Jean Améry
Lefeu oder Der Abbruch
I. Verfall
Die Dinge an sich herankommen lassen.
Sie kommen schon, sie rücken näher: die Staffelei und das halbfertige Bild mit der Häuserfassade, das Lavabo, darin millimeterdick Ölfarben kleben, das schmutzige Geschirr, das sich anhäuft, die rissigen, abblätternden Wände, schmutzfarben wie das Bild, dem sie Obdach geben, wie das graue, unrasierte Antlitz, das aus dem Spiegel blickt, der von einer Zigarette angekohlte Brief des Anwalts auf dem durch queren Sprung ornamentalisierten Tisch. Im Sinne meiner letzten Interventionen bei der zuständigen Wohnungsbehörde glaube ich Ihnen zusichern zu dürfen, daß selbst im Falle eines Abbruchs des Miethauses 5, Rue Roquentin, Ihre Einweisung in ein modernes Appartement gesichert ist. - Sie rücken näher, kriechen aus den Ecken, schleichen über den mit Farbflecken bedeckten und weihnachtlich dicke Staubflocken oder Engelhaar tragenden Boden, schlängeln sich das zerwühlte Lager entlang und hinauf; wer braucht schließlich Bettlaken, bürgerliche Vorurteile. Die Dinge nur an sich herankommen lassen. Das ist eine klischierte Metapher, denn nur in surrealistischen Romanen oder Filmen verhalten sie sich in der eben beschriebenen Form. Schleier der Sprache. Er ist aber nicht so dicht, wie man meint und gerne versichert. Mystifikation der Rede, man läßt von ihr sich nicht so leicht düpieren. Entschleiert man die Sprache, wenn man ihre Metaphorik in Sinnenhaftigkeit überträgt, wenn man also das Herankommen der Dinge nicht wörtlich nimmt, sondern bildlich, und sich vorstellt, was doch faktisch nicht eintreten kann, daß nämlich Staffelei und Brief und Wände und Lavabo sich aufmachen und den auf seinem Wühllager - Wühl-, und nicht Pfühllager! - liegenden oder kauernden Lefeu betasten, ergreifen, schließlich ersticken? Natürlich nicht. Man enthüllt solcherart keinen dem Worte, dem Satz inhärenten Charakter, man treibt nicht Wesensschau mit dergleichen. Man setzt einen Akt, das ist alles. Einen Akt der freien Imagination, die freilich in ihrer Freiheit sich verirren kann in den wuchernden Gefilden der Närrischkeit, so daß man am Ende in gewaltsam zerhämmerten Sprachtrümmern blind herumtastet, wie Irene. Sie dichtet: Pappelallee, Pappelallee, alle Pappeln, Pappelnalle, Plapperpappel, Geplapper, Geplapper. Es kann nichts gedeihen auf diese Weise. Es kann nicht gut ausgehen mit Irene und ihresgleichen. Man muß streng am Sinn des Satzes haften bleiben, im Vertrauen, daß es ihn gibt. Man kann von ihm, diesem Sinne, sagen, er sei der Weg der Verifizierung. Und vom Wort läßt sich mit guten Gründen erhärten, es finde seinen Sinn in den Assoziationen, die es im Angeredeten auslöst. Da wird denn, wenn der Sprecher sagt, man müsse die Dinge an sich herankommen lassen, kaum jemand den Akt in der Freiheit sich verlaufender Imagination setzen und geisterhaft die Gegen stände auf sich zukommen sehen; die überwältigende Mehrheit - und auf die Quantität kommt es hier an, da diese allerwegen das Maß setzt im Felde des Sozialen - wird in weitgehender Übereinstimmung richtig verstehen, daß hiermit gemeint ist: man müsse, weil man nicht anders kann, einfach zuwarten. Nichts tun. Am Lager kauern, das Bild auf der Staffelei mit zusammengekniffenen Augen betrachten, nach einer Stelle suchen, die den gottverdammten, aber unerläßlichen roten Fleck gestattet, Cognac trinken, eine Gauloise rauchen, denn nur sie schmeckt, alles andere ist Papier oder Stroh, den Brief des Anwalts zu vergessen oder zu verdrängen sich bemühen. On verra bien. Schließlich ist es unmöglich, in ziemlich fortgeschrittenen Jahren noch Rechtswissenschaft zu studieren, nur um herauszukriegen, ob der Anwalt halbwegs helle ist, ob alle Bestimmungen des Mieterschutzgesetzes schon als Argumente vorgebracht wurden gegen Baubehörde und Hausbesitzer. Es scheint ein überaus komplizierter Prozeß zu sein, nicht gerade ein kafkaesker, das nicht, denn die Pariser Urbanisten und Stadtväter haben nichts von der sinistren Poesie der in Prag herrschenden kaiserlich-königlichen Autorität, aber doch ein vielschichtiger, verfilzter Verlauf von Demarchen, mit denen der Kauernde, der nun endlich zu wissen glaubt, wo das aufhellende, aber nicht zu grelle Rot sitzen soll, nichts anzufangen weiß, habe auch der Cognac seinen Kopf scharf gemacht wie den eines chaldäischen Astronomen. Gewiß ist in all der Verflechtung, deren Flechten ein Geschick und eine Unzahl von Paragraphen umschlingen, nur der Wille zum Widerstand, was freilich auch nur wieder so ein lässiger Ausdruck ist. Das bloße Nein - nein zum geplanten Abbruch des Hauses, nein zur Einweisung in einen Wohnblock am Stadtrand, nein sogar zu einer nicht unerheblichen finanziellen Kompensation, nach welcher doch sogar Champagner am Morgen sprühend wie stürzende Wasser sich ins Zimmer ergießen könnte - das bloße Nein ist kein Akt der Résistance. Es ist in den meisten Fällen, und namentlich im hier beredeten, nichts als Entzug, Flucht, stumpfer Trost. La Résistance, ça - c'était autre chose. Ohé, saboteur, Dynamit. In großer Sonne auf den Straßen trocknendes Blut. Hier ist das Nein nur es selbst, hat sich noch nicht aufgerichtet, wird das vielleicht tun, man kann nie wissen. Vorläufig heißt es, die Dinge an sich herankommen lassen, ausharren, durchhalten, sagte Gustav von Aschenbach, es war sogar sein Lieblingswort. Andere haben schon nachgegeben oder sind im Begriffe, es zu tun. Jeanne Lafleur mit ihren läppischen Keramiken ist schon verschwunden, wohnt jetzt in einem Sozialbau in Belleville; Paul Frey hat sich mit seiner Lucette und den Penis-Paraphrasen, die er zu malen liebt, in einem Pavillon in Yerres (Seine-et-Oise) eingerichtet, reibt sich sogar die Hände über das glänzende Geschäft, das er gemacht hat. Je me suis bien débrouillé, sagt er und malt einen Penis, diesmal im Ruhezustand. [.]