Schweitzer Fachinformationen
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Die Erinnerungen an meine Kindheit beginnen immer auf einer Holzschaukel in einem dunkelblauen Kleid im Garten meiner Oma Lina. In meiner Erinnerung war dieser Garten hinter ihrem kleinen Reihenhaus riesig. Es gab alle möglichen Arten von Obstbäumen: Apfel, Birne, Pflaume, Kirsche. Und an seinem Ende standen fünf große Johannisbeersträucher, aus deren Ernte meine Oma im Sommer immer Marmelade kochte.
Wenn ich heute auf dem Markt frisches Obst rieche, fühle ich mich sofort zurückversetzt in diesen Garten meiner Kindheit. Die Holzschaukel befand sich in der Nähe der Wäscheleine, an der bei gutem Wetter Handtücher, Bettwäsche oder Schürzen im Wind flatterten. Ich liebte es zu schaukeln, legte all meine kindliche Kraft in den Schwung, um möglichst hoch zu kommen. Mindestens höher als die Wäscheleine, gefühlt aber so hoch, dass ich den Himmel berühren konnte.
Angst? Niemals! Das, was ich spürte, war Freiheit. Und Oma saß auf ihrer Terrasse und schaute der fünfjährigen Mirja mit liebevollem Blick zu. Das war die wahrscheinlich unbeschwerteste Zeit meines Lebens.
Meine große wunderbare Familie passte immer auf mich auf und alle achteten darauf, dass es mir gut ging. Allein war ich so gut wie nie und die Liebe von und zu ihnen allen spürte ich zu jeder Zeit. Zu meiner Oma Lina hatte ich immer eine besonders enge Bindung. Sie war die Mutter meines Vaters (und vier weiterer Söhne) und hatte ein unglaublich großes Herz. Eine schlanke, kleine Frau mit einer irgendwie edlen Ausstrahlung und stets sehr gepflegt. Alle sagten, dass ich ihr verblüffend ähnlich sehe.
Mein Cousin Lars und ich verbrachten jede freie Minute bei ihr und meinem Opa im Haus, da meine Eltern beide berufstätig waren. Mein Vater Lothar war Ingenieur für Seilwinden und meine Mutter Heidi arbeitete in einer Boutique in Celle. Sie verdienten zusammen gutes Geld und konnten sich selbst und mir viele schöne Dinge ermöglichen. In Celle bauten sie für uns ein großes Haus in einer wunderschönen Wohngegend mit unglaublich lieben Nachbarn. Dort fühlte ich mich auch immer sehr wohl. Da mein Vater ein absoluter Autoliebhaber ist, hatten wir auch immer das coolste Auto vor der Tür. Unter anderem besaßen wir eine Zeit lang einen Alfa Romeo. Was damals noch sehr ungewöhnlich war: Er hatte elektrische Fensterheber. Das war der Knaller. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich voller Stolz die Fenster auf und zu machte, wenn mein Papa mich zu Schule brachte. Natürlich so, dass meine Schulkameraden das Wunder der Technik auch gut sehen konnten. Auch heute noch habe ich eine Schwäche für schöne Autos, die ich eindeutig von meinem Vater geerbt habe.
Den Sommer verbrachten wir meistens in Spanien, mit Papas Bruder Karsten, auch Gronki genannt, und seiner Familie oder mit Freunden meiner Eltern. Was für wunderschöne Erinnerungen ich an diese Zeit habe! Schwimmen lernte ich in einem spanischen Hotelpool. Erst mit zwei Schwimmflügeln, dann nur noch mit einem, schließlich ganz ohne. Und wie hoch mich mein Vater im Pool in die Luft geworfen hat. Da war es wieder, das Gefühl von Freiheit. Wir machten auch viele Bootstouren, und wenn die Sonne unterging, lag ringsumher das Zirpen der Grillen in der Luft.
Ich war umgeben von Menschen, die sich liebten, die mich liebten, und alles fühlte sich leicht, friedlich und unheimlich schön an.
Meine Mutter Heidi hat auch noch drei weitere Geschwister, also kann man sich vorstellen, dass es bei Familientreffen oder Geburtstagen ziemlich eng werden konnte. Weihnachten verbrachte der größte Teil unserer Familie immer bei meinen Großeltern väterlicherseits. Die Stimmung war an diesen Feiertagen sehr festlich. Alle zogen sich am Heiligabend schön an, auch ich trug immer mein bestes Kleid.
Am tollsten war jedoch etwas anderes: Gemeinsam mit meiner Großmutter durfte ich den Baum schmücken. Vorsichtig hängte ich die Kugeln an die Äste, platzierte einen Stern dort und einen Engel da, bis der Christbaum in seiner ganzen Pracht erstrahlte. Das machte mich Jahr für Jahr sehr glücklich, denn bei meinen Eltern herrschte ab dem Mittag des Heiligabends strengstes Wohnzimmerverbot. Erst zur Bescherung durfte ich hinein und das festlich leuchtende Prachtstück bestaunen. Diese Tradition habe ich später als Mutter auch beibehalten. Ins Wohnzimmer kommen meine Kinder erst zur Bescherung, wenn ich das kleine Glöckchen läute - selbst wenn sie inzwischen beide fast erwachsen sind.
Bei meiner Oma Lina, da fühlte ich mich immer geborgen und glaubte, dass uns niemand je trennen könnte. Als geliebtes Kind gehört dir die Welt und nichts kann sie erschüttern. Aber schon ziemlich früh hatte ich ein merkwürdiges Gefühl von Verlustangst in mir. Ich weiß es noch wie heute. Ich war sechs Jahre alt und lag im Bett meines Kinderzimmers. Draußen ging gerade die Sonne unter, als mich ein schreckliches Gefühl überkam: Was wäre, wenn eines Tages meine Eltern oder Großeltern sterben würden? Mich einfach alleinließen? Unvorstellbar!
