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Beim Aufwachen fühlte Kathleen Beckett sich unwohl. Es war Sonntag. November. Zu warm für die Jahreszeit. Sie schlug die Decke zurück, drehte sich auf den Rücken und zog die Schleife ihres Nachthemds auf. Sie werde nicht in die Kirche gehen, erklärte sie ihrem Mann Virgil, aber er solle sich keine Sorgen machen. Sie sollten einfach ohne sie gehen.
Virgil zögerte. Seit sechs Monaten gingen sie jetzt regelmäßig zum Gottesdienst, und seine Frau hatte nicht einen versäumt. »Ist wirklich alles in Ordnung, Liebes?«, fragte er und legte sich die Krawatte um.
Kathleen, Kathy für ihre Freunde und Katie, wenn Virgil zärtlicher Stimmung war, nickte vom Bett aus. »Es geht mir gut«, sagte sie. »Ich hätte nicht in dem Flanellnachthemd schlafen sollen. Geh nur. Ihr seid ja bald wieder da.«
Virgil küsste seine Frau auf die Stirn. Ihre Söhne Nicholas und Nathaniel standen in der Tür. »Mutter fühlt sich nicht wohl«, sagte er zu ihnen. »Zieht euch an.«
Die Jungen sahen ihre Mutter an.
»Was hat sie?«, fragte Nicholas.
Virgil warf ihm einen strengen Blick zu. »Ich habe gesagt, dass Mutter sich nicht wohlfühlt. Also lasst sie in Ruhe.«
Die Jungen verschwanden in ihrem Zimmer und zogen ihre Sonntagsanzüge an. Virgil machte ihnen das Frühstück, dann verfrachtete er die Jungen in den nagelneuen 57er Buick Bluebird und fuhr los Richtung First Presbyterian. Die Kirche lag fünfzehn Meilen von der sonnigen fünfeckigen Wohnanlage Acropolis Place entfernt. Hier, am Stadtrand von Newark, Delaware, wohnten die Becketts seit letztem Mai, seit Virgil die Stelle bei Equitable Life in Wilmington angetreten hatte.
Kathleen hatte die Wohnung ausgesucht. Sie war zwar nur gemietet, aber immerhin war sie neu, und sie hatte einen grünen Teppichboden. Das hervorstechendste Merkmal war der Gaskamin, der sich mit einem Schalter anzünden ließ. Es gab einen Kühlschrank und ein deckenhohes Regal für ihre Romane und Kochbücher. Die Glasschiebetür im Wohnzimmer führte auf einen Balkon mit einem weiß gestrichenen schmiedeeisernen Geländer und Blick auf einen kleinen nierenförmigen Gemeinschaftsswimmingpool, in dem die Becketts in den wenigen Monaten, die sie im Acropolis Place wohnten, noch nie jemanden hatten schwimmen sehen.
Virgil war es egal, wo sie wohnten, solange Kathy zufrieden war, allerdings hatte er mit dem Umzug nach Delaware und dem Wechsel zu Equitable eine Gehaltseinbuße hinnehmen müssen. Für das Haus in Rhode Island hatten sie die gleiche Summe erhalten, die sie beinahe zehn Jahre zuvor bezahlt hatten. Er hoffte, sie würden nicht lange in der Wohnung bleiben.
Nach Weihnachten könnten sie sich nach einem Haus in Wilmington umsehen, dachte er, aber bis dahin würde die Familie jeden Sonntag die fünfzehn Meilen zur First Presbyterian fahren und eine knappe Dreiviertelstunde auf der Kirchenbank sitzen und Reverend Underhills leidenschaftslos vorgetragenen Predigten über Jesus Christus und Gemeindepicknicks lauschen.
Nach dem Gottesdienst standen Virgil und ein paar seiner Kollegen von Equitable in frisch gebügelten Anzügen und mit Fedorahüten für gewöhnlich noch auf der kleinen Rasenfläche vor der Kirche herum, rauchten und redeten über das Geschäft, die Familie, den freien Nachmittag, während die Frauen in knisternden Petticoats mit dem Reverend in der Eingangshalle plauderten, in Gedanken schon beim Kochen und bei den Cocktails am Nachmittag. An diesem Tag brachte das für die Jahreszeit ungewöhnlich warme Wetter jedoch alle dazu, die Kirche so schnell wie möglich zu verlassen, sodass der Reverend seinen Gemeindemitgliedern, die sich in ihre Autos quetschten, hinterhersah und sich fragte, womit er sie wohl in die Flucht geschlagen hatte.
