Schweitzer Fachinformationen
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»Tschö zusammen!«
Hans winkte seinen Kameraden. Obwohl er nicht sonderlich gerne zur Schule gegangen war, fiel ihm der Abschied schwer. Heute hatten sie das Abschlusszeugnis von der Volksschule bekommen. Danach hatten sie noch eine Zeit lang im Pausenhof gestanden und über ihre Zukunftspläne gesprochen. Jeder schien ganz genau zu wissen, wohin es ihn in den nächsten Jahren zog. Die meisten seiner Freunde hatten einen Lehrvertrag in der Tasche oder würden auf dem elterlichen Hof mitarbeiten, um ihn eines Tages zu übernehmen. Nur Hans hatte geschwiegen. Seine Zukunft lag noch in völliger Dunkelheit.
Missmutig kickte er einen Fichtenzapfen vor sich her. Es war nicht, dass er nicht wüsste, was er wollte. Im Gegenteil: Er wusste es ganz genau. Nur deckten sich seine Wünsche nicht mit den Vorstellungen seines Vaters. Und im Hause Riegel war das, was Peter Riegel für richtig hielt, Gesetz.
In der Schule war Hans immer derjenige gewesen, der gemeinsame Unternehmungen organisierte, die Kasse für Ausflüge verwaltete und als einer der Ersten in die Sportmannschaft gewählt wurde. Seine Klassenkameraden hatten ihn respektiert, und seine Meinung hatte Gewicht gehabt. Doch mit jedem Schritt, dem er dem Bauernhof seiner Familie näher kam, verwandelte er sich zurück in einen unbeholfenen Jungen, dessen Wort nichts zählte. Es war, als würde er immer ahnungsloser und unselbstständiger werden, je näher er dem Elternhaus kam.
Im warmen Schein der Nachmittagssonne lag der Hof friedlich inmitten von Feldern von Möschebohnen, die strahlend weiß blühten. Hans liebte die Suppe, die seine Mutter im Herbst und im Winter aus diesen Stangenbohnen zubereitete. Außerdem baute sein Vater noch Maiwirsing und Weißkohl an. Doch für Hans stand diese Idylle, die sich vor seinen Augen ausbreitete, vor allem für Enge und Stillstand. Er wollte hinaus in die Welt! Etwas sehen, etwas erleben, etwas schaffen, etwas Eigenes aufbauen. Nichts schien ihm fader, als den ausgetretenen Fußstapfen seines Vaters zu folgen, der neben seiner Arbeit auf dem Bau diesen kleinen Hof bewirtschaftete.
Er schob das Gartentor auf und ging auf das Haus zu, vorbei an den Apfel- und Birnbäumen, die dank des milden Klimas im Rheinland reiche Frucht trugen.
»Hans, Hans, hast du ein gutes Zeugnis gekriegt?«, hörte er eine aufgeregte Kinderstimme hinter sich.
Sein Bruder, der fünfjährige Paul, lugte hinter einem Holunderbusch hervor. Eigentlich hieß er ja - benannt nach dem deutschen Kaiser - Wilhelm Paulus, aber so wurde er nur gerufen, wenn jemand zornig mit ihm war. Was gar nicht so selten vorkam, denn er war ein richtiger Lauser. Der dreijährige Martin spielte neben dem Weg im Gras mit Bauklötzen und war darin so vertieft, dass er die Ankunft des ältesten Bruders gar nicht bemerkte.
»Es ist überraschend gut«, antwortete Hans zufrieden.
Er war in der Schule immer nur mittelmäßig gewesen, weil ihn der Unterricht gelangweilt hatte. In seiner Klasse mit achtundvierzig Kindern aus vier Jahrgangsstufen hatte er meist seinen eigenen Gedanken nachgehangen. Da er sich dabei still verhielt, hatten ihn die Lehrer in Ruhe gelassen, und er hatte nur selten den Rohrstock zu spüren bekommen. Das Wenige, was er trotz seiner Unaufmerksamkeit mitbekommen hatte, reichte oft nur knapp, um versetzt zu werden.
Doch im letzten Jahr hatte er Fleiß an den Tag gelegt. Ihm war klar, dass er für eine Bewerbung ein gutes Zeugnis brauchte. Zu seiner Überraschung - und der seiner Lehrer - hatte er sich mit dem Lernen leichtgetan. Erst in den vergangenen Monaten hatte er erkannt, dass er ein Verständnis für Zahlen hatte. Seine Aufsätze, in die er mehr Zeit investiert hatte als zuvor, waren fantasievoll und spannend, wie seine Deutschlehrerin mit unverhohlener Verwunderung bemerkte, auch wenn sie seine Rechtschreibung bemängelte. Daher war das Zeugnis, das er nun in seinem Ranzen hatte, deutlich besser als die früheren.
»Das wird Vater freuen«, meinte Paul.
Hans zuckte nonchalant mit den Schultern. Doch auch er hoffte, dass sein Vater stolz auf ihn sein würde. In einer guten Stimmung wäre es einfacher, das schwierige Gespräch zu führen, das ihm bevorstand.
Als er die Haustür öffnete, schlug ihm der Duft von Füllwammes entgegen, dem Linseneintopf seiner Mutter, und ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Seine neunjährige Schwester Aga deckte gerade den großen Holztisch.
»Tach, Hans! Wasch dir die Hände. Gibt gleich zu essen«, sagte Agnes Riegel, die am Herd beschäftigt war, ohne sich umzudrehen.
