Meine Damen und Herren, liebe Altersgenossinnen,ihr habt euch auf eine Verabredung eingelassen, bei der es um Skandalöses in der Jugendszene geht. Eure Gesprächspartnerin wird euch in eine Welt führen, die euch sehr viel näher ist, als ihr denkt. Es ist eine Wirklichkeit, in der wir leben und auch wieder nicht leben. Wir übernehmen das vom Glauben, was uns passt, der Rest interessiert uns nicht.Ich schreibe für jeden, der älter als achtzehn Jahre, in manchen Ländern auch älter als einundzwanzig ist, denn nur bei uns beginnt ab dem sechsten Jahr (und damit meine ich nicht sechzehn Jahre) für Jungen und Mädchen die Zeit der Verzweiflung. Ich schreibe für jeden, der genügend Mut hat, im Internet die nackte Wahrheit zu lesen, der die erforderliche Ausdauer und die nötige Geduld aufbringt, mich bei diesem verrückten Experiment zu begleiten. Ich schreibe für jeden, der die altmodischen Liebesgeschichten satt hat, der nicht mehr daran glaubt, dass das Gute weiß und das Böse schwarz und ein mal eins eins ist. Der den Glauben daran verloren hat, dass Captain Madjid mit zwei Toren den Ausgleich schafft und in der letzten Minute noch das Tor zum Sieg schießt. Ich schreibe für alle, die unzufrieden, widerspenstig, wütend, zornig sind. Für jeden, der meint, dass der Sonnabend und der Sonntag schreckliche Tage sind, aber unsere Verzweiflung reicht viel weiter. Für euch schreibe ich meine Briefe, und vielleicht schlagen daraus Funken, und die Veränderung beginnt.Dieser Abend gehört mir, und die Helden der Geschichte seid ihr, sie sind »in euch und von euch«. Aus der Wüste kommen wir, und in die Wüste kehren wir zurück. Und so wie unser Nedjd das Gute und das Böse sprießen lässt, gibt es unter den Heldinnen meiner Geschichte Gute und Böse, ja, manchmal findet sich beides in einer Person. »Seid nachgiebig bei dem, was euch entgegentritt.« Weil ich beschlossen habe, einfach draufloszuschreiben, also ohne mich mit meinen Freundinnen abzusprechen, habe ich es vorgezogen, zwar wenig an den Ereignissen, aber viel bei den Namen zu verändern. Übrigens leben mittlerweile alle meine Freundinnen unter dem Schutz eines »Mannes« oder eines »Bewachers« oder eines »bewachenden Mannes« oder wurden anderweitig aus dem Verkehr gezogen. Sind also Brot und Salz auch heilig, mindert das weder die Wahrhaftigkeit des Erzählten noch lindert es den brennenden Schmerz der Wirklichkeit. Was mich betrifft, so habe ich nichts zu verlieren, oder um es mit den Worten von Nikos Kazantzakis zu sagen: »Ich erwarte nichts, ich fürchte nichts, ich erhoffe nichts.« Aber trotz allem, das ihr hier lesen werdet, nimmt das Leben seinen Lauf. Ich denke nicht, dass ein paar Briefe es daran hindern können.Ich werde über meine Freundinnen schreiben, denn in jeder Geschichte von ihnenfinde ich mich selbst, sehe ich eine Tragödie, die meiner gleicht.Ich will über meine Freundinnen schreiben, über das Gefängnis, das das Leben aus den Gefangenen saugt, über die Zeit, die die Zeitungsspalten verschlingen,über Türen, die nicht geöffnet werden, über Wünsche, die, kaum geboren, erstickt werden, über die große Gefängniszelle, über ihre schwarzen Mauern, über tausende und abertausende Märtyrerinnen, die namenlos begraben werden, im Grab der Traditionen.Meine Freundinnen, in Baumwolle eingewickelte Puppen, aufbewahrt in einem verschlossenen Museum, Geld, das die Geschichte als Scheck bewahrt, das nicht verschenkt, nicht ausgegeben wird, Schwärme von Fischen, die in ihren Becken ersticken, oder in Kristallgläsern, deren Kobaltblau dahin ist.Ohne Furcht werde ich über meine Freundinnen schreiben, über die blutigen Ketten an den Füßen der Schönen, über das Irrereden, den Brechreiz, die Nächteflehentlichen Bittens, über die Sehnsüchte, die in Kissen begraben werden, über das Kreisen im Nichts, über den Tod in Raten. Meine Freundinnen, Pfänder, die auf dem Markt des Aberglaubens gekauft und verkauft werden, Gefangene im Harem des Orients, Tote, die nicht gestorben sind, die leben, die sterben, die wahrgenommen werden wie der Sprung im Flaschenbauch. Meine Freundinnen, Vögel, die stimmlos in ihren Höhlen sterben.Wahr hast du gesprochen, du mein Nizar Qabbani, Gott erbarme sich deiner. »May you rest in peace.