Virgil Beckett war als Erster zur Tür hinaus. Im Hauptschiff verklangen noch die Durakkorde des letzten Lieds, als er den Jungen zuflüsterte, dass sie ihre Mäntel holen sollten. Erst sehe ich nach Kathleen, dachte er. Dann rufe ich Wooz an. An einem Tag wie diesem wäre der Golfplatz sicher geöffnet, auch wenn er noch nie so spät in der Saison gespielt hatte.
An den Bäumen waren fast keine Blätter mehr.
Virgil hatte während des Gottesdienstes die ganze Zeit ans Golfspielen gedacht und hätte kein einziges Wort des Reverends wiederholen können. Als waschechter Kalifornier liebte er inzwischen den Indian Summer und sah sich bereits in Sommerhemd und leichter Hose das Eisen schwingen, während ihm der Schweiß den Rücken hinunterrann. Er stellte sich den Geruch des warmen, verdorrenden Grases unter seinen Füßen vor, den Anblick der tief stehenden Novembersonne. Als er die Jungen zum Auto scheuchte, fragte er sich, ob der Golfplatz wirklich noch geöffnet war und wenn ja, ob sich jemand die Mühe gemacht hatte, den Rasen zu mähen und zu rechen.
»Rein mit euch«, sagte er, und die beiden Jungen kletterten auf die Rückbank des Bluebird.
Virgil warf seinen Söhnen im Rückspiegel einen Blick zu. Sie hatten an diesem Vormittag noch nicht viel gesprochen und fläzten sich jetzt auf der Rückbank. Die Mäntel hatten sie schon ausgezogen. Ihre Gesichter waren gerötet und verschwitzt.
»Gehts euch beiden gut?«, fragte er.
»Sonntagsanzüge finden wir blöd«, sagte Nicholas.
Nicholas, der Jüngere der beiden, sprach oft für Nathaniel mit.
»Gleich sind wir zu Hause«, sagte Virgil. »Dann könnt ihr euch umziehen und nach draußen gehen. Ist es nicht ein herrlicher Tag? Wie wärs mit einem Spiel? Habt ihr Lust auf Stickball?«
Die Jungen antworteten nicht.
Virgil betätigte den linken Blinker. Das Auto tickte, und sie warteten.
Auf einmal kam Virgil der Gedanke, dass Kathleen schwanger sein könnte.
Er war erstaunt, dass ihm das jetzt erst einfiel. Die meisten Frauen hatten mit dreißig zwar mit dem Thema abgeschlossen, aber es war auch nicht so ungewöhnlich, in diesem Alter noch ein drittes Kind zu bekommen. Die meisten seiner Kollegen bei der Versicherung hatten drei. Aber man musste vorsichtig sein, man durfte nicht übermütig werden und sich mehr aufhalsen, als man stemmen konnte. Virgil kannte Tom Braddock nicht gut, aber der wurde allem Anschein nach seit Jahren um seine vier Jungen beneidet. Dann plötzlich starb sein Ältester vor einem Monat. Es passierte direkt vor seinem Haus. Eine Art Verstopfung in seinem Gehirn, oder war es das Herz? Das Bein? Jedenfalls brach der Junge plötzlich auf dem Rasen vorm Haus zusammen, und jetzt empfand Virgil eine gewisse Scheu vor Braddock. Es war das Schlimmste, was einem passieren konnte, etwas, das sich anfühlte, als könnte es einen selbst treffen, wenn man nicht genug Abstand hielt. Virgils Chef Lou Porter hatte zu Braddock gesagt, er solle sich so viel Zeit nehmen, wie er brauchte, und alle taten so, als ob es dabei um Braddock ginge. In Wahrheit wich ihm jeder aus.
Virgil überlegte, ob es ein Mädchen werden würde. Für Kathy wäre das schön, dachte er. Er war zufrieden mit seinen Söhnen, aber mit einem Mädchen hätte Kathy jemanden für sich, und manchmal fragte er sich, ob sie sich unter lauter Männern nicht einsam fühlte.