Hans musste lächeln. Früher hatte er geglaubt, seine Mutter habe Zauberkräfte. Sie wusste immer, ohne hinzuschauen, wer hereinkam und ob es Wasser und Seife bedurfte. Inzwischen erklärte er sich ihre Allwissenheit damit, dass sie die Schritte ihres Mannes und ihrer fünf Kinder auseinanderhalten konnte und dass sie außerdem davon ausging, dass ihr Nachwuchs immer dreckige Hände hatte.
Agnes Riegel war das Herz der Familie. Obwohl sie stets irgendetwas zu tun hatte, hatte sie jederzeit ein offenes Ohr für jeden. Sie war eine kleine, resolute Frau, die den harten Alltag auf dem Hof mit Gelassenheit und Humor nahm. Wie gewöhnlich trug sie auch heute ein schlichtes Baumwollkleid mit einer Schürze darüber und hatte ihr dunkelblondes Haar mit den grauen Strähnen zu einem einfachen Knoten festgesteckt.
Hans' Schwester verteilte den zähen braunen Eintopf, in den Möhren und Kartoffeln aus dem eigenen Garten hineingeschnippelt waren, auf die Teller. Nur mit dem Kassler hatte die Mutter gespart, wie Hans enttäuscht feststellte.
Als alle am Tisch saßen, ging es wie immer hoch her. Martin zog Aga an den Haaren, der zehnjährige Peter, nach Hans der zweitälteste Riegel-Spross, versuchte unauffällig, ein Stück Schweinefleisch aus dem Topf zu stibitzen, bis ihn der drohende Blick seiner Mutter traf, und Paul wollte unbedingt sein Spielzeugauto aus dem Garten holen. Doch auf einmal wurden alle still. Sogar Paul hörte schlagartig auf zu quengeln. Der Vater war nach Hause gekommen.
Hans kam äußerlich nach ihm. Beide waren sie über einen Meter achtzig groß, hatten dickes braunes Haar und eine hohe Stirn. Doch damit endeten die Ähnlichkeiten auch schon. Wo Peter Riegel sein Leinenhemd mit breiten Schultern und muskulösen Armen ausfüllte, war Hans beinahe mager.
Der Hausherr setzte sich auf seinen Platz am Tischende, nickte kurz in die Runde und griff nach dem Löffel. Das war das Zeichen, dass alle mit dem Abendessen beginnen konnten. Außer dem Geklapper von Besteck war nichts mehr zu hören.
Nachdem Peter Riegel seinen Teller geleert hatte, wandte er sich an Hans: »Wie ist dein Zeugnis ausgefallen?«
»Nicht schlecht.« Hans zuckte mit den Schultern, als wäre es keine große Sache.
»Gut«, brummte der Vater.
»Willst du es sehen?«
»Ist nicht so wichtig. In Zukunft zählt nur, dass du anpacken kannst. Und das hast du bei uns auf dem Hof gelernt.«
Hans nickte.
»Ich habe mit Herrn Röhrig geredet. Du kannst dich dort morgen vorstellen.«
»Aber .«
»Keine Sorge, das ist reine Formsache. Er hat mir schon zugesagt, dass er dich nimmt.« Man konnte dem Vater anhören, wie stolz er darauf war, dass sein Sohn ohne Zögern eingestellt werden würde, weil sein Chef mit Peter Riegels Arbeit so zufrieden war.
»Aber Vater, ich will überhaupt nicht auf den Bau«, sagte Hans, wie schon viele Male zuvor.
»Wie? Du willst nicht auf den Bau?«
Der überraschte Tonfall ärgerte Hans. Denn das sagte er seinem Vater seit einem Jahr fast täglich, doch der wollte es einfach nicht hören.
»Was willst du denn dann machen?«
»Ich würde gerne .« Er brach unsicher ab, als er den Zorn in den Augen seines Vaters sah.
»Keine Ahnung, was du machen willst, aber was ich mache, ist dir nicht gut genug?« Tiefe Enttäuschung schwang in Vaters Stimme mit.
»Natürlich ist es mir gut genug. Aber ich bin anders als du.«
»Was meinst du mit anders?«
Hans glaubte etwas Lauerndes im Blick seines Vaters wahrzunehmen. Jetzt durfte er nichts Falsches sagen.
»Du bist glücklich auf dem Bau und auf dem Hof. Du willst hier nicht weg. Mich aber zieht es hinaus in die Welt. Ich will einmal in einer Stadt leben, neue Menschen kennenlernen, raus aus Friesdorf.« Er hielt die Luft an, bang, wie sein Vater reagieren würde.
»Das sind doch Flausen! Raus in die Welt? Und dann? Wovon willst du leben?«
»Ich weiß schon, was ich machen will«, sagte Hans mit dem Mut der Verzweiflung. »Ich würde gern in einer großen Fabrik arbeiten. Am liebsten in der Lakritzherstellung.«
»Du hast doch nur Kappes im Kopf! Was willst du denn in einer Fabrik? Da bist du nur ein kleines Lichtlein. Mit der Maurerkelle in der Hand siehst du jeden Abend, was dein Tagwerk war. Du hilfst mit, Dinge zu erschaffen. Das schätzen die Leut'.«
»Martin will Maurer«, meldete sich der Kleinste zu Wort und sah sich suchend nach seinen Bauklötzen um.
Hans ließ sich nicht ablenken. »Der Bau interessiert mich nicht. Ich will lernen, wie man Lakritze und Bonbons herstellt. Ich habe schon bei der pharmazeutischen Fabrik in Godesberg nachgefragt .«
»Du hast was?«, brüllte der Vater so laut, dass Paul den Kopf einzog und Aga sich erschrocken an die Mutter schmiegte. »Ohne meine Zustimmung?«
Dieses Mal würde Hans sich nicht einschüchtern lassen. »Du hättest sie mir ja doch nicht gegeben. Bei Kleutgen & Meier...
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