Jutta Rosenkranz
Besuchszeiten
Das ist gegen die Vorschrift, erklärt die Frau am Schreibtisch hinter dem Tresen und setzt ihre Brille auf, während Vera erwidert: Ich bleibe hier, bis Sie mich noch einmal zu ihm hineinlassen. Die Frau erhebt sich langsam, geht auf Vera zu und sagt vorwurfsvoll: Sie waren heute Vormittag schon bei uns. Vera lässt sich nicht beirren und wiederholt: Ich muss noch einmal zu ihm, aber allein. Sie weiß, jetzt kommt es darauf an, es gibt keine zweite Chance. Sie muss sich durchsetzen, selbstbewusst auftreten, auch wenn sie sich nicht so fühlt. Danach hat noch nie jemand gefragt, sagt die Frau und schaut Vera verwundert an. Als ob das ein Grund wäre, denkt Vera und antwortet: Dann bin ich die Erste. Die Frau wiederholt, dass es gegen die Vorschrift sei und erklärt: Es muss immer jemand dabei sein. Warum, fragt Vera. Sie könnten ohnmächtig werden und umfallen. Vera erwidert ruhig: Das Risiko gehe ich ein. Sie denkt bei sich: Wie sehr störten Atem, Augen und Ohren der beiden Fremden, die vormittags neben der Tür standen und sich vergeblich bemühten, ihre Anwesenheit zurückzunehmen. Die Frau zögert, geht zum Schreibtisch, nimmt den Telefonhörer, wählt, spricht leise, legt auf, kommt zum Tresen zurück und verkündet: Morgen Vormittag um elf, ausnahmsweise, aber nur eine Viertelstunde. Vera bedankt sich und bittet darum, einen Stuhl in den Raum zu stellen. Erstaunt erwidert die Frau: Dort wollte noch nie jemand sitzen.
Fünf vor elf. Vera drückt auf die Klingel und wartet. Niemand öffnet. Ein leichter Druck gegen den runden Knauf und die Tür gibt nach. Vera betritt den dunkelbraun gefliesten Raum und schließt die Tür. Sofort vertreibt eine harte Kälte die Sommerwärme von ihrer Haut. Der offene Sarg steht in der Mitte, daneben ein Stuhl. Das blasse Gesicht. Graue Barthaare. Geschlossene Augen. Die Hände über der Brust gefaltet. Eine Geste, die Vera bei ihm nie gesehen hat, solange er lebte. Gelbliche Haut. Ohrläppchen und Fingerkuppen sind blau. Warum hat sie ihn nicht vor zwei Wochen im Krankenhaus besucht? Es ist nichts Ernstes, du musst nicht kommen. Wir treffen uns hinterher. Vera war froh, ihre Alltagsplanung nicht ändern zu müssen. Vorsichtig betastet sie seine Wange. Eiskalt. Schnell zieht sie die Finger zurück. Streicht über die Barthaare. Weich und warm. Die Nase ragt empor. Lebensnah ist sein Gesicht und doch so weit entfernt. Der Ausdruck wirkt fast heiter.
Ohne Brille sieht er fremd aus. Vera weiß nicht, welche Brille er noch vorgestern trug. Dicke Gläser mit dunklem Rand? Komm, sagt er, wir fahren noch einmal. Überall Weiß. Sie sausen den Abhang hinunter. Er sitzt hinter ihr und hält sie fest. Sie rasen auf einen Baum zu. Vera schreit, lacht, ruft. Kurz vor dem Stamm bremst er den Schlitten, sie fallen in den Schnee. Überall Weiß. Seine Brille ist beschlagen. Eine Schneeflocke schmilzt auf seiner Nase. Sie ist eiskalt. Seine Nase - nein - eine tote Nase. Warum ist Vera nicht einfach hingefahren? Sie berührt die Stirn. Fremde, endgültige Kälte. Überall Weiß. Das Kissen, das Hemd, die Decke. Grausames Weiß. Vera schließt die Augen und lässt die Tränen kommen. Warum trägt er kein eigenes Hemd? Dieses weiße, steife Totenhemd mit dem großen Kragen und der kleinen Schleife sieht unecht aus. Seine Hände liegen auf der Decke, ragen aus den weiten Ärmeln mit dem breiten Umschlag. Über der Brust akkurat gebügelte, parallele Falten. Warum hat sie nicht alles stehen und liegen lassen? Es ist nichts Ernstes. Wie lang ist dieses hygienisch glänzende weiße Hemd? Bedeckt es die Knie? Die Füße? Vera traut sich nicht, die Decke anzuheben und nachzusehen, ob die Zehen ebenfalls blau sind. Tragen Tote eine Unterhose? Veras Augen halten sich an den plissierten Falten fest, doch das erstarrte Gesicht lässt sich nicht verdrängen. Die Nase, die Lippen, die Ohren, die Augenlider. Tote Einzelheiten. Auch die senkrechten Stirnfalten über der Nasenwurzel sind zu erkennen. Leise summen die Neonröhren. Kein Schatten. Das Licht schmerzt. Vera schließt die Augen. Unter ihren Lidern wird das Weiß dunkel. Darf ich zu dir ins Bett? Er nickt. Ganz eng drückt sie sich an seinen warmen Körper. Lass Mutti noch schlafen, flüstert er Vera ins Ohr, streicht ihr übers Haar und legt seinen Arm um sie. Sie kuschelt sich in das Nest zwischen Brust und Armbeuge. Die Wärme hält sie fest. Unerträglich wird die Stille. Vera öffnet die Augen und geht langsam um den Sarg. Auch die Decke glänzt weiß und hygienisch. Der Sarg ist aus dunkelbraunem Holz, der Deckel lehnt