Bis er zum Acropolis Place abbog und den Bluebird auf den Unterstellplatz rangierte, hatte Virgil Beckett das neue Baby so deutlich vor Augen wie zuvor den Nachmittag auf dem Golfplatz. Er half den Jungen beim Aussteigen, warf die Autotüren zu, dann nahm er zwei Stufen auf einmal die Treppe hinauf zu Wohnung 14B und ging ohne Umweg ins Schlafzimmer, um nach seiner Frau zu sehen. »Kath?«, sagte er.
Sie war nicht da.
Virgil stand einen Moment lang da und sah auf das Bett. Es war ordentlich gemacht.
»Kathleen?«
Er verließ das Schlafzimmer und suchte im Wohnzimmer, in der Küche. Nichts von ihr zu sehen. Er überlegte gerade, dass sie vielleicht kurz rausgegangen sein könnte, um Aspirin oder so was zu besorgen, als er Nicholas rufen hörte: »Mutter ist im Pool!«
Virgil ging zu seinen Söhnen auf den Balkon.
Kathleen stand am hinteren Ende des Swimmingpools bis zur Brust im Wasser, die Ellbogen bequem auf den geschwungenen Beckenrand gestützt. Sie trug ihren alten roten Badeanzug aus Collegezeiten. Er hatte ihn seit Jahren nicht mehr an ihr gesehen.
»Kathy!«, rief er lachend. »Was tust du denn da?«
Sie sah auf, beschirmte ihre Augen mit einer Hand gegen die Sonne. Zwischen ihren Fingern klemmte eine Zigarette.
Sie sah Virgil und winkte.
Virgil ging zurück zur Wohnungstür und lief die Treppe hinunter. Bis er am Pool angekommen war, hatten einige der Nachbarn ebenfalls ihre Glastüren aufgeschoben, standen an ihren Balkongeländern und sahen ihnen zu.
Er kniete sich an den Rand des Pools.
»Kath«, sagte er. »Gehts dir gut?«
Mrs Beckett lächelte ihren Mann an. »Mir gehts hervorragend«, sagte sie. »Ehrlich gesagt gings mir noch nie besser.«
»Was tust du hier?«
Kathleen Beckett, geborene Lovelace, war in jüngeren Jahren Sportlerin gewesen. Sie war groß und früher einmal schlank gewesen. Sie hatte Tennis gespielt und war am College weit damit gekommen, 1947 und 1948 hatte sie die College-Meisterschaften an der University of Delaware gewonnen. In der Memorial Library der Universität hing immer noch ein Schwarz-Weiß-Foto von Kathleen im Tenniskleid mit dem Schläger über der Schulter.
Ihr großes Vorbild, sagte sie, sei Margaret Osborne duPont, die gegenwärtige Landesmeisterin, die bereits dreiunddreißig Grand-Slam-Titel gewonnen hatte und zehn Wightman Cups. Margaret Osborne duPont, die auf einem riesigen Anwesen in Wilmington, knapp zwanzig Meilen nordöstlich von Newark lebte, bewies die größte Ausdauer, die Kathleen je auf einem Tennisplatz gesehen hatte. Als sie in der Zeitung las, dass Margarets Vater gestorben war, schrieb sie ihr einen langen Brief und brachte darin ihre Bewunderung für sie zum Ausdruck.
Virgil hatte Kathleen immer gern beim Tennisspielen zugesehen. Mit ihrer groß gewachsenen Gestalt segelte sie über den Platz. Ihr rechter Arm machte jedes Mal eine weit ausholende Bewegung, wenn sie den Ball schlug, und manchmal stieß sie ein kehliges Hah! aus. Vor ihrem Collegeabschluss hatte Kathleen kurz mit dem Gedanken an eine Profikarriere gespielt - Randy Roman, ein Talentsucher, hätte sie sofort unter Vertrag genommen -, aber es wäre kein leichtes Leben gewesen, und Virgil war Mr Roman dankbar dafür, dass er das ganz offen gesagt hatte. Er sagte ihr von Anfang an, was es bedeutete, ständig zu trainieren und Matches im ganzen Land zu bestreiten - und wenn sie in den Staaten gewann, auch in Australien -, und schlussendlich schlug Kathleen das Angebot aus. Sie machte ihren Abschluss, heiratete Virgil und zog mit ihm nach Pawtucket, wo sie einen gemeinsamen Hausstand gründeten.