Wochen.«
Jack stöhnte. »Papa kommt über Weihnachten nach Hause und weiß dann gar nicht, wo wir sind. Ich muss meine Schwester finden, und dann müssen wir nach Hause, bevor er kommt.«
»Ist deine Schwester in demselben Waisenhaus wie du?«, fragte Addy.
»Ich weiß nicht, wo sie ist!« Seine Worte klangen gepresst, so als hätte er Mühe, nicht zu weinen.
»Und dein Vater?«, fragte Howard.
Jack schluckte. »Er arbeitet auf einem Schiff, aber an Weihnachten kommt er nach Hause. Das hat er versprochen.«
»Erzähl uns von deiner Mutter«, sagte Howard sanft. Jetzt verlor Jack den Kampf gegen die Tränen und sie ergossen sich unaufhaltsam über sein schmutziges Gesicht.
»Sie ist krank geworden, als Papa schon weg war. Ich habe versucht, für sie zu sorgen, aber jetzt ist sie im Himmel.« Ein Schluchzer entwich ihm mit dem letzten Wort.
Addy wusste nicht, was sie tun sollte. Sollte sie versuchen, ihn in den Arm zu nehmen und zu trösten? Angesichts seiner schmutzigen Kleidung würde sie das einiges an Überwindung kosten. Und dann lief ihm auch noch unaufhörlich die Nase. Und dann kam ihr der Gedanke an Läuse. Bevor sie einen Entschluss fassen konnte, strich Howard ein getrocknetes Blatt aus Jacks Haaren und legte dann wieder dem Jungen die Hand auf die Schulter.
»Ich vermute, dass die Leute vom Kinderhilfswerk dich ins Waisenhaus gebracht haben, als deine Mama gestorben war?«
»Polly und ich haben versucht, uns zu verstecken. Mich haben sie gefunden, aber sie nicht.«
»Wie alt ist Polly denn?«
»Sie ist drei. Fast vier. Und ich bin der einzige Mensch, mit dem sie redet.« Jack wischte sich wieder die Tränen ab, was auf seinen Wangen schmutzige Schlieren hinterließ. »Helfen Sie mir, Polly zu finden, Mister?«
»Ich werde tun, was ich kann, aber heute Abend ist es zu spät, um mit der Suche zu beginnen. Kommt, wir räumen die Küche auf und machen dir ein Bett. Dann sehen wir morgen früh, was wir herausfinden können.«
Howard spülte das Geschirr und Addy trocknete es ab, wie sie es immer taten, seit sie verheiratet waren. »Hoffentlich ist das der letzte Abend, an dem du in der Küche arbeiten musst«, erklärte Addy ihm. »Morgen kommt eine Frau, die sich als Köchin und Haushälterin beworben hat. Sie hat für eine von Mutters Freundinnen gearbeitet und wurde uns sehr empfohlen.«
»Gut. Ich hoffe für uns beide, dass sie geeignet ist. Denn auch du solltest nicht in der Küche stehen müssen, Addy.«