Ich lief in den dunklen Flur, als gerade meine Mutter aus dem Wohnzimmer kam. Die Tränen liefen mir die Wangen herunter, während ich in ihre Arme sank. Erschrocken schaute sie mich an, als ich ihr sagte, dass ich Angst hätte, sie könnte eines Tages sterben. Und dass ich das nicht ertragen könnte. Zärtlich streichelte sie mir über den Kopf und sagte, dass es noch sehr lange dauern würde, bis sie und Papa alt wären und sterben müssten. Da wäre ich dann ja auch schon groß und hätte meine eigene Familie. Das beruhigte mich. Ich glaube, das war so ein Moment, den viele Kinder erleben und in dem das Unterbewusstsein seine eigentliche Arbeit beginnt: Wie bei einem Eisberg verdeckt die Oberfläche die Angst und begräbt sie unter sich. Verdrängung ist nicht immer ein schlechtes Hilfsmittel, um beruhigt sein eigenes Leben leben zu können .
Und meine Mutter hatte ja recht: Bis sie alt wären, würde noch so viel Zeit vergehen, schließlich war ich erst sechs Jahre alt und von Krankheiten hatte ich zu diesem Zeitpunkt auch keine Ahnung. Fürs Erste war ich damit zufrieden.
Doch drei Jahre später holten mich diese schlimmen Gedanken wieder ein. Ich erinnere mich nicht mehr, was genau es für ein Wochentag war. Ein ganz normaler Tag halt, an dem ich, wie so oft, mit dem Fahrrad zu meinen Großeltern fuhr. Wahrscheinlich freute ich mich auf ein Stück Kuchen, ein paar Süßigkeiten, ein wenig Kuscheln. Doch als ich mit meinem Fahrrad in die Straße von Oma Lina bog, stand ein Krankenwagen vor ihrer Tür. Mir war sofort klar, dass etwas nicht stimmte. Angst, ja Panik stieg in mir hoch. Was war da passiert? Wem ging es schlecht? Und wie schlecht ganz genau?
Mit diesen Fragen im Kopf rannte ich ins Haus. Vorbei an meinem Opa und Onkel Achim, der ebenfalls dort war. Als ich in das Schlafzimmer stürzte, lag Oma Lina im Bett. Herzprobleme, hieß es. Als sie mich anlächelte, durchfuhr mich ein Schauer. "Es ist alles nicht so schlimm, mein Schatz", hauchte sie mit zerbrechlicher Stimme. "Wenn ich eines Tages mal sterben werde, komme ich in den Himmel, und da wird es mir viel besser gehen als jetzt."
Sie war eine tiefgläubige Frau, ging jede Woche in die Kirche und hatte immer ihr kleines rotes Gesangbuch in der Nachttischschublade. Das Buch, was mich aber immer am meisten interessierte, lag in ihrem Kleiderschrank neben ihrem Schmuck: die Bibel ihrer Mutter, Helene Dierking. Mit dem schwarzen Lederumschlag, den goldenen Lettern und den Initialen ihrer Mutter zog das Buch mich magisch an. Es wirkte so wichtig, und es war untrennbar mit unserer Familiengeschichte verbunden. Viel gelesen habe ich als Kind nicht darin, denn die altdeutsche Schrift zu entziffern fiel mir schwer. Doch ich besitze dieses Buch heute noch und halte es in Ehren. Oft blättere ich durch die Seiten und bleibe an Stellen hängen, die meine Oma seinerzeit mit einem Stift markiert hat. Dann versuche ich zu verstehen, warum ihr dieser Vers besonders wichtig war.
Es ist, als gäbe es eine zwar unsichtbare, aber deutlich spürbare Verbindung zwischen dieser Bibel und mir. Und diese Verbindung bestand bereits, als ich noch ein Kind war, sogar ungetauft, denn meine Eltern hatten mich nicht taufen lassen, da sie fanden, dass ich mir selbst überlegen sollte, an was oder wen ich glauben wolle. Sie waren immer sehr tolerant und ließen allen Menschen ihre Ansichten, ohne sie zu kritisieren. Ein toller Wesenszug, den sie lebten und der auch auf mich abfärbte.
Seit diesem Tag hatte ich immer ein mulmiges Gefühl, wenn ich in die Straße meiner Großeltern einbog, und den Anblick des Rettungswagens sollte ich auch wirklich noch öfter ertragen müssen. Selbst in meinen Träumen verfolgt mich diese Episode von damals. Nicht ständig, aber immer mal wieder träume ich davon, wie ich mit meinem Fahrrad um die Ecke biege und vor einem großen Rettungswagen stehe. Das Blaulicht dreht sich, wirft wie eine Diskokugel Lichtflächen an die Fassade, und ich habe Angst.
Mein Vater wollte eigentlich immer einen Sohn. Da es aber nun mal nur mich gab, machte er mit mir all die Dinge, die er mit einem Jungen getan hätte: Ich saß hinter ihm auf dem Motorrad, an seiner Taille festgeklammert. Später durfte ich dann im Wald selbst üben zu fahren. Im Winter wurde kurzerhand mein kleiner Holzschlitten hinter sein Auto gespannt und ich wirbelte voller Freude im Schnee hin und her, während meine Mutter sich Sorgen machte. Mit sieben Jahren fuhr ich zum ersten Mal mit einer Loopingbahn. Und später folgten Freefalltower, Leichtflugzeuge und schnelle Autos. So wuchs ich auf, mit einem Körper voller Adrenalin und Liebe und ohne das Wort Angst zu kennen.
In der Schule war ich immer im...
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