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Um die Salz- und Universitätsstadt Halle an der Saale, in der damaligen preußischen Provinz Sachsen gelegen, machten die demokratischen Bestrebungen des Jahres 1848 keinen Bogen. Der Verlauf der revolutionären Bewegung und die Organisation der in ihr wirkenden Kräfte spiegelten in dieser mitteldeutschen Provinzstadt ebenso die Breite der Einheits- und Freiheitsbestrebungen wider, wie sie in ganz Deutschland am Werke waren.4 Das hallesche Proletariat bildete hierbei keine Ausnahme. Nach langer Zeit des Duldens und Leidens trat es mit eigenen Forderungen und einer ersten selbständigen Organisation hervor.
Halle zählte im Jahre 1848 etwa 32.000 Einwohner, ungefähr ein Drittel davon gehörte den proletarischen Unterschichten in ihrer ganzen Differenziertheit an. Das Proletariat der Stadt bestand zu dieser Zeit vorwiegend aus Arbeitern kleiner Werkstätten und Betriebe mit nur wenigen Beschäftigten, vor allem jedoch aus Tagelöhnern und Handarbeitern, verarmten Handwerksmeistern und Gesellen.5 Der geringste Teil der Arbeiterschaft war in Fabriken im eigentlichen Sinne beschäftigt, denn Halle schickte sich erst an, eine Industrie- und Fabrikenstadt zu werden. Erste Anfänge der Industrialisierung in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts, wie die 1835 gegründete Zuckersiederei-Companie auf Aktien, die Kröllwitzer Papiermühle mit damals 178 Arbeitern, die - noch vor den Toren der Stadt gelegenen - ersten Maschinenbaubetriebe in Giebichenstein, die beiden 1842 eröffneten Wagenbaufabriken und der noch in den Anfängen steckende industriemäßige Abbau von Braunkohle reichten bei weitem nicht aus, die Nachfrage nach Arbeit zu decken und gaben nur etwa 700 Arbeitern dauerhaft Lohn und Brot. Dazu kam, dass sich ein großer Teil der Handwerksmeister und - gesellen durch den Verfall der traditionellen Gewerbe wie Tuch- und Handschuhmacherei in seinen Einkommens- und Lebensverhältnissen kaum von dem der eigentlichen proletarischen Schichten unterschied. Allgemein beklagten die Bürger die Nahrungslosigkeit in Halle. Die materielle Not wurde durch unwürdige Wohnverhältnisse und geistig-kulturelles Elend noch verschärft.
Für ein kinderloses Proletarierehepaar betrug - auf ganz Preußen bezogen - das Existenzminimum, das lediglich das nackte Überleben sicherte, 124 Reichstaler (Rtlr.), vorausgesetzt der Roggenpreis pro Scheffel überstieg einen Taler (Tlr.) nicht wesentlich. Der durchschnittliche Jahreslohn eines Handarbeiters betrug etwa 135 Reichstaler. Für eine fünfköpfige Arbeiterfamilie, wiederum auf ganz Preußen bezogen, wurde das absolute Existenzminimum auf 174 Rtlr. jährlich6 oder etwa 3½ Rtlr. wöchentlich "mit Rücksicht auf die ungefähre Beihilfe von Frau und Kindern"7 veranschlagt. Der Tagelohn mancher Handarbeiter in Halle betrug Ende 1848 acht Silbergroschen (Sgr.).8 Er hätte jedoch 13 Sgr. betragen müssen, um die nötigsten Lebensbedürfnisse zu befriedigen, wie ein anonymer Handarbeiter errechnete: "5 Sgr. (in Brod, 5 Sgr. für Mittags- und Abendessen, 1 Sgr. für Feuerung, 2½ Sgr. für Miethe, ½ Sgr. für Oel macht 13 Sgr. täglich, wo noch nichts für Anzug - oder sonst vorkommende Fälle erwähnt ist."9 Zudem sei zu berücksichtigen, dass ein Arbeiter zwischen drei und sechs Kinder zu versorgen habe.
Legt man zugrunde, dass der preußische Taler zu jener Zeit 30 Sgr. wert war und an sechs Tagen in der Woche gearbeitet wurde, bedeutete dies für jenen Handarbeiter einen Wochenlohn von 1 Tlr. 18 Sgr. Das war etwa die Hälfte des Existenzminimums. Nur wenn seine Frau und eines oder sogar mehrere Kinder für Lohn arbeiteten, konnte die Familie ungefähr 13 Sgr. am Tag verdienen, um den - von dem Ungenannten angegebenen - Mindestbedarf zu sichern. Dabei ist außerdem zu bedenken, dass allein die Preise für das Grundnahrungsmittel Brot in Halle stark differierten. Ein Roggenbrot kostete fünf Silbergroschen, konnte im Gewicht jedoch zwischen 4 Pfund 16 Lot (2.104 g) und 8 Pfund 12 Lot (4.384 g) differieren.10 Mitte der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts war auch in der Saalestadt auf Grund der niedrigen Löhne die Hungersnot eine chronische Erscheinung für die meisten Proletarierfamilien.11 Vielfach waren daher Handarbeiterfamilien, die in den Wintermonaten über kein Einkommen verfügten, auf Almosen aus der Armenkasse angewiesen.