« Zu Recht trägst du den Namen »Dichter der Frauen«. »Und wem es nicht gefällt, der soll seinen Durst im Meer löschen.« Denn in der Liebe gibt es kein vor und kein nach dir, wie es in einem berühmten Lied heißt. Selbst wenn die Gnade deiner Verbundenheit mit dem F der Frauen nicht ein genialer Impuls deiner männlichen Chromosomen gewesen ist, sondern dem Selbstmord deiner Schwester geschuldet ist, die sich wegen einer unglücklichen Liebe umgebracht hat - »Wer sich der Liebe unterwirft, den macht sie kaputt« - so kann ich nur sagen, welch ein Glück, um die selige Balkis zu wissen, was für ein »Affenglück«, nach dir zu leben, aber auch was für ein Unglück. Ich glaube, der nedjdische Ausdruck »Affenglück« bezieht sich auf den Affen, weil der so viel springt. Er gleicht dem Glück, weil er mal stehen bleibt, mal zu Boden geht. Manche meinen, dass die Bezeichnung falsch ist, weil das nichts mit Affen zu tun hat, sondern mit Zecken. Leider wird eine von uns Frauen ihren Nizar erst finden, wenn sie sich von einer seiner Schwestern »befreit« und sich die romantische Liebe aus einem Schwarz-Weiß-Film in eine Liebe im Gefängnis verwandelt. Ach, mein Herz, sei nicht traurig!Ich habe mir das Haar zerzaust, die Lippen mit grellem Rot beschmiert, neben mir steht ein Teller mit Kartoffelchips, die mit Zitrone und Pfeffer gewürzt sind. Alles ist bereit für den ersten Skandal.
Madame Susan rief an, um Sadim, die sich mit Kamra hinter dem Vorhang versteckte, mitzuteilen, dass das Band mit der Hochzeitsmusik immer noch hänge, man aber dabei sei, den Schaden zu beheben. »Sprich mit der Süßen und beruhige sie. Die Leute werden schon warten, noch ist keiner weggelaufen. Außerdem kriegen alle coolen Bräute, die ein bisschen zu spät kommen, Dispens.«Kamra war nahe daran zusammenzubrechen. Ihre Mutter und ihre Schwester Hussa schrien die Organisatorin des Fests so laut an, dass es noch am anderen Ende des Saals zu hören war. Von Skandal war die Rede und von einer Unglücksnacht. Sadim wich nicht von Kamras Seite. Sie wischte ihr den Schweiß von der Stirn, bevor er sich mit den Tränen vermischte, denen Tonnen von Augenschminke den Weg versperrten.Plötzlich erfüllte Mohammed Abdus Stimme den riesigen Saal, und Madame Susan gab Sadim ein Zeichen, dass es losgehe. Sie stieß Kamra mit dem Ellbogen in die Seite. »Los, wir sind dran.«Nachdem Kamra dreimal einen Zauberspruch gegen Neider geflüstert hatte, hörte sie auf, hektisch über ihr Kleid zu streichen. Sie zog noch einmal den Rand des Ausschnitts hoch, der, weil er ständig hinunterrutschte, den Ansatz ihrer kleinen Brüste sehen ließ. Dann stieg sie die Marmortreppe hinunter, wobei sie die Füße genau so setzte, wie sie es mit ihren Freundinnen geprobt hatte - fünf Sekunden sollten zwischen den einzelnen Schritten liegen, sie aber zögerte den nächsten Schritt sogar um sechs Sekunden hinaus. Vor jedem Schritt pries sie Gott und betete, Sadim möge nicht auf die Schleppe treten und das Brautkleid hinunterziehen, oder dass sie selbst nicht, wie in einem dieser komischen Filme, den Saum erwischte und lang hinfiel. Was jetzt ablief, hatte mit der Probe nichts zu tun. Da hatte es keine tausend Frauen gegeben, die jeden ihrer Schritte genau beobachteten und aufpassten, ob sie flüchtig zur Seite blickte oder gar lächelte. Da hatte es auch keine Fotografin gegeben, die sie mit ihren flashes blendete. Angesichts des grellen Lichts und all der Augen, die sie verfolgten, kam ihr eine Hochzeit im engsten Familienkreis, die sie auf keinen Fall hatte haben wollen, wie ein wunderbarer Traum vor. Da hätte sie nicht diesen quälenden, stundenlangen Albtraum ertragen müssen.