hochkant an der Wand. Am oberen Ende klebt ein kleines, weißes Schild mit der Nummer 301927. In der Nacht vor seinem Tod träumte sie, dass sie in einer Werkstatt einen Sarg aus Pappe bauen sollte, aber sie wusste nicht, für wen. Am Morgen notierte Vera den Traum, den sie nicht deuten konnte, und frühstückte, telefonierte, schrieb einen Brief und eine Einkaufsliste, erledigte, was der Montag von ihr forderte. Bis es abends klingelte und sie erfuhr, dass Vater im Morgengrauen gestorben war. Nein, schreit sie, nein, nein, nein. Ich will nicht. Er hält sie fest, stößt sie vor sich her ins Badezimmer. Sie kann sich nicht befreien aus seinem Griff. Schreit, tobt, wehrt sich. Er zerrt sie zum Waschbecken, dreht den Hahn auf und lässt Wasser einlaufen bis zum Rand. Vera schreit und stemmt sich gegen seine Hand, die ihren Kopf hinunter drückt. Plötzlich schlagen ihre Zähne an die Waschbeckenkante. Er lässt sie los. Im Wasser liegt ein Stück Zahn. Vera heult. Er schimpft, warum hast du dich gewehrt? Mutti kommt ins Bad. Sie streiten. Vera sucht die Lücke mit der Zunge und schaut in den Spiegel. Am Vorderzahn fehlt eine Ecke. Sie weint und lernt die Lüge: Beim Spielen hingefallen. Vera presst die Lippen zusammen. Sein Mund ist geschlossen. Sei immer schön vorsichtig, sagt er bei jedem Anruf. Eine leise, eindringliche, weiche Stimme. Vera versucht, sich an ihren Tonfall zu erinnern. Kann ihren Klang nicht mehr herstellen. Warum haben sie nur fünf Minuten miteinander telefoniert? Es ist nichts Ernstes. Komm nicht. Vielleicht wollte er nicht, dass sie ihn hilflos sieht. Das Schweigen am Telefon, wenn man die wahren Worte nicht wagt. Zu spät, hämmert es in ihrem Kopf, vorbei. Vera schließt die Augen. Ihr wird schwindelig. Sie stellt den Stuhl neben das Kopfende des Sarges und setzt sich. Warum wollte hier noch nie jemand sitzen? Es ist angenehm, sich einen Moment anzulehnen. Den Blick abzuwenden vom Vater, vom Toten, von der Leiche. Nein, das Wort passt nicht. Noch nicht. Seit der Kindheit hat sie ihn nicht mehr zwei Tage hintereinander gesehen. Vorsichtig streicht sie über die gefalteten Hände. Ungewohnte Kälte. Diese Hände haben sie gewickelt, gefüttert, geohrfeigt, ins Bad gezerrt, ihr übers Haar gestrichen. Warum sind die Fingerkuppen blau? Die Stuhllehne ist hart. Plötzlich wird es Vera warm. Sie steht auf, setzt sich, steht auf, läuft um den Sarg. Im Uhrzeigersinn. Setzt sich, steht auf. Wie klein der Kopf ist. Vera will gehen. Sofort. Nein, bleiben. Sich setzen, aufstehen, schreien, weinen, schweigen. Die Stille wird eng. Jeden Moment kann jemand hereinkommen. Wie viele Minuten sind vergangen? Vera blickt zur Uhr. Zwölf Minuten nach elf. Die Tür wird sich öffnen, der Friedhofsangestellte wird ihr sagen, dass sie gehen muss. Zwei Türen hat der gekachelte Raum. Eine öffnet sich zum Friedhof. Wohin führt die andere? In die Kühlkammer? In den Verbrennungsraum? Woher kommt diese Kälte? Ist sie echt? Ist der Tod wirklich so kalt? In einem Film im Fernsehen wurde einmal die Arbeit der Friedhofsbeschäftigten gezeigt. Die Särge mit den Toten werden im Leichenkühlschrank übereinander in Etagen gestapelt. Jeder Sarg hat eine Nummer. Gestern haben sie ihn hineingeschoben und heute, wahrscheinlich gegen halb elf, wieder herausgezogen. Vera sucht ein Taschentuch. Sie haben ihn in diesen Raum gerollt und den Sargdeckel abgenommen. Nachher werden sie den Deckel wieder schließen und den Sarg mit ihrem Vater, nein, mit der Leiche Nummer 301927 zurück in ein Fach schieben und die Tür der Kühlkammer schließen. Warum hat sie nicht noch einmal nachgefragt: Soll ich dich wirklich nicht besuchen? Ich muss jetzt gehen, verkündet Vater und steht auf. Vera räumt die Spielfiguren in die Schachtel. Wieder haben seine roten Steine gewonnen. Eine Barrikade nach der anderen hat er vor ihre blauen Steine gesetzt, damit sie nicht weiterkommt, während er zum Ziel eilt. Du musst lernen zu gewinnen, sagt er. Malefiz ist wie das Leben. Immer neue Stolpersteine liegen im Weg. Es kommt darauf an, sich nicht aufhalten zu lassen, die Steine wegzuräumen und weiterzugehen bis zum Ziel. Oder Umwege zu finden. Schnell legt sie das Spielbrett in die Schachtel und schließt den Deckel. Vater ist schon an der Tür. Ich muss los, wiederholt er, während Vera seinen Arm festhält. Seine Stimme wird hart und ungeduldig: Immer diese verlängerten Abschiede. Tschüss, sagt er laut und reißt sich los. Die Tür schlägt zu. Vera rennt zum Küchenfenster, beobachtet, wie er zum Parkplatz läuft, ins Auto steigt und...