Besonders drückend war die Lage der Proletarierinnen, deren Löhne ein Drittel, im günstigsten Falle circa die Hälfte der Männerlöhne betrugen.12 Die Frau des anonymen Handarbeiters aus Halle bekam vier Sgr. je Tag. Wenn sie viel Glück hatte, vielleicht fünf Silbergroschen. Ihr Tagelohn entsprach also maximal dem Wert des täglich benötigten Roggenbrotes. Es ist nicht verwunderlich, dass sich unter den 807 Almosenempfängern, die die hallesche Armendirektion Ende Februar 1847 im Etat der Armenkasse führte, rund 560 Frauen befanden13, die zeitweise oder ganzjährig auf Almosen angewiesen waren. Näheres ließ sich über die Lebensumstände der Frauen der proletarischen Schichten Halles in den Jahren vor der 48er Revolution nicht ermitteln.
Zur Ausbeutung durch den Arbeitgeber kam in der Ehe oftmals die Unterdrückung durch den proletarischen Ehemann, denn aufgrund der Rechtlosigkeit der Frau konnte auch der "am meisten unterdrückte Mann [...] ein anderes Wesen unterdrücken - seine Frau. Die Frau ist die Proletarierin ihres eigenen Proletariates"14, wie die Französin Flora Tristan bereits 1843 in ihrem Buch "Arbeiterunion" nicht nur im Hinblick auf die Verhältnisse in ihrem Land schrieb.
Zwar gab es seit Jahrzehnten in Halle eine gut organisierte private Wohltätigkeit, die sich auf das soziale Engagement verschiedener Frauen- und Männervereine der besser gestellten Bürger stützte, deren Wirken die ärgste Not linderte. Aber sie bekämpfte die Symptome, jedoch nicht die Ursachen des allgemeinen Elends. Einige wohlhabende Bürger in Halle nahmen sich speziell des Loses der Arbeiterinnen und der Proletarierkinder an. Zu ihnen gehörte der Fabrikant und Stadtrat Ludwig Wucherer, auf den maßgeblich die Gründung der ersten Kinderbewahranstalt 1837 zurückgeht. Im Jahre 1843 entstand eine zweite Kinderbewahranstalt für Glaucha und den Strohhof, zwei der ärmsten Stadtviertel. Proletarierfrauen konnten sich oftmals nicht genügend um ihre Kinder kümmern. Dazu fehlten ihnen ausreichende finanzielle Mittel und die notwendige Zeit für die Erziehung. Das hatten die Gründer vor Augen. Allgemein sichtbar war auch in Halle, dass viele unbeaufsichtigt gelassene Proletarierkinder, vor allem Kleinkinder, verwahrlosten, wenn ihnen nicht gar ein Unglück zustieß. Dem wollten die Gründer der Bewahranstalten abhelfen. Diese Einrichtungen standen jedoch nur Kindern von Proletarierfamilien offen, in denen beide Elternteile außer Haus ihrer Arbeit nachgingen. Die Kinder lediger Mütter, die der Fürsorge besonders bedurft hätten, wurden in die von bürgerlichen Frauenvereinen gestützten und betreuten Kinderbewahranstalten nicht aufgenommen.
Eine bürgerliche Frau, die seit den Befreiungskriegen sozial engagierte Professorswitwe Louise Bergener, unternahm in den Jahren 1840/41 einen ersten Versuch, Dienstbotinnen Bildung über das Wenige in der Armenschule gelernte hinaus zu vermitteln. Sie gründete eine Sonntagsschule für angehende weibliche Dienstboten, um Zöglinge der Stadtarmenschule, die als Dienstmädchen vermittelt wurden, auf diese Tätigkeit vorzubereiten und den Marktwert ihrer Arbeitskraft durch das Vermitteln beruflichen Wissens zu erhöhen. Dabei orientierte sich Louise Bergener an der Sonntagsschule für Handwerksgesellen und -lehrlinge' die im Jahr zuvor ins Leben gerufen worden war. Allerdings scheiterte ihr Unternehmen.15
Nur wenige weitsichtige Persönlichkeiten - wie der bereits erwähnte Unternehmer Ludwig Wucherer oder der Kaufmann Carl August Jacob - versuchten, im Zuge der Industrialisierung Arbeitsplätze und damit Erwerbsmöglichkeiten zu schaffen, um das Problem des Pauperismus generell und im Interesse der Wahrung des sozialen Friedens zu lösen. Ihre Bemühungen kamen vor 1848 aber über gelegentliche Notstandsarbeiten wie das Niederlegen der Stadtmauern, an deren Stelle das Anlegen von Promenaden oder den Bau der Waisenhausmauer zumeist nicht hinaus. Solche Arbeiten kamen in der Regel jedoch nur Männern zugute. Dem unermüdlichen Kampf Wucherers, der wie kein anderer die Brisanz der Massenarmut in Halle erkannte, verdankt die Stadt den Anschluss an die erste, im Juli 1840 in Betrieb genommene, Eisenbahnlinie in der preußischen Provinz Sachsen, die von Magdeburg nach Leipzig führt.16 Doch erst ab etwa 1860, als Halle Eisenbahnknotenpunkt geworden war und die Zuckerfabrikation im Umfeld der Stadt den Maschinenbau und den Abbau von Braunkohle als Großindustrie nach sich zog, entstanden relativ dauerhafte Arbeits- und...
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